Nazis nehmen uns die Arbeitsplätze weg

Seit den Wahlerfolgen von DVU und NPD in Brandenburg und Sachsen am 19. September 2004 wird die Gefahr von rechts wieder ernster genommen. Viel zu spät und noch zu wenig? Auf die Dauer werden nur attraktive Zukunftsentwürfe weiterhelfen

Genau 71.003 Wählerinnen und Wähler haben sich bei der Brandenburger Landtagswahl vom vergangenen September für die DVU entschieden – eine kleine Minderheit nur angesichts von über 2,1 Millionen Wahlberechtigten. Aber diese 71.003 Stimmen waren doch genug, um die rechtsextremistische Partei mit 6,1 Prozent der gültigen Stimmen und sechs Abgeordneten in den Landtag zu befördern – zum zweiten Mal in Folge. Manche Beobachter in den Medien und aus den Reihen der demokratischen Parteien reagierten auf die Rückkehr der DVU in den Brandenburger Landtag mit Bitternis: Wie war so etwas möglich? Schließlich hatten die Abgeordneten der DVU gerade erst fünf Jahre lang ihre völlige Unfähigkeit zu konstruktiver parlamentarischer Arbeit bewiesen. Dass eine Partei wie die DVU allein mit hohlen Phrasen und menschenfeindlichen Parolen zurück ins Parlament gelangen konnte, empfinden viele Menschen in Brandenburg als skandalös. Auch ich habe auf das Wahlergebnis der DVU zunächst mit spontaner Empörung reagiert.

Seitdem sind einige Monate vergangen. Die Empörung ist nicht verflogen, denn erwartungsgemäß erweist sich die neue DVU-Fraktion im Brandenburger Landesparlament Tag für Tag als ebenso inkompetent wie die alte. Es liegt klarer zu Tage denn je: Diese Partei schadet dem Land Brandenburg und seinen Menschen. Trotzdem ist es mit etwas mehr Abstand zum Wahlabend an der Zeit für etwas tiefer gründende Überlegungen zum Problem des Rechtsextremismus in unserem Land.

Die DVU mag eine äußerst unangenehme politische Erscheinung sein. Doch wer genauer hinsieht, wird schnell erkennen: Nicht von dieser Phantompartei mit ihrer dumpfen, belanglosen Vertretung im Landesparlament geht in Wahrheit die eigentliche politische Gefahr in Brandenburg aus. Die von dem Multimillionär Frey ferngesteuerte DVU-Fraktion wäre verloren ohne das Faxgerät, mit dem sie ihre in München vorproduzierten Redetexte bezieht. Die parlamentarische Existenz der DVU ist insofern nicht Ursache, sondern nur Ausdruck von ernsten Problemen, die innerhalb unserer Gesellschaft bestehen.

Die Phantompartei DVU ist nur ein Symptom

Mit anderen Worten: Unsere Sorgen wären heute nur bei oberflächlicher Betrachtung geringer, wenn die DVU bei der Landtagswahl vom 19. September nur 4,9 Prozent erzielt hätte und heute nicht mehr im Landtag säße. Die eigentliche Gefahr entsteht vielmehr, wenn sich antidemokratische, autoritäre und menschenfeindliche Haltungen nach und nach in der Mitte und Alltagskultur der Gesellschaft festzusetzen drohen. Von „Normalitätsgrenzen“ spricht der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer in diesem Zusammenhang. Wo sich diese „Normalitätsgrenzen“ nach und nach zugunsten autoritärer Einstellungen verschieben, da geraten zivile Gesellschaft und freiheitliche Demokratie schleichend in Gefahr.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es handelt sich bei Rechtsextremismus und Rechtspopulismus natürlich nicht um spezifisch brandenburgische oder auch nur ostdeutsche Fehlentwicklungen. Andere europäische Gesellschaften sind von diesen Problemen ebenso betroffen. In etlichen Ländern haben rechtspopulistische und rechtsextremistische Parteien in den vergangenen Jahren zum Teil weitaus höhere Wahlergebnisse erzielen können als bei uns. Rechtsextremismus und Rechtspopulismus sind krisenhafte Reaktionen auf gesellschaftlichen Wandel, der als Bedrohung und Überforderung empfunden wird – und der bestimmte Altersgruppen und soziale Schichten der Gesellschaft auch tatsächlich bedroht und überfordert.

