Der transatlantische Moment

Die nächsten ein bis zwei Jahre entscheiden darüber, auf welchem Fundament das Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten in den kommenden Jahrzehnten stehen wird. Entscheidend ist, ein an Problemlösungen orientiertes Verhältnis zu schaffen

Mehr noch als das große Themenfeld „Europa“ sind die transatlantischen Beziehungen das Kronjuwel der deutschen Außenpolitik. In keinem Politikbereich offenbart sich die historische Schicksalsfrage der Westbindung Deutschlands so klar. Kein Bereich der Außenpolitik ist so emotional aufgeladen. Und kein Thema berührt so sehr die Frage nach uns selbst und unserem Weltbild.

In ähnlicher Form gilt das für alle europäischen Staaten. Es ist von gesamteuropäischer Bedeutung, dass die Umbruchphase in den transatlantischen Beziehungen, die mit dem Ende des Kalten Krieges begann und in der tiefen Entfremdung der Irak-Krise ihren Höhepunkt fand, dieser Tage zu Ende geht. Derzeit erleben wir einen „transatlantischen Moment“, in dem wir über die grundlegende zukünftige Gestalt der neuen transatlantischen Beziehungen entscheiden müssen und können. Erste Umrisse dieses neuen Verhältnisses, das mit der alten Liebe vergangener Tage nicht mehr viel zu tun haben wird, zeichnen sich bereits ab. Doch wohin geht die Reise?

Der transatlantische Moment ergibt sich aus vier Faktoren: Erstens ist die jeweils andere Seite von großem Nutzen. Die Vereinigten Staaten bleiben die einzige Kraft, die zur weltweiten Machtprojektion fähig ist. Jedoch haben sie erheblich an Vertrauen und Glaubwürdigkeit eingebüßt, also an den eigentlich entscheidenden Waffen im Arsenal einer jeden Ordnungsmacht. Das hat die Regierung Bush nach einer langen Phase der Realitätsverweigerung endlich erkannt, wie die Entspannung im Verhältnis zu den Europäern, ihre stärker multilaterale Grundhaltung und ihre konstruktivere diplomatische Rolle im Nahen Osten deutlich zeigen.

Umgekehrt hat Europa großes Interesse daran, dass Amerika seine Ordnungsrolle im anarchischen internationalen System wieder konstruktiv und effizient ausfüllt – eine Rolle, die Europa selbst nicht einzunehmen versteht. Um die Ordnungsrolle zu erfüllen, benötigen die Vereinigten Staaten europäische Hilfe. Diese Unterstützung erhalten sie selbstverständlich nur, wenn die Europäer im Gegenzug an der strategischen Planung beteiligt werden. Kurzum: Ohne Europa können die Vereinigten Staaten keine Ordnungsmacht sein; und ohne die Vereinigten Staaten – das muss auf dieser Seite des Atlantiks, vor allem in Frankreich, endlich begriffen werden – kann Europa keinen entscheidenden außenpolitischen Einfluss ausüben. Deshalb besteht derzeit die größte Chance der vergangenen fünf Jahre darin, sich auf Gemeinsamkeiten zu besinnen, statt nutzlos über die Verirrungen und Schwächen der jeweils anderen Seite zu lamentieren.

Die Zeit der Schadenfreude ist vorbei

Zweitens: Bei nüchterner Betrachtung verfolgen die transatlantischen Partner hinsichtlich der drängenden internationalen Fragen die gleichen Interessen. Das gilt für den Klimawandel ebenso wie für den Welthandel, für den Kampf gegen den Terrorismus genauso wie für den Frieden im Nahen Osten. Es gilt für den Irak, wo die Zeit der europäischen Schadenfreude und Rechthaberei endgültig beendet ist, für Afghanistan und den Iran, für die Frage der Energiesicherheit, für die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, für den Umgang mit China und für die UN-Reform. Selbstverständlich wird bei all diesen Themen lebhaft über den richtigen Weg gestritten werden. Dieser Streit wird aber konstruktiv und fruchtbar sein, sofern er am gemeinsamen Grundinteresse ausgerichtet ist. Diese fundamentale Erkenntnis ist im Trümmerstaub des Irak und im Nebel der Kyoto- und Strafgerichtshofdebatten aus dem Blickfeld geraten.

