Die Renaissance des Staates

Der 11. September hat das Ende des entfesselten Globalkapitalismus eingeläutet. Die Regierungen müssen jetzt zugleich dem Terror widerstehen und gegen die Exzesse der neoliberalen Marktrevolution vorgehen

Jeder Krieg produziert Gewinner und Verlierer - diese Regel gilt auch jenseits der Aktienmärkte, an denen clevere Zocker bereits am Tag nach den Terroranschlägen auf Amerika schnelle Profite machten. Auch politische Institutionen sowie Ideen werden angesichts der Universalierung der terroristischen Bedrohung auf den Prüfstand gestellt. Im Zeichen des Primates der Sicherheit verschieben sich Gewichte. Entwicklungen, bereits im Ansatz erkennbar vor den Anschlägen auf das World Trade Center, treten nun deutlicher hervor. Den meisten Menschen in den Wohlstandsgesellschaften des Westens ist jetzt erst klar geworden, was der Begriff "Risikogesellschaft" umfasst, mit dem in intellektuellen Zirkeln seit Jahren hantiert wird. Die Verwundbarkeit der westlichen Zivilisation ist gerade auch denen drastisch vor Augen geführt worden, die dem König Globalkapitalismus huldigten und von der Omnipotenz des ungezügelten Marktes überzeugt waren.


Es gibt viele potentielle Ziele im asymetrischen Krieg der Zukunft - Atomkraftwerke, Ölraffinierien, Wiederaufarbeitungsanlagen und Plutoniumfabriken. Während Frankreich Atomanlagen wie La Hague mit Radar und Boden-Luft-Raketen sichert, erteilte die Londoner Regierung gerade die Genehmigung für Mox, eine Brennstofffabrik im skandalgeschüttelten Sellafield-Komplex, deren Betrieb zahllose Plutoniumtransporte über tausende von Kilometern per Wasser und Luft verlangt. Ein Schritt, der angesichts des neuen Fundamental-Terrorismus erstaunliche Dickhäutigkeit verrät. Doch die Verwundbarkeit unserer Informations- und Energiearterien treibt Experten und Denkfabriken schon lange um.


Im Schlaglicht des 11. September zerstob ein Traum, dem allen voran neoliberale Globalisierungseuphoriker anhingen: Der Traum von einer neuen krisenfesten Weltökonomie, in der Konjunkturzyklen der Vergangenheit angehören, in der Produktivität und Bruttosozialprodukt stetig steigen und ebenso weise wie allmächtige Zentralbanken die Inflation wie gewählte Politiker durch geschickte Zinspolitik ausbremsen - eine Welt, in der globale Märkte über staatliche Souveranität triumphieren. Wer braucht da noch so verstaubte Instrumente wie Steuer- und Haushaltspolitik, um die Wirtschaft anzukurbeln, wenn doch ewiger konjunktureller Frühling durch "strukturelles Wachstum" - noch vor kurzem ein beliebtes Schlagwort gerade amerikanischer Ökonomen - und durch die permanente Revolution der Informationstechnologie garantiert sein würden? In dieser Welt hatten Regierungen sich gefälligst darauf zu beschränken, die Steuern niedrig und die Börsen bei guter Laune zu halten.

Kruder Keynesianismus in Amerika

Jetzt erhebt das wohlvertraute Gespenst der Rezession wieder sein hässliches Haupt. Und siehe da - sogar Amerika kehrt ziemlich abrupt zu einer kruden Version des Keynesianismus zurück, mit Ausgabenprogrammen von 40 Milliarden Dollar, während in Europa gerade auch die Regierungen der Neuen Mitte ein wenig verschämt zögern. Noch wagen sie nicht, den Pfad zu verlassen, den sie kürzlich erst einschlugen. Doch dürften Programme zur Ankurbelung von Nachfrage und Konjunktur nicht lange auf sich warten lassen, Projekte der Infrastruktur oder vorgezogene Steuerreformen. Alle Regierungen aber, ob in Amerika, Deutschland oder Großbritannien, können sich der Hilferufe von Unternehmen kaum erwehren. Besonders arg gebeutelte Branchen, allen voran Fluggesellschaften, verlangten und erhielten finanzielle Hilfe.