Das macht den Rechtsextremismus zu einer zentralen Herausforderung für unser Land und unsere Gesellschaft. Er ist eine Reaktion auf existierende und ungelöste Schwierigkeiten, in denen gerade die Gesellschaft in Ostdeutschland ganz unbestreitbar steckt. Arbeits- und Perspektivlosigkeit, die Folgeprobleme der Deindustrialisierung, Prozesse der sozialen Desintegration und Bildungsmangel sind der Wurzelgrund, auf dem demokratie- und menschenfeindliche Haltungen gedeihen. Der Rechtsextremismus bietet aber keinerlei wirklichkeitstaugliche Antworten auf diese Phänomene, sondern weist in jeder Hinsicht in die falsche Richtung. Weder schafft er Arbeit, noch führt er die Gesellschaft zusammen – im Gegenteil. Auf diese Weise aber werden die tatsächlichen gesellschaftlichen Probleme, die die Entstehung des Rechtsextremismus begünstigen und seine Aktivisten motivieren, gerade durch die Existenz des Rechtsextremismus immer noch weiter verstärkt.

Wo sich rechtsextremistische Einstellungen breit machen, verlieren die Menschen und das Land, denn der Rechtsextremismus spaltet und verhetzt die Menschen, wo doch dringend Aufbau und Zusammenhalt nötig wären. Der Rechtsextremismus bedroht damit nicht nur die individuellen Lebensperspektiven seiner Anhänger und Mitläufer, er bedroht auch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit des gesamten Landes Brandenburg. Wie andere Regionen in Europa kann auch Brandenburg im 21. Jahrhundert objektiv nur als eine in gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht offene, menschenfreundliche Region gedeihen. Gemeinsam mit der übergroßen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land werden wir deshalb mit aller Kraft dafür sorgen, dass Brandenburg seine Chancen nicht in den Wind schlägt, sondern entschlossen wahrnimmt. Sich gegen menschenfeindliche Tendenzen aller Art stark zu machen ist moralisch zwingend geboten – es liegt aber auch im wohlverstandenen Eigeninteresse aller Brandenburgerinnen und Brandenburger.

In der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus hat es in der Vergangenheit allzu oft zuviel kurzatmiges Auf und Ab gegeben. Immer wieder haben Empörung und Entwarnung einander in schneller Folge abgelöst. Auf die plötzliche Dramatisierung des Rechtsextremismus folgte seine Verharmlosung. Abhängig sind diese Konjunkturen regelmäßig von einzelnen Ereignissen. Wahlergebnisse oder Gewaltexzesse sorgen für Aufregung, die in der Folge bald wieder abflaut. Dieses Wechselbad von Hektik und Entwarnung hat dem Ziel der effektiven Bekämpfung des Rechtsextremismus nicht gedient, denn als soziales und kulturelles Phänomen entfaltet dieser seine Bedrohlichkeit vor allem kontinuierlich, unabhängig von herausragenden Ereignissen, indem er den gesellschaftlichen Boden nach und nach durchdringt und die freiheitliche Demokratie auf diese Weise ihrer Substanz entleert.

Protest ist gut – aber Protest genügt nicht

Öffentliche Protestaktionen „gegen Rechts“ sind richtig und bleiben wichtig. Sie sind der völlig berechtigte Ausdruck von Besorgnis und Entsetzen über menschenfeindliche extremistische Tendenzen. Dennoch werden Proteste künftig nur dann nachhaltig erfolgreich sein, wenn sie eingebettet sind in langfristig angelegte positive Strategien zum weiteren Aufbau einer offenen und freiheitlichen Gesellschaft in Brandenburg. Protest ist gut – Protest allein genügt aber gerade dann umso weniger, wenn sich rechtsextremistische Parteien, Gruppen und „freie Kameradschaften“ daran machen, in beharrlicher Kleinarbeit an den Graswurzeln und im Alltag der Gesellschaft Fuß zu fassen. Als ferngesteuerte Millionärspartei war die DVU dazu bislang nicht im Stande. Genau darin aber besteht – nach dem Vorbild der NPD in Sachsen – die langfristige Strategie der Rechtsextremisten auch in Brandenburg. Das strategische Ziel ist dabei die soziale und kulturelle Verankerung des Rechtsextremismus vor Ort.