Drittens wird die deutsche Außenpolitik endlich erwachsen. Nach 40 Jahren bequemer Bevormundung durch die Alliierten und der Abnabelungsphase seit 1998 ist das nicht einfach. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt und europäische Führungsmacht muss eine weltpolitische Haltung und einen dazu passenden intellektuellen Horizont entwickeln. Mit Hegemonialambitionen und einer Militarisierung der deutschen Außenpolitik hat dieses Bestreben nichts zu tun, sondern damit, eine nicht länger zu ignorierende Stellung in der Welt verantwortungsvoll wahrzunehmen.

Groteske Debatten über Totenschädel

Die Große Koalition scheint diese Rolle spielen zu wollen. Das zeigt sich in der bisher erfolgreichen EU-Ratspräsidentschaft, dem normalisierten Verhältnis zu Russland, dem deutschen Beitrag im Nahost-Friedensprozess, ganz besonders im wieder intakten Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und in der überraschend erfolgreichen transatlantischen Handelsinitiative der Bundeskanzlerin. Wie provinziell es allerdings oft noch zugeht, zeigt die groteske Debatte über deutsche Soldaten, die während eines Auslandseinsatzes Totenschädel in die Kamera hielten, oder die zähe Diskussion darüber, ob wir unsere Verbündeten in Südafghanistan unterstützen sollten. Es ist an der Zeit, das Erwachsenwerden voranzutreiben. Die transatlantischen Beziehungen sind der ideale Rahmen dafür.

Viertens fehlt der alten transatlantischen Elite in Deutschland der Nachwuchs. Große Atlantiker wie Helmut Schmidt, Manfred Wörner und Otto Graf Lambsdorff sind längst abgetreten. Auch ihre Nachfolger wie Volker Rühe, Hans-Ulrich Klose oder Rudolf Scharping, die in Washington ebenfalls Türen öffnen konnten, stehen kurz vor dem Ruhestand. Dahinter klafft, mit Ausnahme von Karsten D. Voigt, eine Lücke, die Außenpolitiker wie Rolf Mützenich, Karl-Theodor zu Guttenberg oder Niels Annen noch nicht schließen können. Dabei ist die Außenpolitik in Deutschland von einem Randthema zu einem der entscheidenden Handlungsfelder geworden. Die Politik über den Atlantik hinweg ist darin das entscheidende Teilgebiet, das starke Leitfiguren benötigt. Es sind noch Plätze zu vergeben.

Ganz obenan steht der Iran

Wenn der Zeitpunkt also besonders günstig ist, wie kann dann der transatlantische Moment tatsächlich genutzt werden? Wie in jeder politischen Partnerschaft kommt es auch im transatlantischen Verhältnis auf den Beitrag an, den die Partner zur Lösung praktischer Probleme leisten können. Die akademischen und politischen Eliten Nordamerikas beispielsweise wenden sich derzeit verstärkt Asien zu, das große Märkte besitzt, aber voller Risiken steckt. Europa wird für die Vereinigten Staaten nur dann als Partner interessant bleiben, wenn es Lösungsvorschläge entwickelt und an deren praktischer Verwirklichung aktiv mitwirkt. Europa kann nicht länger die bequeme Rolle des Kritikers spielen, der – ohne Verantwortung zu übernehmen – gute Ratschläge erteilt und die von amerikanischer Seite garantierte Sicherheit und Freiheit genießt. Denn an drängenden politischen Problemen herrscht wahrlich kein Mangel.

Ganz obenan steht dabei der Iran. Nachdem die Vereinigten Staaten dem europäischen Drängen auf mehr Diplomatie nachgegeben haben, muss Europa seinen beträchtlichen wirtschaftlichen Einfluss auf das Land nun tatsächlich ausüben. Deutsche und italienische Firmen sind die größten europäischen Investoren im Iran. Zwar schmerzen Investitionsstopps und eingefrorenes iranisches Kapital auch uns, im Vergleich zu einem Iran mit Nuklearwaffen sind diese Schmerzen aber zu vernachlässigen. Zudem müssen die Europäer amerikanische Bemühungen unterstützen, China und Russland beim Thema Iran mit an Bord zu holen. Ein europäischer Beitrag sollte jedoch zu Ende gedacht werden: Die Europäer müssen sich entscheiden, ob sie dem Iran im Ernstfall auch militärisch begegnen würden.