Staat und Regierung, gestern noch fast als lästige Relikte der Vergangenheit betrachtet, deren Grenzen die neoliberalen Propheten des ungezügelten Marktes immer enger ziehen wollten, sind urplötzlich wieder en vogue. Der Staat wird gebraucht, als Beschützer, Helfer in der Not, als Garant gegen Risiken, bei denen die Versicherungsbranche abwinkt. Gefragt sind staatliche Intervention, Regulierung und Subventionen - alles Begriffe, die westliche Regierungen jeglicher politischer Couleur noch unlängst nur mit Abscheu verwendeten. Und der Trend zurück zu aktiver Regierung wird angeführt von einem amerikanischen Präsidenten, der mit dem Versprechen antrat, weniger auszugeben und die Rolle des Staates weiter einzudampfen. Nun werden sogar Steueroasen und das Bankgeheimnis angetastet, Eingriffe, die vor noch zwölf Monaten als frevlerischer Akt wider den freien Markt gegolten hätten.

Globale Gefahren erzwingen Kooperation

Der 11. September hat eine Renaissance von Nationalstaat und Regierung eingeleitet, deren Reichweite in den kommenden Jahren immer klarer zu Tage treten wird. Um Missverständnissen vorzubeugen: Nicht im Widerspruch dazu steht ein anderer Trend - die Einsicht in wachsende Interdependenz, aus der sich die Notwendigkeit zu verstärkter Kooperation ableitet, ob beim Krieg gegen den Terror oder bei dem Versuch, einen tiefen wirtschaftlichen Abschwung zu verhindern. Niemand kann sich mehr in splendid isolation zurückziehen, in die Isolation. Auch Amerika, die einzige Supermacht, beginnt zu begreifen, dass globale Probleme, ob fanatischer Fundamentalismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen oder Umweltprobleme, internationale Zusammenarbeit erzwingen. Ulrich Beck hat Recht, wenn er eine neue Ära transnationaler und multilateraler Kooperation voraussagt. Doch das Urteil, dass nicht nur der neoliberale Staat, sondern auch der Nationalstaat entthront worden sei, muss bezweifelt werden. Aber es ist der Nationalstaat, der am Steuer verstärkter supranationaler Anstrengungen sitzt; so formulierte es ein Berater von Tony Blair auf einer Konferenz in Chatham House, dem Londoner Institut für internationale Politik. Niemand mochte ernstlich widersprechen, auch nicht die deutschen Teilnehmer aus Politik und Wirtschaft.

Plötzlich spielt Brüssel eine Nebenrolle

In den Institutionen der Europäischen Gemeinschaft spürt man bereits, wie sehr sich der Wind gedreht hat. Die außenpolitischen Repräsentanten der EU, Javier Solana und Chris Patten, spielen seit dem 11. September eine Nebenrolle, die sie als zutiefst frustierend empfinden: Alle Macht sei zu den Haupstädten zurückgeflossen, lauten die Klagen in der Brüsseler Kommission, nach London, Paris, auch nach Berlin, wo Gerhard Schröder aus Deutschlands vollständig zurückgewonnener Souveranität die Pflicht zu einer "neuen internationalen Verantwortung" ableitet. Kooperation, nicht Integration lautet das Leitmotiv der neuen Ära. Ein herber Rückschlag für die Integrationisten, denen in der Vergangenheit selbst die wärmsten Befürworter des europäischen Projektes die ersehnte Kompetenz in Außen- und Sicherheitspolitik verweigert hatten.


In Zeiten des Konflikts dominiert das Thema Sicherheit - in all seinen Variationen. Wer vermag uns vor Feinden im Inneren wie von außen zu schützen? Die Antwort fällt eindeutig aus: Staat und Regierung, nicht der globale Markt oder die internationale Gemeinschaft smarter Banker und Makler, die Masters of the Universe, wie Tom Wolfe sie sarkastisch taufte, die per Telefon und Computer mit Milliarden jonglieren. Die Opfer der Katastrophe von New York waren allen voran Makler, Bankiers und Junkbondhändler; bei den Helden der Tragödie, von denen viele bei dem Versuch, anderen zu helfen, ihr Leben ließen, handelte es sich um Feuerwehrleute, Polizisten und gewählte Repräsentanten. Sie waren nicht tätig, um für einen höheren Shareholder Value zu sorgen; sie setzten sich für das ein, was als Gemeinwohl bezeichnet wird, the Common Good, ein Begriff, der in den letzten Jahren häufiger in Diskussionen über die Moderne zu vernehmen war, oft mit dem Ausdruck der Sorge und zugleich Ratlosigkeit. Denn niemand weiß so recht, wie sich sozialer Zusammenhalt und ein größeres Maß an gesellschaftlicher Solidarität in einer Ära schaffen lassen, die geprägt ist von hedonistischem Individualismus und rauschhaftem Konsum.

