Gefangen in der eigenen Kultur

Ob sie als Regierungsparteien antraten oder aus der Opposition heraus - bei den Wahlen zum Europaparlament im Mai dieses Jahres erlitten die sozialdemokratischen Parteien fast überall schwere Niederlagen. Wo liegen die Ursachen ihrer tiefen Misere?

Auf den ersten Blick erscheint unklar, welche Bedeutung die Europawahl vom 4. bis 7. Juni 2009 eigentlich hatte - und haben wird. Für viele war sie ein maximal zweitrangiges Ereignis. Wer kennt schon die Aufgaben des Europäischen Parlaments oder die Namen von Europa-Kandidaten? Genau deshalb haben die meisten nationalen Parteien in Europa nur das Nötigste getan, um dem Wahlkampf den Anstrich eines wirklichen Wettstreits zu geben. In Zeiten knapper (Partei-)Kassen schien bei der ersten entscheidenden Wahl in Europa seit der monumentalen Finanzkrise nicht viel auf dem Spiel zu stehen. Zumindest nicht genug, um die finanzielle, personelle und intellektuelle Mobilisierung auf ein ansprechendes Niveau zu heben. Und doch könnte diese Wahl als wichtige Wegmarke in die Geschichte eingehen.

Die Krise einer politischen Ideologie

Zum Leidwesen der EU hat dies aber wenig mit der Zukunft des Integrationsprojekts selbst zu tun. Auch diesmal waren die Wahlen fast ganz von den nationalen Themen der jeweiligen Länder geprägt. Zudem hat sich die Zusammensetzung des Europaparlaments nur leicht verändert, so dass weder die eine noch die andere politische Richtung maßgebliche europapolitische Impulse setzen wird. Dafür ist die Entscheidungsfindung in Brüssel zu komplex, zwischen den einzelnen Institutionen und Fraktionen zu fein austariert. Nein, die Bedeutung der Wahl lässt sich nicht auf die prozedurale Ebene reduzieren. Sie liegt vielmehr darin, dass die Krise einer gesamten politischen Ideologie deutlich sichtbar geworden ist. Die Rede ist von der Sozialdemokratie beziehungsweise den Mitte-Links-Parteien. 

Die historisch niedrigen Stimmenanteile sprechen Bände. So erhielten die niederländische PvdA sowie die polnische SLD nur jeweils 12 Prozent, die französische Parti Socialiste und die britische Labour Party je 16 Prozent, die SPD knapp 21 Prozent, die italienische Partito Democratico 26 Prozent. Ausnahmen wie in Schweden und Griechenland sind höchstens von kosmetischer Natur. Entscheidend ist zweierlei: Zum einen sind Sozialdemokraten sowohl  in der Regierung als auch in der Opposition kräftig abgestraft worden, und das, obwohl der neoliberale Glaube an Laisser-faire als Richtlinie für die Organisation der Märkte zusammengebrochen war. Zum anderen - und das ist noch wichtiger: Der Niedergang kommt nicht aus heiterem Himmel. Seit Jahren gelingt es keiner sozialdemokratischen Partei mehr, überzeugend Wahlen zu gewinnen. Dass Europas Mitte-Links-Parteien tief in der Krise stecken, ist also nicht mehr zu leugnen. Jedoch wird über die Gründe, die Reichweite und die Ernsthaftigkeit dieser ideologischen Krise kontrovers diskutiert. Folgende fünf - sich teilweise widersprechende - Erklärungsmuster kursieren:

Die erste Erklärung lautet, entscheidend seien nationale Befindlichkeiten . Demnach ist die Schwäche der Parti Socialiste in Frankreich auf die innere Zerstrittenheit der Partei und auf die Erfolge Nicolas Sarkozys zurückzuführen, nicht zuletzt während der französischen EU-Präsidentschaft. In Großbritannien wird dem Spendenskandal in der politischen Klasse die Schuld gegeben, außerdem sei New Labour nach 12 Jahren an der Regierung einfach müde. In Ungarn habe der "Lügenskandal" um den ehemaligen Premierminister Ferenc Gyurcsany der sozialdemokratischen Partei geschadet. In Italien verhindere der unvollendete Zusammenschluss der Mitte-Links- Gruppierungen den Erfolg. Und so weiter. Auschlaggebend für die sozialdemokratische Niederlage bei der Europawahl, so das Argument, waren die schlechten Ausgangsbedingungen in den jeweiligen Mitgliedsstaaten.

