Eine Doppelstrategie für Russland

Das Agieren des Westens im Verhältnis zu Moskau zeichnet sich derzeit durch Machtlosigkeit aus. Europa muss zum einen die russischen Urängste vor einer Einkreisung ernst nehmen und zum anderen endlich eine langfristige gemeinsame Energiepolitik betreiben

Die Georgien-Krise der vergangenen Wochen hat auf erstaunliche und unvermittelte Weise den Blick freigemacht auf die tatsächliche politische Lage Europas. Die erste Lektion, die vor allem die friedens- und wohlstandsgesättigten Westeuropäer lernen können, lautet, dass die gute alte Sicherheitspolitik zurück ist. Nicht, dass sie jemals ganz verschwunden gewesen wäre, aber in der von Globalisierung und EU-Reform geprägten außenpolitischen Debatte nahmen sich Themen wie Raketenabwehr, Iran, Afghanistan oder die strategischen Aspekte der Energiefrage ja vor allem deshalb so störend und fremdartig aus, weil sie nicht in das Bild eines befriedeten Europas passten, das niemandem Böses will, und daraus wie selbstverständlich einen Anspruch auf Inruhegelassenwerden ableitete.

Die sicherheitspolitische Lage ähnelt in der Tat auf ungemütliche Art und Weise der Grundkonstellation des Kalten Krieges (ohne dass dieser deswegen gleich ausbrechen muss): Europa selbst ist uneinig und machtlos, faktisch entmilitarisiert, gedanklich woanders – und aus all diesen Gründen abhängig von zwei dominierenden externen Mächten, die zunehmend auf Konfrontationskurs gehen. Seine eigene Sicherheit kann Europa nicht ohne Amerika gewährleisten, weswegen es manch ungeliebte amerikanische Vorgehensweise schlucken muss; von Russland hängt die Wärme in Europas Wohnstuben und, weiter östlich und noch elementarer, der friedliche Alltag ab.

Trotz seiner strukturellen Uneinigkeit in allen Russland betreffenden Fragen, und trotz des wieder sichtbar werdenden Risses zwischen „Altem“ und „Neuem“ Europa hat die EU in der aktuellen Krise bisher bemerkenswert einmütig agiert. Die französische Ratspräsidentschaft, obwohl nicht immer sehr transparent, hat es vermocht, einen einstimmigen Beschluss zur Entsendung einer noch nicht näher definierten europäischen Friedensmission herbeizuführen. Zudem hat es bisher keine nennenswerten diplomatischen Alleingänge gegeben, was angesichts der scharfen Rhetorik aus einigen mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten nicht selbstverständlich ist.

Eine militärische Option existiert nicht

Insgesamt zeichnet sich das europäische Handeln jedoch vor allem durch Machtlosigkeit aus. Man kann schlicht nicht viel tun, um Russlands Handeln zu beeinflussen. Genau so machtlos sind die Vereinigten Staaten. Die diplomatischen Möglichkeiten sind beschränkt und schnell wirksame wirtschaftliche Hebel stehen Amerika noch weniger zur Verfügung als Europa. Eine militärische Option besteht ebenfalls nicht, dies allerdings – anders als immer wieder behauptet – nicht so sehr, weil Amerika in Afghanistan oder Irak zu sehr gebunden ist, sondern weil Russland eine Atommacht ist und über erhebliche Mittel zur regionalen militärischen Machtprojektion besitzt. Wer eine militärische Option ernsthaft erwägt wie einige neokonservative Berater von Präsidentschaftskandidat John McCain, der riskiert mindestens einen heißen Stellvertreterkrieg, wenn nicht sogar Schlimmeres.

Die transatlantische Gemeinschaft ist also in Machtlosigkeit vereint. Entsprechend aggressiv und hilflos fallen die verbalen Reaktionen auf das russische Vorgehen sowie manch abseitige Policy-Vorschläge aus. Diese reichen bis hin zu der Idee, den Russen im Gegenzug für eine moderatere Westpolitik einen Nato-basierten Beitrag zur Sicherung der Ostgrenze ihres Riesenlandes (sprich: eine Blockbildung gegen China mit völlig unvorhersehbaren Komplikationen) zuzusichern.