Kommt die Anarchie auch zu uns?

Wenn Sicherheit Priorität gewinnt, muss der Staat umso mehr darauf bedacht sein, sein Gewaltmonopol zu bewahren. Das alleinige Recht zu organisierter Gewalt ist eines der essentiellen Elemente, durch das sich der moderne Staat definiert, und das sich, historisch betrachtet, nur langsam und unter Schwierigkeiten gewinnen und durchsetzen ließ. Die Grundlage westlicher Zivilisation ist der benevolente Staat, der Demokratie, Menschenrechte und Rechtssicherheit garantiert. Sie wird herausgefordert durch eine neue fundamentalistische Opposition, die sich gegen die staatliche Ordnung richtet und gewiss nicht zufällig gerade dort blüht und gedeiht, wo staatliche Ordnung zusammenbrach. Den Vorläufern dieser Fundamentalopposition begegneten wir im Balkan und in Afrika; seine islamische Variante ist von besonders bedrohlicher Wucht, weil sie in einem Kulturkreis agiert, in dem der Staat bis heute nicht jene Legitimation zu gewinnen vermochte, die er im Westen erlangte. Die Zonen der neuen Anarchie haben sich ausgebreitet; Warlords, Freischärler und Privatarmeen gedeihen, wo staatliche Ordnung nicht existiert oder Staaten von innen ausgehöhlt und zum Gehäuse für terroristische Netzwerke wurden. In seinem Buch Reisen an die Grenzen der Menschheit sprach der amerikanische Autor Robert D. Kaplan bereits in den frühen neunziger Jahren vom Zerfall der Weltordnungen. Die "kommende Anarchie", die er voraussah, lässt sich als postmoderne Prämoderne definieren: Der Hass auf die Moderne mündet in dem Versuch, den Staat zu zerstören.

Zuständig ist der Staat. Sagen die Wähler

Die neue Anarchie ist zugleich auch ein Ergebnis von Globalisierung und ungezügelten Märkten. Deregulierung und unkontollierte Finanzströme erleichterten nicht nur Investitionen und internationalen Handel. Zugleich profitierte davon der Waffen- und Drogenhandel, ohne den Mafiosi und Terroristen nicht leben können. Der Drogenhandel ließe sich durch das Mittel der Legalisierung entschärfen, zumal die Erfolglosigkeit des "Krieges gegen Drogen" immer offenkundiger geworden ist. Ist es bloß Zufall, dass Großbritannien, bislang auf hartem Drogenkurs, gerade jetzt die Entkriminalisierung von Cannabis beschloss? Ein ähnliches Rezept gegen den Terrorismus aber gibt es nicht.


Der Glaube an die prinzipielle Überlegenheit des Marktes führte in den Privatisierungswellen der neunziger Jahre zu einem Rückzug des Staates selbst aus heiklen Bereichen; sein Gewaltmonopol erodierte. Private Sicherheitdienste übernahmen eine immer größere Zahl von Aufgaben; sie stellten jene schlechtbezahlten, unmotivierten Arbeitskräfte ein, die an den Durchleuchtungsmaschinen amerikanischer Flughäfen arbeiteten. Es ist kein Wunder, dass jetzt selbst an den Märkten der Glaube an die Globalisierung erschüttert ist.


