Warum wir soziale Gerechtigkeit neu definieren müssen



Keine Frage, die Suche nach der „sozialen Gerechtigkeit“ steht in den meisten westlichen Demokratien wieder ganz oben auf der Agenda, besonders in Deutschland. Kaum ein anderes Thema verfolgen die Akteure des politischen Lebens hier mit größerer Hingabe, kaum ein zweites verspricht so viel Identitätsstiftung. Das Ziel der sozialen Gerechtigkeit beschäftigt die programmatischen wie tagespolitischen Debatten nahezu aller deutschen Parteien, die SPD allerdings begreift sich stolz als einzig wahre Verwalterin des oft strapazierten Leitbegriffs.

Wahr ist, dass das Konzept der sozialen Gerechtigkeit die Sozialdemokratie schon immer deutlich vom Kommunismus oder Staatssozialismus auf der einen Seite und dem (Neo-)Liberalismus auf der anderen Seite unterschieden hat. Das liegt daran, dass die eigentliche Bedeutung und die verschiedenen Dimensionen von „Gerechtigkeit“ erst in der Beziehung zu anderen Grundwerten wie Freiheit und Gleichheit deutlich werden. Dabei geht es gerade nicht um eine Rangordnung der jeweiligen Begriffe, sondern um die Einsicht, dass das eine ohne das andere nur eingeschränkt oder überhaupt nicht zu verwirklichen ist.

Historisch hat man die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit vor allem im nationalstaatlichen Rahmen zu beantworten versucht. Sozialdemokratische Politik griff zu Instrumenten, die die Existenz nationaler Ökonomien voraussetzten. In den Vereinigten Staaten führte dieser Ansatz zum „New Deal“, in Großbritannien zum Sozialstaat von Beveridge und Keynes, in Deutschland wiederum zur sozialen Marktwirtschaft.

Im Zeitalter der Globalisierung sowie der rasanten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Umbrüche stellt sich die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit neu. Argumente für Gerechtigkeit und Gleichheit lassen sich nicht mehr ausschließlich mit Hilfe nationalstaatlicher Konzeptionen und Sichtweisen entwickeln.

Solidarität oder protektionistische Parolen?

Dabei steht nicht zuletzt das eigene Verhältnis zur (wirtschaftlichen) Globalisierung an sich auf dem Spiel. Heinrich August Winkler hat es in der Zeit treffend formuliert: Wenn die SPD ihr Bekenntnis zur internationalen Solidarität wirklich ernst meint, kann sie nicht gleichzeitig mit protektionistischen Parolen gegen die Öffnung europäischer und vor allem globaler Märkte zu Felde ziehen. Gerade diese Öffnung hilft nämlich den meisten (Entwicklungs-)Ländern am allermeisten, weit mehr als jede finanzielle Unterstützung es je vermag.

Paradoxerweise (oder eher deshalb?) hat die heutige Debatte um soziale Gerechtigkeit wieder einen stark nationalstaatlich fixierten Fokus bekommen. Im Vordergrund steht zumeist subjektive Betroffenheit. Mangelnde Fairness, ausufernde Ungleichheiten sowie zunehmende Unsicherheit, zum Beispiel am Arbeitsplatz, werden schnell dem neuen „Superkapitalismus“ (Robert Reich) des 21. Jahrhunderts oder dem „Weltkrieg um Wohlstand“ (Gabor Steingart) in die Schuhe geschoben. Die angeblich eine gerechte Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen konterkarierende Globalisierung wird dementsprechend zuvörderst als Bedrohung gesehen, nicht als Chance und Herausforderung. Damit wird die so verstandene Globalisierung zum Dreh- und Angelpunkt für die Wiederbelebung des alten Konfliktes zwischen Arbeit und Kapital unter neuen Bedingungen – nämlich unter denen der Internationalisierung und der globalen Interdependenz.

Eine sozialdemokratische Politik, die sich diese Betrachtungsweise und Interpretation zu eigen macht, muss jedoch scheitern: Einerseits, weil sie die Dynamik und Implikationen einer fortschreitenden Globalisierung entweder falsch oder unzureichend versteht. Wissenschaftliche Studien legen den Schluss nahe, dass vor allem Langzeittrends wie der Rückgang der verarbeitenden Industrie, der technologische Fortschritt, verfehlte gesellschaftspolitische Integrationsmodelle oder der demografische Wandel für wachsende Ungleichheiten in den OECD-Staaten verantwortlich sind.

Andererseits muss eine solche Politik scheitern, weil sie nicht in ausreichendem Maße danach fragt, was „mehr Gerechtigkeit“ heute bedeutet und wie (Chancen-)Gleichheit überhaupt erreicht werden kann. Traditionelle verteilungspolitische Konzepte greifen meistens viel zu kurz oder bewirken sogar genau das Gegenteil des Angestrebten. Noch schlimmer ist nur noch eine sozialdemokratische Politik, die in die Rhetorik des Klassenkampfes oder nationalen Protektionismus zurückfällt.

Nostalgie ist der falsche Freund

Offene Gesellschaften und Staaten besitzen heute die besten Voraussetzungen für mehr Wohlstand und Fortschritt. Soziale Gerechtigkeit kann nicht mehr eindimensional, konventionell oder vornehmlich im nationalstaatlichen Rahmen begriffen werden. Ihre Bedingungen sind vielschichtiger und komplexer geworden. Ein überarbeitetes Verständnis von sozialer Gerechtigkeit sollte mit einer Vielfalt an staatlichen Interventionen einhergehen, die sich nach den Bedürfnissen des Einzelnen ausrichten und Gleichheit nicht mit Uniformität verwechseln. Letztlich sind Individuen die besten Makler ihrer eigenen Interessen – und nicht der Staat.

Eine wirklich moderne Sozialdemokratie muss genau hier ansetzen: Es geht um Emanzipation und Unabhängigkeit, um Selbstvertrauen, um kulturelle, soziale und wirtschaftliche Integration in die Gesellschaft sowie die Fähigkeit, immer wieder wechselnden Herausforderungen gerecht zu werden. Nostalgie und alte Rezepte sind also die falschen Freunde. Soziale Gerechtigkeit im globalen Zeitalter erfordert neue Definitionen – nicht zuletzt, um die Sozialdemokratie wieder glasklar von linkspopulistischen und rechtskonservativen Strömungen unterscheidbar zu machen.

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