Kitt und Kandidatur

EDITORIAL

Deutschland altert dramatisch, das ist bekannt. Im Verhältnis zur Zahl der Erwerbstätigen wird die Zahl der älteren Menschen in die Höhe schießen. Ändern wir nichts an unserem Erwerbsverhalten, kommt schon in den nächsten Jahrzehnten auf jeden Erwerbstätigen rechnerisch ein Rentner. Aber unsere demografische Zukunft wird uns nicht schicksalhaft ereilen. Wir können uns auf sie einstellen. Wir werden selbstverständlich länger arbeiten müssen – und haben die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir dazu tatsächlich in der Lage sind. Wir werden besser arbeiten müssen – und brauchen dafür Gelegenheiten zur lebenslangen Weiterbildung, die dies überhaupt erst ermöglichen. Wir werden mehr Menschen qualifizieren müssen – und können es uns schlicht nicht mehr leisten, auch nur ein einziges Kind in Deutschland zurückzulassen. Zugleich werden wir die Erfahrungen und Fähigkeiten der vielen Älteren in unserer Gesellschaft besser als bisher nutzen müssen. „Es gibt viele ehrenamtlich tätige Ältere in Deutschland, die wollen noch und können noch“, schreiben Franz Müntefering, Kerstin Griese und Sönke Rix. Damit weisen sie zugleich auf eine fundamentale Voraussetzung aller zukünftigen Problembewältigung hin: „Der Sozialstaat ... ist unentbehrlich, aber er lebt auch von der Fähigkeit und Bereitschaft der Menschen, unmittelbar füreinander einzutreten, sich zu helfen und sich helfen zu lassen. Das ist der eigentliche Kitt der Gesellschaft: der familiäre, der nachbarschaftliche, der ehrenamtliche, der freiwillige und der hauptberufliche Dienst am Menschen.“ Wir werden mehr von diesem Kitt brauchen.

Ein Mitherausgeber der Berliner Republik wird im bevorstehenden Bundestagswahlkampf Kanzlerkandidat der SPD sein. Damit haben sich die deutschen Sozialdemokraten in ihrer keineswegs unkomplizierten Lage zweifellos für die beste aller denkbaren Varianten entschieden. Gefragt wird da und dort, ob Frank-Walter Steinmeier die nötige „Volkstümlichkeit“ besitze, um seine neue Rolle glaubwürdig auszufüllen. Wir zweifeln daran kein bisschen. Andererseits erscheint aus der Sicht einer Zeitschrift, deren Daseinszweck die Suche nach aufgeklärten Ideen und innovativen Konzepten für unsere Zeit ist, beispielsweise die Frage nicht vorrangig, ob Steinmeier textsicher „Der Steiger kommt“ singen kann. Er wird das, wenn es denn sein muss, schon hinbekommen. Viel wichtiger ist aber, dass mit Frank-Walter Steinmeier ein ernsthafter Progressiver zur Wahl antreten wird, der die Komplexität und Dynamik der gesellschaftspolitischen, internationalen und globalen Herausforderungen des frühen 21. Jahrhunderts intellektuell zu verarbeiten vermag. Ob sich mit dieser Fähigkeit Wahlen gewinnen lassen, muss sich zeigen. Völlig klar ist aber, dass ohne die Kapazität zur scharfsinnigen Zeitdiagnose und die Bereitschaft zu neuen Lösungen keine einzige moderne Gesellschaft mehr vernünftig organisiert werden kann. Nicht nur für die Sozialdemokratie, auch für unser Land insgesamt ist Frank-Walter Steinmeiers Kandidatur deshalb eine wirkliche Chance. Wir sollten sie ergreifen.

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