Die Hilflosigkeit, die aus solchen Vorschlägen spricht, erklärt sich aus der Asymmetrie der Konfliktkonstellation. Der Westen und Russland spielen in dieser Konfrontation nicht auf Augenhöhe, denn während Russland über potente kurzfristige Hebel verfügt, mit denen es unmittelbar und sofort wirksam sowohl in der Kaukasus-Region als auch in Europa agieren kann, stehen dem Westen als Antwort hierauf nur langfristige Strategien zur Verfügung. Russland kann zahlreichen Ländern den Gas- und Ölhahn zudrehen und sie damit empfindlich unter Druck setzen. Es kann durch aggressives Auftreten den Angstreflex der Balten, Polen und Tschechen auslösen (was stets zu Uneinigkeit in der EU führt). Es besitzt eine überwältigende konventionelle Streitmacht im Kaukasus und in Zentralasien (abgesichert durch sein beträchtliches Nukleararsenal). Und Russland kann zudem, zumindest teilweise, seine Minderheiten in den Ländern dieser Region politisch wirksam machen (wie in Süd-Ossetien und in Abchasien mustergültig zu beobachten war).

Vergleichbare strategische und operative Mittel stehen dem Westen in der Region nicht zur Verfügung. Die Stützung demokratischer Entwicklungen, die Integration der dortigen Volkswirtschaften in westliche Märkte und globale Versorgungsketten, die Aufnahme von Ländern in die EU und in die Nato – all dies sind Mittel, die, falls sie je wirksam werden sollten (oder überhaupt sinnvoll sind), ihre Wirkung erst über einen langen Zeitraum hinweg entfalten. Und die Energieressourcen des Westens befinden sich, anders als in Russland, in privater Hand, können also nicht auf die gleiche Weise wie dort politisch dirigiert und instrumentalisiert werden.

Keine Illusionen über Russlands Motive!

Was tun? Der wichtigste erste Schritt des Westens ist die Anerkennung dieser Asymmetrie. Aus ihr folgt der Verzicht auf diplomatische und politische Schnellschüsse, die kaum etwas bewirken, aber erhebliche atmosphärische Verstimmungen erzeugen würden. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat deshalb Recht, wenn er Europa zu einer gemäßigten Reaktion auffordert und Sanktionen sowie das Einfrieren der Beziehungen ablehnt. Dass eine solche gemäßigte Politik von Hardlinern in Europa und in den Vereinigten Staaten als Appeasement diffamiert werden wird, muss ausgehalten werden. Eine Politik starker Gesten und Taten ist nur dann sinnvoll, wenn man zum einen die (militärischen) Mittel besitzt, um sie zu unterfüttern, und zum anderen den politischen Willen hat, diese Politik tatsächlich durchzuhalten. Beides ist nicht erkennbar.

Diese gemäßigte Politik heißt aber nicht, weiterhin die Augen vor der arroganten, anmaßenden und aggressiven Machtpolitik Russlands zu verschließen. Diejenigen, die aus alter Verbundenheit, aus AntiAmerikanismus oder wegen kultureller Affinität bereit sind, Russland seine eiskalte Politik der Angst durchgehen zu lassen, sind auf dem Holzweg. Georgien war nur der vorläufige Höhepunkt einer ganzen Reihe von unbotmäßigen Provokationen und Drohungen, die Moskau in den vergangen Jahren orchestriert hat. Zu ihnen gehören die Rückhaltung von Gaslieferungen nach Mittel- und Osteuropa, das Embargo gegen Fleischimporte aus Polen, die regelmäßigen Verletzungen des Luftraumes über Norwegen, die Cyber-Warfare-Attacke im Streit um ein Kriegerdenkmal in Estland, die Waffenlieferungen an Schurkenstaaten sowie die an Obstruktion grenzende Verweigerung in der internationalen Sanktionspolitik gegen Iran.