Dem zweiten Argument zufolge fehlen der Sozialdemokratie attraktive Führungspersönlichkeiten - leadership is what matters. Früher hätten an der Spitze richtige Typen gestanden, Männer mit Charisma, Verve, Witz und politischem Instinkt: Bruno Kreisky, Willy Brandt, François Mitterand, Olof Palme, Helmut Schmidt oder Tony Blair. Heute dagegen gebe es nur noch Funktionäre ohne Anziehungskraft wie Werner Faymann, Dario Franceschini, Frank-Walter Steinmeier, Martine Aubry oder Gordon Brown.

Das dritte Erklärungsmuster besagt, von Wirtschaftskrisen hätten bisher immer konservative Parteien profitiert. Als Beispiel wird die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg angeführt, ebenso die Periode nach den Ölschocks in den siebziger Jahren. In einschneidenden Wirtschaftskrisen seien den Menschen ihre (Umwelt-, Frauen-, Ausländer-, Arbeitnehmer-, Gleichheits-) Rechte  weniger wichtig als " vermutete "  wirtschaftspolitische Kompetenz. Vereinfacht gesagt: In der Krise gehe Wohlstandsschöpfung vor Umverteilung. Demnach wenden sich die Wähler den rechten Parteien zu, weil der Sozialdemokratie seit den sechziger Jahren immer noch der Ruf der wirtschafts- und finanzpolitischen Verantwortungslosigkeit anhaftet.

Die vierte Erklärung: Mitte-Rechts-Parteien würden sich (zunehmend) "sozialdemokratisieren". Als Margaret Thatcher eine konservative Revolution einleitete und José Maria Aznar einen katholischen Kulturkampf betrieb, habe jeder sofort verstanden, was "links" bedeutet. Aber gegenwärtig wollten noch nicht einmal Angela Merkel und Nicolas Sarkozy noch etwas von ihren (einst angekündigten) rechts-liberalen Reformen wissen. Stattdessen sprächen sich Konservative überall in Europa für Staatsinterventionen und Arbeitsplatzschutz, die Reichensteuer und Investitionen in den öffentlichen Dienst aus: Konfrontative Reformpolitik war gestern, keynesianischer Wohltaten sind heute. So habe Europas zahme Rechte die Sozialdemokratie aus der politischen Mitte vertrieben.

Die fünfte Erklärung besagt, dass die Mitte-Links- Parteien zu "neoliberal" ausgerichtet sind. Häufig geht dieses Argument einher mit dem Vorwurf, sozialdemokratische Regierungen hätten zu "technokratisch" und "elitär" agiert und die Arbeiterbewegung verraten. Die Stichworte sind "Dritter Weg" und "Neue Mitte". Die Sozialdemokratie müsse derzeit dafür büßen, dass sie zu kapitalismusfreundlich ist.

Ein gewöhnlicher Zyklus - oder mehr?

Wie sind diese fünf Erklärungen zu bewerten? Die Vertreter der ersten drei Positionen halten die Krise der Sozialdemokratie implizit für den Bestandteil eines gewöhnlichen politischen Zyklus. Persönlichkeiten und Krisen kommen und gehen. Zwar scheinen die genannten Faktoren Europas Mitte-Links-Parteien in der Tat gehörig zuzusetzen. Dennoch reichen sie als Erklärungen für die Malaise bei weitem nicht aus. Schließlich ging es schon vor der Wirtschaftskrise bergab. Außerdem gewinnen ja auch uncharismatische Konservative Wahlen wie etwa Jan Peter Balkenende in den Niederlanden. Und die parteiinternen Streitigkeiten in den sozialdemokratischen Parteien sind fast durchweg von grundlegender Natur.

