Die Demokratische Sehnsucht

EDITORIAL

„Wir wollen mehr Demokratie wagen“ – wenn es um Praxis und Zukunft der Demokratie geht, gilt im Umfeld der deutschen Sozialdemokratie als Bezugspunkt noch immer jenes emphatische Bekenntnis zur gelebten Volksherrschaft, das der frisch gewählte Bundeskanzler Willy Brandt 1969 in seiner ersten Regierungserklärung vortrug. Der Satz bleibt zeitlos schön. Kein Wunder also, dass auf das legendäre Diktum auch in den Beiträgen des Demokratie-Schwerpunkts in diesem Heft Bezug genommen wird. Allerdings geschieht dies ausdrücklich nicht im sonst häufigen verträumt-nostalgischen Tonfall, sondern in historisch einordnender Absicht. Es waren nun einmal damals –  gewissermaßen auf halber Strecke zwischen dem Untergang der  nationalsozialistischen Diktatur und den demokratiezerstörenden Exzessen des „hemmungslosen Finanzkapitalismus“ (Max Otte) – völlig andere Zeiten. That was then, but this is now.

Deshalb macht Norbert Seitz in seinem Beitrag nüchtern darauf aufmerksam, dass es Willy Brandt 1969 mitnichten um die plebiszitäre Erweiterung des repräsentativen Systems gegangen sei: „Die emphatischen Fehlinterpreten in der Partei seien daran erinnert, dass der erste sozialdemokratische Bundeskanzler lediglich die Möglichkeit von ,Anhörungen im Bundestag‘ anstrebte, eine ,umfassendere Unterrichtung der Bürger über die Regierungspolitik‘, eine Senkung des aktiven und passiven Wahlalters, sowie Mitbestimmung und Mitverantwortung in Betrieben, in den Universitäten und auf anderen gesellschaftlichen Gebieten.“ Zu Recht weist Seitz darauf hin, dass sich diese Forderungen „aus heutiger Sicht wie läppische Selbstverständlichkeiten“ anhören – um Selbstverständlichkeiten allerdings, so möchte man hinzufügen, die mittlerweile erstens nicht mehr genügen, die zweitens aber  trotzdem gefährdet sind und auf zeitgemäße Weise neu begründet werden müssen.

Eben dieses Paradox betont auch der Demokratieforscher Wolfgang Merkel: „Der sozialdemokratische Slogan ,Mehr Demokratie wagen‘ ... würde heute nicht mehr verfangen, dafür ist die öffentliche Sache zu stark den privaten Interessen gewichen.“ Aber zugleich: „,Mehr Demokratie wagen‘ ist ja unverändert richtig. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt könnte sein, dass es in der Mitte der Gesellschaft durchaus einen Wunsch nach mehr Mitsprache gibt, etwa bei großen Infrastrukturprojekten. Diese Debatte findet bisher allerdings eher außerhalb von Parteien, Parlamenten und Exekutiven statt.“ Genau darin liegt das Problem – aber auch eine große Chance. 

Nicht zuletzt der aktuelle Sensationserfolg der Piratenpartei bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl verweist ja eindrücklich darauf, welche politische Virulenz demokratiepolitischen Anliegen heute (wieder) innewohnt. Die Piratenpartei mag vieles gleichzeitig sein – und voller innerer Widersprüche obendrein. Im Kern aber ist sie Symptom und Ausdruck einer innerhalb der Gesellschaft im Zuge von Individualisierung und Internetrevolution gewachsenen (radikal-)demokratischen Sehnsucht, für die den eingesessenen Akteuren der Politik offensichtlich das Sensorium fehlt. Wieder und wieder Willy Brandts Diktum im Munde zu führen, wird Sozialdemokraten in demokratiepolitischen Dingen nicht mehr auf die Höhe einer Zeit verhelfen, in der Kategorien wie Demokratie, Partizipation und Selbstbestimmung überraschend neuartig buchstabiert werden. Dass die AG Demokratie der SPD-Bundestagsfraktion mit ihrem in diesem Heft dokumentierten Positionspapier „Demokratie erneuern, Demokratie leben“ offensiv und proaktiv in die überfällige Debatte einsteigt, ist da ein gutes Zeichen.

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