Russlands Außenpolitik unter Putin steht klar in der ungebrochenen Tradition von Zarenreich und Sowjetunion, was durch die Wahrnehmung des Zusammenbruchs der UdSSR als „größte geopolitische Tragödie des 20. Jahrhunderts“ (Putin) verbal untermauert wird. Russland drängt systematisch auf die Tilgung dieser Schmach und auf seine Wiederanerkennung als Großmacht. Der Westen sollte sich keiner Illusion über die russischen Motive hingeben. Russland-Apologetik ist ebenso naiv wie gefährlich.

Für eine Strategie des langen Atems

Wie aber umgehen mit einem aggressiven Regime, wenn einem fürs Erste die Hände gebunden sind? Statt eine hyperventilierende Debatte über den besten Schnellschuss gegen den russischen Neo-Imperialismus zu führen, hilft ein nüchterner Blick auf die Faktoren, die zum gegenwärtigen russischen Handeln führen. In ihnen liegt der Schlüssel für eine langfristige politische Strategie zur Beilegung des westlich-russischen Konfliktes. In Ermangelung kurzfristiger Wirkmöglichkeiten ist eine solche Vorgehensweise, die auf den langen Atem setzt, die einzig gangbare politische Lösung.

Eine solche Strategie, die auf eine Verhaltensänderung Russlands abzielt, muss die beiden Hauptquellen der russischen Politik in den Blick nehmen: Da sind erstens die russischen Urängste vor strategischer Einkreisung und westlicher Verschwörung, verbunden mit der gefühlten Demütigung durch den Verlust des sowjetischen Weltreiches. Dieser erste Faktor beschreibt die Motivation des russischen Handelns. Zweitens geht es um die Energieabhängigkeit des Westens, die Russland virtuos ausnutzt. Dieser zweite Faktor liefert den Treibstoff, der die Politik, die aus dem ersten Faktor erwächst, überhaupt erst möglich macht.

Wo das Nullsummen-Denken dominiert

Die russischen Urängste, die sich historisch weit zurückverfolgen und als wirkmächtiger Faktor belegen lassen, sind dem Westen entweder nicht bekannt oder werden nicht ernst genommen. Aus dem dauerhaften Gefühl des Zukurzgekommenseins und der Minderwertigkeit erwächst das Gefühl einer Bedrohung, die Russland seit langem mit einer Absicherung seiner Westgrenzen durch ein weiträumiges Sicherheitsglacis und eine Politik der Interessensphären zu kompensieren sucht. (Ein Beispiel hierfür ist die aggressive Reaktion Russlands auf das amerikanische Raketenabwehrsystem, das in Polen und Tschechien stationiert werden soll. Russland weiß genau, dass dies nicht gegen Moskau gerichtet ist, doch es widersetzt sich der Kopplung der polnischen an die amerikanische Sicherheit, die eine Neutralisierung des russischen Glacis unterläuft. ) Aus dieser Tradition erwächst auch das dem postmodernen Westen nur schwer vermittelbare Nullsummen-Denken der russischen Politik. Ihr zufolge kann ein Akteur nur dann etwas gewinnen, wenn ein anderer etwas verliert. Das europäische Nachkriegsmodell, das im Wesentlichen auf einer Durchbrechung dieser Nullsummen-Logik beruht, weil es davon ausgeht, dass durch Kooperation alle Seiten Gewinner sein können, ist in Russland noch nicht angekommen. Russland nimmt jede sich von ihm abwendende politische Entwicklung in seinem Glacis (etwa die Revolution in der Ukraine) als Gewinn des Westens und folglich als eigenen Verlust wahr. Dass eine friedliche Entwicklung hin zu Demokratie, Marktwirtschaft und offener Gesellschaft am Ende die russische Sicherheit weit mehr stärken würde als das starre Festhalten an Sicherheitszonen, wird in Russland nicht erkannt.

