Führen gegen die Biedermeier-Mehrheit

zu Cornelius Adebahr, Deutschland und der Weltfrieden, Berliner Republik 3/2011

Man könnte meinen, in Deutschland hätte sich etwas Entscheidendes getan. Nach dem moralischen wie machtpolitischen Versagen der Bundesregierung im Fall Libyen, das Cornelius Adebahr zutreffend beschrieb, kam tatsächlich eine kleine öffentliche Diskussion über Außenpolitik in Gang. Das ist bemerkenswert. Was weder die Kunduz-Affäre noch der Köhler-Rücktritt vermochte hatten, erreichte nun der französische Präsident Nicolas Sarkozy: Er hatte unerwartet instinktsicher das Richtige getan – und die Deutschen damit wie Schuljungen aussehen lassen.

So berechtigt die öffentliche Kritik an der Regierung war – der Aufschrei der Empörung war ein Ebenbild der deutschen Außenpolitik selbst: kurzfristiges Reagieren ohne eigentliches Interesse an der Welt und ohne Einbettung in eine handlungsleitende Idee oder eine nationale Interessenanalyse. Wer es aber ernst meint mit der deutschen Außenpolitik, der muss tiefer graben: Wir erleben eine grundsätzliche Krise der deutschen Außenpolitik, deren Ursprung die Introspektion des Landes seit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 ist. Seit rund zwanzig Jahren gelingt es Deutschland daher nicht, seiner Rolle in Europa und der Welt gerecht zu werden, was Haltung, Gestaltungsanspruch und Verantwortungsgefühl betrifft. Die bittere Ironie: Deutschland wird nicht zum kraftmeierischen Kriegstreiber wie vor hundert Jahren, aber beschädigt jene internationalen Institutionen, die es für seinen inneren und äußeren Frieden dringend benötigt.

Deutschlands militärische Einsätze im Kosovo und in Afghanistan sind in Wirklichkeit plakative Großprojekte, die die systematische Verweigerung von Verantwortung im täglichen politischen Alltagsgeschäft lediglich übertünchen. Beispiele gibt es zuhauf. So steht Deutschland seit 1998 selbst kleinen Fortschritten in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU im Wege. Noch so kleine EU-Missionen bringt Deutschland regelmäßig zu Fall, weil das Land die Parteinahme scheut. Rüstungskooperationen mit EU-Partnern verhindert Deutschland aus politischem und wirtschaftlichem Kirchturmdenken heraus. Als Frankreich um eine engere militärische Partnerschaft mit Deutschland buhlte, zeigte das Land die kalte Schulter. Aus purer Not orientierten sich die Franzosen daraufhin in Richtung Großbritannien. Das Auswärtige Amt beklagt sich darüber, dass Deutschlands Besetzungswünschen für Spitzenposten im neuen Europäischen Auswärtigen Dienst nicht entsprochen wird. Ob es ahnt, dass es sich diese Misere größtenteils selbst eingebrockt hat?

Ähnliches gilt für die Nato: Deutsche Diplomaten hätten es vorgezogen, lieber gar kein neues Strategisches Konzept für das Bündnis zu erarbeiten. Ihre Beiträge zu dem von Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen im vergangenen Jahr vorgestellten Papier waren minimal. Mit einem von Sachkenntnis freien Vorpreschen zur Abrüstung taktischer Nuklearwaffen in Europa hatte sich Deutschland in der Allianz zuvor so gründlich isoliert, dass Außenminister Guido Westerwelle (auch hier der Hauptakteur) seine Position kleinlaut zurücknehmen musste. Vielgepriesene deutsche Initiativen zum burden sharing werden statt mit den entscheidenden Akteuren hastig mit nachrangigen Nato-Partnern wie Schweden unternommen, nicht sauber vorbereitet – und verlaufen im Sande. 

Oder nehmen wir die Vereinten Nationen, Deutschlands großes außenpolitisches Ersatzheiligtum. Für seine derzeitige Zweijahresmitgliedschaft im Sicherheitsrat hat sich unser Land Initiativen zum Klimawandel und zur Ressourcenknappheit vorgenommen. Das geht gezielt an der Kernaufgabe des Gremiums, vor allem aber an der Nachfrage aus der realen Welt vorbei. Zum Dank werden Deutsche mit einflusslosen und politisch undankbaren Posten belehnt, wie der jüngst zum UN-Botschafter in Irak ernannte Diplomat Martin Kobler. Darauf ist man am Werderschen Markt dann auch noch stolz.

