Realism welcome!

Konfrontiert mit der größten Herausforderung des Jahrhunderts erweist sich Europa als uneinig und überfordert. Was jetzt gebraucht wird, sind Mitgefühl, Wirklichkeitssinn und eine Strategie, die militärische Elemente umfassen muss

Rund um das Mittelmeer findet derzeit die wohl größte Migrationsbewegung der Geschichte statt. Noch werden in Deutschland Plakate hochgehalten, auf denen „Refugees Welcome“ zu lesen ist. Doch an den Grenzen der Europäischen Union gehen die Schlagbäume herunter, werden Stacheldrahtzäune errichtet, während die Spannungen zwischen den Regierungen wachsen.

Das neue Zeitalter der Völkerwanderungen hat begonnen, und niemand sollte glauben, dass es sich bei dem Exo­dus aus Afrika und dem islamischen Asien, der vor gut einem Jahr begann, um ein temporäres Phänomen handelt, welches mit gutem Willen und einer tüchtigen ­Portion europäischer Solidarität zu meistern wäre. Europa steht vor einer harten und undankbaren Aufgabe, auch weil ­wenig dafür spricht, dass die ­tieferen Ursachen des Problems rasch behoben werden können. Fest steht nur: Die Flüchtlinge, die in den Westen drängen, werden die europäischen Gesellschaften gravierend verändern. Und sie werden die EU in eine tiefe Krise stürzen.

Vernetzung als Migrationsgrund

Nicht nur die Kriege im Nahen Osten und die Gräueltaten islamistisch-sunnitischer Fundamentalisten haben den Exodus ausgelöst, sondern auch die schiere Hoffnungslosigkeit des Alltags in weiten Teilen der islamischen Welt. Die dortigen repressiven Regime sind notorisch unfähig, genügend Arbeitsplätze und ein Mindestmaß an Wohlstand zu schaffen – trotz der gewaltigen Ölvorkommen in der Region. Man kann es den Menschen nicht verdenken, dass sie alles daran setzen, diesem Leben zu entkommen.

Die dahinterliegenden Faktoren für den Aufbruch nach Europa sind die Globalisierung, der technologische Fortschritt, eine immer engmaschiger vernetzte Erde, die digitale Informationsrevolution und eine Bevölkerungsexplosion. Vor allem in Afrika gesellen sich weitere, für sich genommen durchaus positive Entwicklungen hinzu: Es sterben immer weniger Kinder, zugleich sind zunehmend mehr Menschen zu einem bescheidenen Wohlstand gekommen. In Afrika sind mehr als eine Milliarde Smartphones in Betrieb. Nahezu alle Auswanderer haben Zugang zu Informationen über die europäischen Länder. Sie wissen genau, was sie in ihrer Wunschheimat zu erwarten haben, etwa wenn es um Sozialleistungen in den verschiedenen Mitgliedsstaaten der EU geht.

Die Renationalisierung schreitet voran

Der Strom der Einwanderer wird nicht versiegen, sondern weiter anschwellen. Dem Meinungsforschungsinstitut ­Gallup zufolge bekundeten im Jahr 2009 rund 38 Prozent der Bewohner der afrikanischen Subsahara die Absicht, ein besseres Leben auf der anderen Seite des Mittelmeeres zu suchen. Das war noch vor dem Aufstieg von islamistischen Terrorgruppen wie Boko Haram. Der Ökonom und Demografieexperte Gunnar Heinsohn berechnet die Zahl der Auswanderungswilligen aus Afrika auf rund 370 Millionen, hinzu kommen ihm zufolge noch 80 Millionen Wanderungswillige aus dem Nahen Osten – optimistisch kalkuliert.

Nun bedrohen die Migrationsbewegungen Europas fragilen Versuch, weiter zusammenzuwachsen. Der europäische Traum von der „immer engeren Union“ erweist sich zunehmend als Utopie. Stattdessen schreitet ein Prozess der Rena­tionalisierung voran, der in Zukunft eher noch an Fahrt gewinnen dürfte. Deutschland mag noch so oft betonen, dass die faktische Aussetzung des Schengener Abkommens lediglich eine vorübergehende Maßnahme sei – kaum jemand in Europa nimmt diese Aussage für bare Münze. Sie klingt wie das Pfeifen im Walde, um die eigenen Ängste zu übertönen.