Aufgabe des Westens muss es sein, Russlands Ängste – so abstrus sie uns erscheinen – zu verstehen, ihre historischen Wurzeln zu berücksichtigen, und dann in einem langen Prozess zu erklären, dass es weder eine westliche Verschwörung gegen Russland noch ein gezieltes Unterminieren seiner Sicherheit gibt. Der Verweis darauf, dass Russlands Westgrenzen seine stabilsten sind, könnte dabei helfen. Es wird lange dauern, das Misstrauen und den Minderwertigkeitskomplex in Russland abzubauen. Es wird vieler geduldiger Erklärungen und Vertrauensvermittlung bedürfen, deren Ausgang durchaus ungewiss ist. Doch diese Strategie der Vertrauensbildung muss unternommen werden. Sie ist ein historisch begründbarer Imperativ, denn ohne eine Korrektur der eklatanten russischen Fehlwahrnehmung des Westens wird eine friedliche und kooperative Zusammenarbeit mit Russland auf Dauer nicht möglich sein. Die derzeit von vielen zu Recht geforderte „Neuausrichtung“ der Russland-Politik darf daher keine Abwendung von Russland bedeuten.

Die Abhängigkeit von Russland reduzieren

Gleichzeitig müssen vor allem die Europäer endlich zu einer einheitlichen und auf langfristige Entkopplung von Russland zielende Energiepolitik finden. Hierzu gehört neben der Förderung der alternativen Energien und der Erschließung anderer Liefermärkte, beispielsweise in Nordafrika, die Liberalisierung des europäischen Energiebinnenmarktes. Ein großer Teil russischer Einflussnahme auf diesem Markt beruht auf der Einheit von Förder- und Verteilermacht. Die von der Europäischen Kommission unter dem Schlagwort unbundling seit langem geforderte Entflechtung dieser beiden Elemente müssen die EU-Mitglieder endlich mit Vehemenz vorantreiben. Bisher wehren sich hiergegen vor allem deutsche Energiekonzerne – und Gazprom mit seiner vorzüglichen europäischen PR-Maschine sowieso. Darüber hinaus müssen endlich die Pipeline-Projekte, die Europa von Lieferungen aus Russland unabhängiger machen (Nabucco), mit Nachdruck befördert werden. Auch ein Abrücken von der strategisch und ökologisch ungünstigen Nord-Stream-Pipeline, zumindest aber deren Neuplanung unter Einschluss Polens sollte in Erwägung gezogen werden.

Zugegeben, die hier skizzierte Doppelstrategie wird denjenigen, die sich im Baltikum oder in der Ukraine existenziell bedroht fühlen, wenig Trost verschaffen. Als Rückgrat einer langfristigen Neuausrichtung unserer gemeinsamen innereuropäischen und transatlantischen Russlandpolitik ist sie aber unverzichtbar. Gleichzeitig muss sich der Westen klar machen, dass er mit Sicherheitsgarantien, beispielsweise für weitere Nato-Mitglieder, sparsam umgehen sollte. Der Georgien-Krieg hat gezeigt, dass dieses Land wohl nicht zu verteidigen gewesen wäre. Wer sich nicht vorstellen kann, für Kaukasusrepubliken massiv eigene Truppen ins Gefecht zu werfen oder die nukleare Karte zu spielen, und wer den Wert von Artikel 5 des Washingtoner Vertrages erhalten will, der wird mit seinen Zusagen sparsam haushalten müssen.

Die Sicherheitspolitik ist zurück in Europa. Vielleicht fällt diese Erkenntnis der Öffentlichkeit und dem noch widerwilligen Teil der Abgeordneten des Deutschen Bundestages leichter, wenn man darauf hinweist, daß sie aufs engste mit Energie- und Umweltfragen verbunden ist. Die strategische Landschaft Europas ist seit dem Ende des Kalten Krieges entgegen aller Wahrnehmung komplizierter geworden, nicht einfacher.

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