Die vierte Erläuterung ist ebenfalls unzureichend - und wird paradoxerweise oftmals sogar als Erfolg verkauft. In Zeiten hoher Pluralität und eines wachsenden politischen Angebots dürften Beliebigkeit und Unschärfe keine wahltaktischen Vorteile bringen, zumal wir nicht nur den Rückgang sozialdemokratischer Stimmenanteile, sondern den schleichenden Niedergang der Volksparteien insgesamt beobachten. Der politische Wettstreit ist nun einmal kein gradliniges Nullsummenspiel, sondern entwickelt ständig neue (Interessens-)Zentren jenseits der herkömmlichen Links-Rechts-Achse. Bei einem überzeugenden "Projekt" stimmen Inhalt und Hülle überein.

Deshalb verdient das fünfte Erklärungsmuster die größte Aufmerksamkeit: Die Sozialdemokraten seien "neoliberal" geworden. Aber abgesehen von der Notwendigkeit einer kohärenten Kritik an gewissen Spielarten des heutigen Kapitalismus sind auch hier die meisten Argumente bisher weder überzeugend noch zielführend -nicht zuletzt, weil in anderen politischen Strömungen der Versuch, das politische Programm an den Realitäten auszurichten und mehr Expertise einzubeziehen, gerade nicht in den Abgrund geführt hat. Hingegen herrscht im linken Milieu auf diesem Gebiet bis heute reichlich Leerlauf: Stichwortartig anzuführen sind die marginale (intellektuelle) Bedeutung sowie Erfolglosigkeit der unreformierten Sozialdemokratie sowie der ausschließlich auf seine Protestfunktion fixierte Linkspopulismus, der schon jetzt an seine engen Grenzen zu stoßen scheint.

Die Gründe für die sozialdemokratische Misere müssen folglich wesentlich tiefer liegen. Dies anzuerkennen wäre allein schon ein elementarer Schritt nach vorn, ja er ist geradezu unerlässlich, um die Sicht auf die wirklichen Probleme frei zu bekommen. Eines dieser grundlegenden Probleme ist die Fragmentierung der sozialdemokratischen Wählerschaft: Die traditionelle Arbeiterklasse ist geschrumpft; die Polarisierung zwischen kosmopolitischen und kommunitaristischen Anhängern der Sozialdemokratie hat zugenommen; und die Sozialdemokratie muss Gewinner wie Verlierer des technischen Wandels, der Globalisierung und eingeleiteter Reformen gleichermaßen ansprechen. Wo früher Erwartungen und Anliegen mehrheitlich gebündelt werden konnten, dominieren heute nicht selten Divergenzen und Partikularinteressen.

Bleibt die Sozialdemokratie in ihrer eigenen Kultur gefangen, wird sie unausweichlich zu einer Minoritätsbewegung. Daran ist im Grunde nichts auszusetzen, sind ihre meist defensiv formulierten Ziele doch ehrenwert. Nur lassen sich gestalterische Mehrheiten so garantiert nicht mehr erreichen. Dafür sind Koalitionen mit neuen Interessengruppen, eine Überarbeitung des moralischen Auftrags über die Emanzipation der Arbeiterklasse hinaus sowie kreative Anpassung an objektive Gegebenheiten nötig. Der letzte Mitte-Links-Politiker in Europa, der diese Aufgabe bewusst anging, war Tony Blair. Zuerst reüssierte er damit, verschleuderte dann aber seinen Vorteil und schaffte es nicht, der Sozialdemokratie auf Dauer ein erneuertes Fundament zu hinterlassen. Die Frage ist, ob andere seine wichtigen Einsichten zu nutzen verstehen.

zurück zur Ausgabe