Ironischerweise hat ausgerechnet Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihren erratischen Manövern im September den Zusammenhalt der EU gefährdet. Zunächst sendete sie Signale, die syrische Flüchtlinge wie eine Einladung interpretieren mussten. Dann kam die abrupte, aus der Überforderung von Städten und Bundesländern geborene Kehrtwende, verbunden mit der Entscheidung, die Dublin-Regeln zu suspendieren. All dies geschah im Alleingang, ohne vorherige Absprache mit Deutschlands Nachbarn. Noch nicht einmal Frankreich war informiert; Paris reagierte hochgradig ­irritiert. „Das reuige Deutschland droht Europa zu ruinieren“, schrieb der Figaro. Sogar die euphorische Zustimmung des linken französischen Milieus für Angela Merkels generöse Geste schlug rasch in Zorn um. Auf dem rechten politischen Spektrum wurde Merkel sowieso mit ironischem Beifall bedacht. Nicolas Sarkozy will, sollte er erneut zum französischen Präsidenten gewählt werden, ein „neu aufgestelltes Schengen 2“ durchsetzen, was auch immer das heißen mag. Zudem propagiert er eine „Aufrüstung“ der EU-Außengrenzen.

Auch das britische Intelligenzmagazin Spectator kritisierte Angela Merkels „Sirenengesang“: Die Bundeskanzlerin riskiere das Leben vieler syrischer Flüchtlinge, indem sie diese zu der lebensgefähr­lichen Reise nach Europa ermuntert habe. Wie konnte einer Politikerin, die weltweit für ihren unaufgeregten Führungsstil bekannt ist, ein derartiger Fehler unterlaufen? Vielleicht hat man ihre Rolle in der Dauerkrise um Griechenland und den Euro überschätzt. Im Grunde zeichnet sich Merkels Handeln in den vergangenen Jahren vor allem durch Nichtstun aus. Sie traf nur wenige spektakuläre Entscheidungen (was sich in der Politik schon häufig als die klügste Gangart erwiesen hat). Hart blieb sie nur, als es um deutsche Forderungen nach Struktur­reformen in den südeuropäischen Ländern ging – wohlwissend, dass diese Linie der Mehrheitsmeinung der deutschen Bevölkerung entsprach.

In der Flüchtlingskrise ließ sich ­Merkel, wie deutsche Medien und Teile der Bevölkerung, von einer emotionalen Welle der Willkommenskultur erfassen. Parallelen zu einer anderen und ebenso folgenschweren Entscheidung der Bundeskanzlerin drängen sich auf: Nach Fukushima folgte sie im Jahr 2011 der hysterisierten Stimmung von Medien und Bevölkerung und ordnete den sofortigen Teilausstieg aus der Atomkraft an – gerade so, als ob ein Tsunami im Rheintal drohte und auf der Stelle gehandelt ­werden musste. Die Existenz französischer Atommeiler unweit der deutschen Grenzen ignorierte sie dabei übrigens geflissentlich.

Nach Fukushima agierte Merkel ähnlich

Der missratene Versuch Deutschlands, der Welt den rechten Weg in der Energiepolitik zu weisen, gewann noch zusätzlich an Fahrt – mit negativen Folgen nicht zuletzt für das Klima, weil der Kohlendioxidausstoß dank des perversen Comebacks der Kohle anstieg. Darüber hinaus kletterten die Strompreise für die Verbraucher steil nach oben, während die energieintensiven Industrien des Exportweltmeisters schon längst Investitionen ins Ausland verlagern. Vizekanzler Sigmar Gabriel muss nun zusehen, wie er die verfahrene Lage bereinigt.

Ein Merkmal der hektischen Massenmediendemokratie, die sich in den vergangenen Dekaden auch in Deutschland herausgebildet hat, ist der überragende Einfluss bildhafter Medien. Fernsehen und Internet transportieren eine Flut von Bildern; wie nie zuvor in der ­Geschichte der Menschheit ist das ­Visuelle zum ­prägenden Element geworden. Ein Bild, das hatte schon der brutale Manipulator der Massen Mao Tse Tung früh erkannt, ist wirkungsvoller als tausend Worte. Das geschriebene Wort wirkt eher auf den Verstand, Bilder aber zielen auf das Gefühl.