Es geht um einen plausiblen Zukunftsentwurf

Für zukünftige Strategien zur Bekämpfung des Rechtsextremismus bedeutet dies, dass sie immer auf mehreren Ebenen zugleich ansetzen müssen: Es geht um Repression, es geht um soziale Integration, und es geht auch um symbolisch wirksame Politik für unsere Heimat. Das sind die drei wesentlichen Felder, auf denen sich demokratische Gesellschaft und Politik mit der rechtsextremistischen und -populistischen Herausforderung auseinandersetzen müssen. Hinzukommen muss allerdings noch ein viertes Element: Gewinnen werden die demokratischen Kräfte den Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen nämlich nur, wenn sie zugleich in der Lage sind, ein attraktives Zukunftsbild des eigenen Landes, der eigenen Region zu entwerfen. Ein Zukunftsbild, für dessen Verwirklichung es sich einzusetzen lohnt. Wer einen plausiblen Entwurf von einer lebenswerten, menschenfreundlichen und wirtschaftlich erfolgreichen Heimat Brandenburg für alle entwickelt, der wird allen rechtsextremistischen Hasspredigern jederzeit haushoch überlegen sein.

Stichwort Repression. Die Lage mag bisweilen zur Besorgnis Anlass geben. Aber völlig klar bleibt zugleich: Zu Panik besteht kein Anlass; sie ist niemals ein guter Ratgeber. Die freiheitliche Demokratie in Deutschland kann und wird es nicht noch einmal hinnehmen, dass ihre Feinde die ihnen eingeräumte Freiheit dazu missbrauchen, die Freiheit selbst zu zerstören. Diese Feinde werden keinen Erfolg haben, der demokratische Verfassungsstaat wird sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln jederzeit zu behaupten wissen. Gegen Gewalt und Hassparolen wird er in Brandenburg und anderswo auch in Zukunft immer mit aller gebotenen rechtsstaatlichen Härte vorgehen. Es darf und es wird keinesfalls auch nur ansatzweise der Eindruck entstehen, die verfassungsmäßige Ordnung sei zu ihrer Selbstbehauptung nicht in der Lage. Es muss im Gegenteil jederzeit vollständig unbezweifelbar sein, dass der freiheitlich-demokratische Staat stark und handlungsfähig ist und nicht – wie von seinen Feinden unterstellt – schwach, ratlos und dekadent. Die Auseinandersetzung muss durchgängig offensiv geführt werden.
Stichwort Soziale Integration: Politische Entfremdung, mentale Überforderung, soziale Desintegration und das Grundgefühl von Heimatlosigkeit sind wichtige Voraussetzungen rechtsextremistischer und menschenfeindlicher Einstellungen. Deshalb besteht langfristig die einzige nachhaltig wirksame Gegenstrategie in einer tatkräftigen Politik für Zusammenhalt und soziale Integration. Die Mehrzahl der Anhänger und Wähler rechtsextremistischer Gruppen befindet sich in problematischen, subjektiv oder objektiv unsicheren Lebenslagen. Wo Menschen dagegen handfeste Chancen besitzen, aus eigener Kraft etwas aus ihrem Leben zu machen, da sinkt auch die Neigung zu menschenfeindlichen destruktiven Einstellungen. Die allerwichtigste Voraussetzung für Lebenschancen, wirtschaftliche Entwicklung, Arbeitsplätze und soziale Teilhabe sind deshalb Bildungschancen – und zwar für alle.

Die grundlegende Erkenntnis, dass kein einziges Kind, kein einziger Jugendlicher zurückgelassen werden darf, ist deshalb nicht nur der Schlüssel zu individuellen Lebenschancen. Unsere Gesellschaft wird im 21. Jahrhundert Lebenschancen und Wohlstand nur mit Hilfe einer breiten Bildungsoffensive erreichen und sichern, zugleich immunisiert Bildung gegen menschenfeindliche Einstellungen. Mehr Bildung für mehr Menschen bedeutet insofern einen doppelten Gewinn für unsere Gesellschaft: Für den einzelnen und für unsere Gesellschaft. Auch deshalb haben wir in Brandenburg ein neues Schulgesetz beschlossen, das unabhängig von sozialer Herkunft mehr Bildungschancen und mehr Durchlässigkeit gewähren soll. An Bildung aber sind die geistigen Brandstifter nicht interessiert, denn sie würde dem Rechtsextremismus den Nährboden entziehen.