Wenn Historiker der Zukunft einmal das Ergebnis der Terroranschläge des 11. Septembers analysieren werden, dürften sie zu dem Schluss gelangen, dass sie das Ende des entfesselten Globalkapitalismus einläuteten. Die Zweifel an der Weisheit neoliberaler Ideologie waren schon vor diesen Ereignissen gewachsen, gerade in den Ländern der Welt, die sich besonders schwungvoll für Entstaatlichung, Privatisierung und Deregulierung entschieden hatten. In Großbritannien, dem wahren Heartland der Marktrevolution, werden die Rezepte schon seit geraumer Zeit in Frage gestellt. Die Stimmung hat sich hier dramatisch gewandelt: In sicherheitsempfindlichen Bereichen misstrauen die Wähler dem Privatsektor. Drei Viertel plädieren seit langem schon dafür, die katastrophale Privatisierung der Eisenbahn rückgängig zu machen, ein Wunsch, den die Drittwegler der Regierung Blair jetzt halbwegs und ein bisschen verschämt erfüllt haben. Ungerührt trieb man Railtrack, die für Schienen und Bahnhöfe zuständige private Gesellschaft, in den Konkurs und ersetzt den Konzern nun durch eine Art genossenschaftliche Lösung, bei der weder Gewinne noch Dividen-den abfallen. In Neuseeland, dem Experimentierfeld neoliberaler Ideen, wurde die Eisenbahn komplett in staatlichen Besitz zurückgenommen und die Privatisierung staatlicher Aufgaben im Bildungs- wie Sozialsektor beendet. Sozialdemokratische Privatisierungsfreunde können vor allem eines von den britischen Erfahrungen lernen: Das Kalkül, Privatisierung enthebe von der Bürde des Besitzes, während sich zugleich durch "intelligente" Regulierung alle erwünschten Ziele realisieren lassen, geht nicht auf. Denn wenn etwas nicht klappt, wie es soll, wenn es gar zu größeren Unfällen oder Katastrophen kommt, dann scheren sich die Wähler nicht um Besitzverhältnisse. Stets und überall ziehen sie die Regierenden zur Verantwortung.

Linke Ideale in den Zeiten des Krieges

Die Geschichte lehrt, dass Kriegszeiten die Ideale der progressiven linken Parteien begünstigen. In Großbritannien, der ältesten Demokratie Europas und dem Geburtsland der industriellen Revolution, führten Kriege zur Verwirklichung von Zielen, die von links gefordert und von rechts bekämpft worden waren. Die Einkommenssteuer sah das Licht der Welt im Krieg gegen Napoleon. Der erste Weltkrieg sicherte die demokratischen Rechte für Frauen. Ohne die Solidargesellschaft, die der Krieg gegen Hitler schuf, wäre der moderne Wohlfahrtsstaat, den Labourpremier Attlee nach 1945 in Großbritannien etablierte, kaum möglich gewesen.


Konflikte, die lange dauern, wirken tief hinein in die Gesellschaft; sie befördern kollektive Wer-te von Solidarität und Fairness, auf deren Durchsetzung dann der Staat zu achten hat. Umgekehrt ist es in langen Perioden des Friedens. Freiheit von äußeren Bedrohungen und wachsender Wohlstand, die der Westen in den vergangenen 20 Jahren genießen durfte, begünstigen die Ideen der antistaatlichen Rechten und mehren die Zweifel an der Kompetenz staatlicher Instanzen. Sozialdemokraten überall in Europa gelangten erst wieder an die Macht zurück, nachdem sie dem neuen Zeitgeist huldigten und den Globalkapitalismus vorbehaltlos bejahten. Es war Bill Clinton, der in Amerika das Ende von Big Government, von starker Regierung, verkündete; Tony Blair und Gerhard Schröder schworen ihre Parteien auf den Glauben an die Überlegenheit des freien Marktes ein.

Abschied von der Globalisierung

Doch das Pendel hatte bereits vor dem 11. September begonnen zurückzuschlagen. Die neue Weltordnung, die sich jetzt in Umrissen abzuzeichnen beginnt, wird den ungezügelten Markt nicht wieder aufs Podest stellen. Aktive und starke Regierungen gewinnen neue Legitimität. John Gray, Soziologe an der London School of Economics, geht bereits so weit, den Abschied von der Globalisierung vorauszusagen. Die abgelaufenen Jahrzehnte im Zeichen des Weltmarktes gelten ihm als ein Interregnum: nicht als Einfallstor in die Ära einer universalen Zivilisation, die auf den Werten der abendländischen Aufklärung basiert, sondern als die Übergangszeit zwischen zwei Konfliktepochen. Diesen Pessimismus mag gewiss nicht jeder teilen - klar ist immerhin schon heute, dass der Staat in der Epoche globaler Interdependenz größeres Gewicht erhalten wird.


Dem internationalen Terror widerstehen und zugleich die Exzesse von Globalisierung und neoliberaler Marktrevolution zurückdrehen - diese Aufgabe gilt es nun anzupacken.

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