"Mehr Europa" ist noch keine Strategie

In der Krise der Europäischen Union ducken sich Europas Sozialdemokraten weg. Dabei hängt die Zukunft der Sozialdemokratie von der EU ab - und umgekehrt

Die Europäische Union steckt in ihrer schwersten Krise seit Anfang der neunziger Jahre und Europas Sozialdemokraten ducken sich weg. Die Oppositionsrolle gegen die Europapolitik der konservativen europäischen Regierungen haben längst andere eingenommen: Demonstranten, Populisten – und hier und da ein Grüner wie Joschka Fischer, der zu mehr Klarsicht und mutigem Handeln aufruft.

Genau daran mangelt es den europä­ischen Sozialdemokraten. Gut gemeinte Bekenntnisse zu „mehr Europa“ sind kein Ersatz dafür – schon deshalb, weil die eigene Klientel vom Europagedanken wenig überzeugt ist. Ob in Deutschland oder anderswo: Skepsis gegenüber der EU ist bei Angestellten und Arbeitern mit niedrigen und mittleren Einkommen sowie mit geringen Qualifikationen weit verbreitet. Eine Tatsache, die auch auf den widersprüchlichen sozialdemokratischen Dis­kurs zurückgeht: Auf der einen Seite beschwören Sozialdemokraten weiter das Potenzial einer traditionellen Umsteue­rungs- und Verteilungspolitik, die jedoch nur in geschlossenen Wirtschaftsräumen nachhaltig wirken kann. Auf der anderen Seite hat sich auch die politische Linke einer exportgetriebenen Industriepolitik verschrieben, die ausschließlich in unserer offenen, europäisierten, globalisierten Welt funktioniert. Das eine Narrativ unterminiert das andere. Die Folge sind halbherzige Reformen und unhaltbare Positionen.

Die eigentliche Lehre der Agenda 2010

Der Streit um Gerhard Schröders Agenda 2010 war die logische Folge dieser schneidenden Ambivalenz. So wie heute Spanien und andere südliche Länder, erlebte Deutsch­land Anfang des neuen Jahr­hun­derts seine Globalisierungs- und Wett­bewerbsfähigkeitskrise. Weil die nationale Politik sich zu weit vom selbstverfolgten Entwicklungsmodell abgekoppelt hatte, wurde die Demokratie vorübergehend von außen bestimmt. Den beträchtlichen Scha­den, den die SPD von dem Zusammenstoß interner und externer Zwänge davontrug, hat die Partei in den vergangenen Jahren nur mühsam überdeckt. Und der tiefere Grund, warum diese Situation überhaupt entstanden ist, scheint bis heute nicht richtig aufgearbeitet zu sein.

Die europäische Krise am Anleihen­markt ist nun das nächste Kapitel im Wechselspiel von wirtschaftlicher Innen- und Außenpolitik. Sozialdemokraten tun sich keinen Gefallen, wenn sie den Fi­nanz­märkten die alleinige Schuld an der Misere in der Eurozone geben – trotz der berechtigten Kritik an fehlender Regulie­rung und Transparenz. Denn bisher galten die „Märkte“ als geeignete Helfer, um genügend finanzielle Mittel für steigende Aus­gaben zu besorgen. Verlieren die Märkte das Vertrauen in die Staaten, bleibt als alternative Geldquelle nur der Bürger. Wie Europa gerade schmerzhaft erfährt, bedeutet dies entweder höhere Steuern oder einen verstärkten Sparkurs. Beide Maß­nah­­men treffen die sozialdemokratische Wählerschaft am heftigsten. Wie bei der Globalisierungskrise wird in der Anlei­hen­marktkrise die nationalstaatliche De­mo­­kra­tie zeitweise suspendiert – nichts anderes passiert gerade in Griechen­land und Italien.

Welche strategischen Antworten gibt es auf das Dilemma? Zum einen muss sich die Politik neue Instru­men­te zu eigen machen, um die globalisierten Märkte wirksam korrigieren zu können. Dabei ist viel Realitätssinn gefragt: Die unaufhaltsame Gewichtsver­schiebung von West nach Ost bedeutet, dass Europa und Amerika ihre Interessen den übrigen Staaten nicht mehr einfach aufdrängen können; der  G20-Gip­fel in Frank­reich sollte die letzte Warnung gewesen sein. Jede noch so gut gemeinte Idee – von der Finanztransak­tionssteuer bis zu ökologischen und sozialen Mindest­stan­dards – wird sich sehr schwer durchsetzen lassen.