Der deutsche Hang zur Gesinnungsethik

Kein Wunder, dass die postindustriellen Gesellschaften des Westen mehr denn je von heftigen Gefühlsschwankungen heimgesucht werden: heute himmelhoch jauchzend, morgen zu Tode betrübt oder verängstigt. Das Bild des ertrunkenen kurdischen Jungen am Strand von ­Bodrum löste einen kollektiven Schock aus und bewog selbst den britischen Premierminister David Cameron zu der Ankündigung, 20 000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen.

In Wirklichkeit hätten die Medien darauf hinweisen müssen, dass die Verantwortung für den Tod des Kindes beim Vater lag und nicht der Herzlosigkeit europäischer Regierungen geschuldet war. Nach der Flucht aus Syrien hatte die Familie bereits drei Jahre lang sicher in der Türkei gelebt – um sich dann für die Umsiedlung in die EU zu entscheiden und mehrere Tausend Euro für die Überfahrt nach Lesbos zu bezahlen, auf kaum mehr als einer Luftmatratze. Welche Zeitung, welcher Fernsehsender in Deutschland hat sich darum bemüht, diese ­Information unter das Publikum zu bringen?

Für uns Deutsche ist die Willkommenskultur ein Ausdruck des zivilisatorischen Fortschritts, was so falsch nicht ist, selbst wenn wir zugleich eingestehen müssen, dass die damit verbundene Selbstbeweihräucherung zu weit ging. Doch unzweifelhaft offenbarte sich in Teddybären und Willkommensplakaten für die Flüchtlinge nebenbei auch der deutsche Hang zur Gesinnungsethik. Die Vorliebe für hehre Ideale verbunden mit einem Mangel an Realitätssinn – genau deshalb ist Deutschland wenig geeignet für die Rolle des europäischen Hegemons, die ihm angesichts seiner wirtschaftlichen Kraft zugefallen ist.

Ein Hegemon muss nicht nur die eigenen Interessen kennen, er muss zugleich auch die Interessen der übrigen Staaten berücksichtigen. Vor allem aber verlangt die Rolle des Hegemons, die Realitäten nicht aus den Augen zu verlieren – also eine Verantwortungsethik. Doch Merkel tat in der Flüchtlingskrise das Gegenteil: Es ging ihr um die demonstrative Zurschaustellung der „richtigen Gesinnung“.

Klar ist: Der Bundeskanzlerin mangelt es an perspektivischem Denken und der Fähigkeit zu einer kühlen Analyse von Chancen und Risiken. Wer hunderttausende Menschen ins Land einlädt, der muss vorher alle langfristigen Folgen für die eigene Nation bedenken. Dazu gehört das Thema des Sicherheitsrisikos durch eingewanderte Islamisten ebenso wie die Frage, wie gut die syrischen und arabischen Flüchtlinge in die deutsche Gesellschaft passen.

Bald drohen Enttäuschung und Zorn

Nun gilt es, mit den Folgeschäden des deutschen „Tugendimperialismus“ fertig zu werden, dem nach ein paar Wochen medial geschürter Erregung langsam die Puste ausgeht. Selbst Menschen, die das anfängliche Wohlgefühl genossen, dämmert es mittlerweile, dass nach der Verteilung von Äpfeln und gebrauchten Kleidungsstücken die eigentlichen Probleme erst beginnen. Der herzliche Empfang, der den Füchtlingen vom „hellen Deutschland“ bereitet wurde, könnte rasch vergessen sein, wenn sich unter den vielen jungen Männern Enttäuschung und Zorn breit machen, sollten sich ihre Erwartungen nicht erfüllen. Gewiss, Deutschland braucht dringend mehr Zuwanderer, weil die Deutschen selbst nicht mehr genug Nachwuchs zeugen; mit einem ähnlichen Dilemma sind die meisten Nationen des Westens konfrontiert, selbst die Vereinigten Staaten, wo die Geburtenrate sich langsam der europäischen annähert.