An einem Strang ziehen für sinnvolle Ziele

Stichwort Politik für unsere Heimat: Verstärken müssen wir den ständigen Austausch über die Ziele und die Werte unseres Landes. Die Menschen, besonders die Jugendlichen, brauchen auch emotionale Anker, um nicht in die Irre geleitet zu werden. Sie brauchen eine von Toleranz geprägte Heimat, für die es sich zu kämpfen lohnt, auf die man stolz sein kann. Als Heimat und Ort der Zugehörigkeit empfinden Menschen ein Land vor allem dann, wenn sie gemeinsam mit anderen an seiner Verbesserung arbeiten. Deshalb müssen wir die wechselseitige Vernetzung all der vielen Menschen herstellen und stärken, die sich überall in Brandenburg in Vereinen, Verbänden und Kirchen, in Schulen und Kindertagesstätten, in demokratischen Parteien oder Bürgerinitiativen aktiv füreinander und für unser Land einsetzen. Alle diese Menschen müssen noch mehr voneinander wissen und einander noch besser kennen lernen – im Zeitalter des Internet im Grunde kein Problem. Nichts macht so viel Mut wie das Gefühl, mit vielen anderen gemeinsam für eine sinnvolle Sache an einem Strang zu ziehen. Erst mit Bürgerinnen und Bürgern, die sich positiv und konstruktiv für ihre Gemeinschaft engagieren, kann unser Land gedeihen. Zwar ist aktives Engagement für die Allgemeinheit – etwa im Sport- oder Gesangverein – nicht sofort gleichbedeutend mit der aktiven Bekämpfung von Rechtsextremismus. Mindestens indirekte Zusammenhänge aber gibt es hier durchaus. Wer in der Jugendfeuerwehr gelernt hat, wie man Menschen rettet, neigt eher selten zu Gewalt. Und wer am Wochenende als Fußballschiedsrichter unterwegs ist, der wird auch unter der Woche eher Streit schlichten als anzetteln.

„Nazis nehmen uns die Arbeitsplätze weg“

Stichwort Brandenburg als attraktives Land. Früher konnten die meisten Arbeitsplätze nur dort entstehen, wo es fossile Rohstoffe gab oder Wasserstraßen. Das gilt immer weniger. Nie zuvor waren Wissen und Informationen so wichtig für das Gedeihen der Wirtschaft wie heute und in Zukunft. Neue Arbeitsplätze entstehen inzwischen vor allem in der wissensintensiven Dienstleistungsökonomie. Die Träger von Wissen und Informationen können sich ansiedeln, wo sie wollen. Deshalb werden in Zukunft diejenigen Regionen in Europa und der Welt erfolgreich sein, denen es gelingt, die eigenen Bürger schlau zu machen und die schlauesten Menschen von anderswo herbeizulocken.

Was zählt, sind Bildung, Infrastruktur, kulturelles Angebot – und eine friedliche Atmosphäre der Offenheit für Neues und für Anderes. In dem Slogan „Nazis nehmen uns die Arbeitsplätze weg“ steckt so gesehen sehr viel Wahrheit. Weder ausländische Investoren noch indische Nobelpreisträger oder japanische Touristen werden in ein Land kommen, das sie nicht willkommen heißt, in dem man Angst haben muss, von Rechtsextremisten angepöbelt oder sogar auf offener Straße körperlich angegangen zu werden. Ist der Ruf einer Region erst einmal ruiniert, spielt die Musik schnell anderswo. Nur als offene, demokratische und tolerante Heimat für alle hat Brandenburg alle Chancen voranzukommen. Diesen Zusammenhang zu erkennen und weiterzuerzählen liegt im ureigenen Interesse aller märkischen Regionalpatrioten.

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