Die Libyen-Abstimmung im Sicherheitsrat und Außenminister Westerwelles peinliche Rechthaberei nach der erfolgreichen Entsorgung Muammar al-Gaddafis durch andere sind also nur die äußerlich sichtbarsten Nachweise einer zutiefst aus dem Tritt geratenen deutschen Haltung zur Welt. Ein Großteil der Bevölkerung und weite Teile der politischen Klasse möchten von einer unübersichtlichen Welt lieber in Ruhe gelassen werden und glauben, dass Deutschland aufgrund seiner vorbildlichen Vergangenheitsbewältigung hierauf ein moralisches Anrecht habe. Außerdem fühlt man sich stark genug, endlich mal nicht mitmachen zu müssen. Diese übergroße Biedermeiermehrheit hat weder Deutschlands geopolitische Lage als Mittelmacht verstanden, noch seine sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA, noch das Angewiesensein auf die Globalisierung für den eigenen Wohlstand. Von der noch immer existenziellen Frage der Westbindung Deutschlands ganz zu schweigen. Bedient wird dieses Sentiment von linkem und konservativem Populismus, der sich gegen die EU, die USA, natürlich alles Militärische und vor allem gegen die Solidarität mit Partnern und Alliierten richtet.

Diese Form der Provinzialität ist zwar keine deutsche Erfindung, sondern es gibt sie auch in anderen führenden Nationen. Das spezifisch Deutsche ist allerdings, dass die weltgewandte, kosmopolitische, international gesinnte Klasse, die dieser Provinzialität Paroli bieten müsste, so klein und wirkungslos ist. Eine Handvoll Wolfgang Schäubles und Hans-Ulrich Kloses reicht nicht aus, um ein Gleichgewicht herzustellen.

Dieses Missverhältnis von Provinz zu Avantgarde ist nur mittels  starker und ideenreicher Führung zu überwinden. Dass es gerade das deutsche Kleinbürgertum war, das mit Helmut Schmidt (Stichworte Nachrüstung und G7) und Helmut Kohl (Stichworte Europa und Währungsunion) die wichtigsten außenpolitischen Führungspersönlichkeiten der jüngeren Vergangenheit hervorgebracht hat, ist dabei eine Ironie der Geschichte. In der gegenwärtigen politischen Konstellation ist von entschlossener Führung leider wenig zu spüren. Auch die Opposition gibt keinen Anlass zur Hoffnung, sie würde nach einem etwaigen Machtwechsel gegen eine populäre Meinungsfront prinzipienfest Kurs halten. Im Gegenteil.

Von Angela Merkel heißt es, eigentlich befürworte sie eine an mehr internationalem Engagement und Verantwortung ausgerichtete Außenpolitik, wolle sie aber der Bevölkerung nicht zumuten. Es ist dasselbe Kalkül, das Gerhard Schröder den Einsatz in Afghanistan als humanitäre Mission verniedlichen ließ. Doch sowohl für die Kanzlerin als auch für jene, die ihr dereinst folgen werden, gibt es Hoffnung: Nach der letzten Bundestagswahl sprachen sich 53 Prozent der Befragten gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan aus, aber nur 3 Prozent gaben an, sie hätten ihre Wahlentscheidung von der Haltung der Parteien zu dieser Frage abhängig gemacht. Mit anderen Worten: Die Mehrheit war zwar dagegen, aber wirklich wichtig war den Menschen die Frage nicht. Zum Thema Europa gibt es aktuell ganz ähnliche Umfragewerte. Genau in diesem Delta zwischen Einstellung und Priorisierung liegt eine entscheidende Planungsgröße für jede Politik: Platz für Führung.

In keinem Politikfeld werden Spielräume so konsequent ignoriert wie in der Außenpolitik. Nirgendwo ist das Führungsversagen der politischen Elite so groß. Wider bessere Einsicht werden aus Angst und Populismus deutsche Sonderrollen in Anspruch genommen, die dem Land, seinen Interessen und seiner Reputation schaden. Libyen war der bisher plakativste Fall. Andere Fälle könnten folgen, wenn die kleine politische Avantgarde dieses Landes, die Einsicht in Deutschlands Verpflichtungen hat, nicht mutiger wird. Sie muss die Möglichkeiten zur besseren Positionierung Deutschlands entschlossen nutzen, Gegenwind robust aushalten und sich auch mal über Parteigrenzen hinweg zur Hilfe eilen, wenn die Debatte, wie im Fall Köhler, außer Kontrolle gerät. Der Bevölkerung ist in diesen Fragen Führung zuzumuten. Es ist höchste Zeit, dass sich die Politik diese endlich auch selbst zumutet. «

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