Zum anderen müssen externe Bedin­gun­gen politisch und konstitutionell besser internalisiert werden. Export­ab­hän­gige Wachstumsmodelle, freier Wett­­­bewerb, vereinheitlichte Geldpolitik oder eben die finanzielle Abhängigkeit von Kapital­märk­ten – jede einzelne Spielart der europäisierten und globalisierten Wirtschaft setzt dem Nationalstaat klare Vorgaben und Grenzen des eigenen Handelns. Für ein intaktes Demokratieverständnis und ausreichende Legitimität, um tiefgreifende Reformen durchführen zu können, muss die regierende Klasse einen für jedermann verständlichen Diskurs entwickeln, der auf die europapolitischen Entschei­dungen der letzten Jahrzehnte – hin zu Öffnung und Integration – eingeht. Eine grund­sätzliche Abkehr dieser eingeschlagenen Richtung verspricht nichts Gutes, am wenigsten für Deutschland.

Weg von der alten Staatsfixierung!

Sozialdemokraten stehen in der Schuld. Bis zuletzt investierten sie viel intellektuelle Energie in die Frage, wie Märkte besser kontrolliert, reguliert und dem Gemein­wohl untergeordnet werden können. Die­se Herausforderung bleibt wichtig, kann aber höchstens Teil einer breiteren Agenda sein. Ob die Sozialdemokratie in Europa wieder großflächig an Bedeutung gewinnt, hängt maßgeblich davon ab, wie sie ihre sozialpolitischen Versprechungen mit den übergeordneten wirtschaftlichen und finanziellen Interessen des Landes in Übereinstimmung bringen kann.

Ziel muss es sein, den permanenten externen Druck in einer positiven, selbstbestimmten und zukunftsorientierten Re­form­agenda aufgehen zu lassen, die die ewigen Gegensätze im demokratischen Kapitalismus überbrückt. Dazu bedarf es eines radikalen Umdenkens und neuer Prioritäten: Wie kann der Arbeitsmarkt Außenseiter und Inaktive besser aufnehmen, ohne mehr Unsicherheit zu schaffen? Wie können Gehaltssteigerungen stärker an Produktivitätsgewinne gekoppelt werden? Welche strategischen Inves­titionen in den Sozialstaat versprechen die höchsten Erträge? Wie können die sozialdemokratischen Parteien ihre sozialen Am­bitionen geldunabhängiger verfolgen?

Allein vermag die europäische Sozial­demokratie diesen entscheidenden Schritt wohl nicht zu bewerkstelligen. Zu tief sitzt der Glaube an die Heilwirkung traditioneller Rezepte und Versprechungen. Genau darin liegt die fundamentale Bedeutung der EU: Wie keine andere politische Ein­heit bedient sie sich einer Dialektik innerer und äußerer Einflüsse. Wie kein anderes Projekt kann sie der Sozialdemokratie die politische Kraft und Legitimation verleihen, Reformen mit der Sicht aufs Große und Ganze zu verwirklichen. Dies betrifft auch das „demokratische Defizit“, das auf nationaler und europäischer Ebene existiert, sich gegenseitig bedingt und nur zusammen bewältigt werden kann. 

Somit hängt die Zukunft der Sozial­de­mokratie von der EU ab – und umgekehrt. Politiker der linken Mitte müssen die europäische Integration endlich offensiver zum Thema machen und progressive Ide­en aufgreifen, die zum Zusammenhalt der europäischen Staaten beitragen können – vor allem im Hinblick auf eine Euro­zone mit wirtschaftlichen Ungleichge­wichten. An Vorschlägen mangelt es nicht, vom „Sozialen Investitionspakt“ über die makro-ökonomische Koordination von Lohn und Arbeitskosten bis zur Harmoni­sie­rung in der Steuerpolitik. Solche Kon­zepte bedeuten allerdings auch eine weitere Beschneidung nationaler Steu­e­rungs­­me­chanismen. Die Sozialdemokratie sollte dies jedoch als Chance begreifen: weg von der Staatsfixierung, hin zu einer neuen Identität als reformorientierte Kraft im Rahmen der EU. Erst dann wird die sozialdemokratische Stimme in Europa wieder wahrgenommen werden.«

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