Aber eine hoch entwickelte Industrie­na­tion wie Deutschland kann es sich nicht leisten, die Frage der Einwanderung rein numerisch zu beantworten. Es wird sehr wohl darauf ankommen, wen genau man hereinlässt: wie gut die Einwanderer ausgebildet und wie fähig und bereit sie sind, sich in ihre neue Heimat zu integrieren. Viele der vor allem von ökonomischen Motiven getriebenen Migranten aus ­Afrika, die über Libyen nach Europa gelangen, sind geringqualifiziert und werden es bei der Arbeitsuche nicht leicht haben. Das Gleiche gilt für viele der überwiegend jungen Männer aus Syrien und dem arabischen Raum, die ungeduldig an die Tore Europas pochen. Wer aber keine oder schlechte Aussichten hat, seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, der muss fortan von den Sozialsystemen der europäischen Länder versorgt werden, was angesichts der hohen Verschuldungsquoten und überforderter Sozialhaushalte durchaus problematisch ist.

Von Beginn an war die Begeisterung der europäischen Völker nicht so groß, wie es die blumigen Europabekenntnisse der Regierenden suggerierten. Der Höhepunkt der europäischen Integrationsbewegung wurde spätesten vor zehn Jahren überschritten, als mit Frankreich und den Niederlanden zwei der Gründungsmitglieder der EU in Volksabstimmungen mit deutlicher Mehrheit den Plan ablehnten, eine europäische Verfassung zu schaffen, die den Prozess der Integration zementieren und letztlich unumkehrbar machen sollte.

Nun sind quer durch Europa zusätzliche Risse aufgetreten. In der Schulden- und Finanzkrise offenbarten sich die tiefen Gegensätze zwischen den ­Nationen, die bereit sind, wie widerwillig auch immer, Austerität und Sparen als notwendig zu akzeptieren, wohl wissend, dass man, kollektiv betrachtet, über die Verhältnisse gelebt hatte. Bei den Völkern des europäischen Südens war und ist diese Einsicht weniger häufig anzutreffen, wobei Frankreich mit seinem Etatismus irgendwo in der Mitte liegt. In der Flüchtlingskrise trat der Gegensatz zwischen dem Norden und dem Osten in erstaunlicher Schärfe hinzu. Ungarns Premierminister Viktor Orbán verstößt mit seinen Äußerungen zur Flüchtlingskrise und der Ablehnung von Einwanderern aus muslimischen Ländern gegen die Sensibilitäten des Nordens.

Was passiert, wenn Ägypten kollabiert?

Doch sollte man sich in Berlin, Stockholm oder Den Haag nichts vormachen: Die jungen Demokratien Osteuropas und des Balkans, allesamt recht homogene Staaten, sind derzeit weder sozial noch ökonomisch in der Lage, große Mengen an Flüchtlingen aufzunehmen und zu integrieren – anders als die wohlhabenderen und stabileren Staaten West- und Nordeuropas. Aber auch diese Länder können angesichts der Dimensionen der Völkerwanderung und der eigenen ungelösten ökonomischen und finanziellen Probleme überfordert werden. Eine plötzliche Wende zum Schlechteren, etwa der Kollaps bislang noch einigermaßen stabiler Staaten wie Tunesien oder Ägypten würde selbst den hilfsbereiten, reichen Norden überfordern. Allein Ägypten hat heute schon 90 Millionen Einwohner.

Die EU benötigt deshalb dringend eine kohärente Asyl- und Einwanderungsstrategie, die aus drei Komponenten bestehen sollte. Der erste Bestandteil ist „Mitgefühl“, das heißt Hilfe für die Menschen in der größten Not; der zweite Bestandteil ist Rea­lismus, das heißt die Verstärkung und Kontrolle der Außengrenzen der EU, um den Zustrom einzuschränken; drittens ist eine langfristige Strategie vonnöten, die auch eine militärische Komponente umfassen muss, weil sich nur so die Verhältnisse, die Wanderungen auslösen, vor Ort ändern oder verhindern lassen. Letzteres dürfte schwer zu erreichen sein, weil sich Europa nach dem Ende des Kalten Krieges allzu wohlig der Illusion des postmodernen Paradieses hingegeben hat.

Zugleich bedarf es des kollektiven Willens der Europäer, ihre Grundwerte und demokratischen Freiheiten gegen ihre tödlichen Feinde zu verteidigen. Dies sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, die aber vor dem Hintergrund des im kulturell-intellektuellen Milieu weit verbreiteten moralischen Relativismus und der „Kultur des westlichen Selbsthasses“ nicht mehr vorausgesetzt werden kann.

Angesichts der tiefen europäischen Uneinigkeit über die richtige Antwort auf die Herausforderung des Jahrhunderts fällt es nicht leicht, optimistisch zu bleiben.

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