Eine weitere gemeinsame Herausforderung ist der israelisch-palästinensische Konflikt. Hier ist ein politischer Plan gefragt, mit dem die schwierigen Fragen – Gründung eines Palästinenser-Staates, Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, die Hauptstadtfrage, die Verbindung zwischen der Westbank und Gaza – gleich zu Anfang gelöst werden und nicht, wie in Oslo vorgesehen, erst ganz am Schluss. Beide Parteien müssen große Kompromisse eingehen. Israel wird die notwendigen Konzessionen nicht machen, ohne dass ihm die Vereinigten Staaten Sicherheit garantieren. Die Palästinenser wiederum werden Israel nicht entgegenkommen, ohne politische, finanzielle und wirtschaftliche Zusagen der Europäer erhalten zu haben, denen sie mehr vertrauen als den Amerikanern. Wieder brauchen die transatlantischen Partner einander, um erfolgreich zu sein.

Agrarsubventionen als Hindernis

Auch das Thema Welthandel, bei dem es um die viel beschworene „Gestaltung der Globalisierung“ geht, erfordert enge Zusammenarbeit. Dabei sind die WTO-Verhandlungen der wichtigste Baustein. Das Haupthindernis für eine Einigung sind die europäischen und amerikanischen Agrarsubventionen. Hier sind besonders die Europäer unter Zugzwang: Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU muss dringend reformiert werden, um Erzeugern in Drittländern nicht durch künstlich gesenkte Preise für EU-Erzeugnisse den Marktzugang und somit die Chance auf Entwicklung und Wachstum zu erschweren. Doch auch die amerikanische Regierung und vor allem der zum Protektionismus neigende Demokratische Kongress brauchen Mut, um den US-Farmern ihre süßen Vergünstigungen zu nehmen. Wie schwer diese Reformen auch sein mögen: Die Chancen auf eine gerechtere Globalisierung liegen in der Hand der transatlantischen Partner.

Ein zentrales gemeinsames Thema ist schließlich auch Afghanistan. Dort steht und fällt nicht nur die Rechtfertigung für den diffusen „Kampf gegen den Terror“. In Afghanistan entscheidet sich zudem die Frage, ob die transatlantische Gemeinschaft in der Lage ist, Stabilität und Sicherheit nötigenfalls auch mit militärischen Mitteln zu exportieren. Die Nato ist also zum Erfolg verdammt. Eine Niederlage hätte nicht nur die weitere Ausbreitung des globalen Terrornetzwerks zur Folge, sondern würde auch das verheerende Signal eines unentschlossenen und handlungsunfähigen Westens aussenden. Bin Laden, das Taliban-Regime, Nordkorea und der iranische Präsident Ahmadinedschad würden dieses Versagen genau zur Kenntnis nehmen. Ebenso hängt das Überleben der Nato als Institution mittlerweile entscheidend von ihrem Erfolg in Afghanistan ab. Um die Taliban zurückzudrängen, dürften allerdings größere militärische Anstrengungen ebenso nötig sein wie umfassende Maßnahmen für den zivilen Wiederaufbau. Das Kernproblem bleibt dabei die Abhängigkeit der lokalen Landwirtschaft vom Drogenanbau, die nur mit großen finanziellen Anstrengungen und Mut zum Risiko (beispielsweise mittels des Aufkaufens von Ernten) abgeschafft werden kann. Hinter alldem steckt eine Grundfrage, die für das transatlantische Verhältnis langfristig bestimmend sein wird: Wie kann ein gemeinsames Verständnis von Nation Building entwickelt werden?

Verbreitete Unkenntnis über Amerika

Die in Europa verbreitete Unkenntnis über die amerikanische Mentalität, das politische System der Vereinigten Staaten, das Staatsverständnis der Amerikaner, ihr Verhältnis zur Religion, ihre inneren Spaltungen und ihre Urängste sind ein wesentlicher Faktor für die Verschlechterung des transatlantischen Verhältnisses. Dabei sind die Vereinigten Staaten als prägende Kraft unserer Zeit der Resonanzboden für unser eigenes Selbstverständnis. Wer das transatlantische Verhältnis voranbringen will, muss sich daher mit den Vereinigten Staaten wieder vertrauter machen.

Diese Erkenntnis fällt uns nicht leicht, weil wir uns zu Unrecht einreden, Amerika gut zu kennen. So entsteht die „Enttäuschung“ über dieses Land. Abhilfe schafft: Studieren! Und natürlich: Hinfahren! Die Stärke der alten transatlantischen Garde war es, System und Mentalität der anderen Seite wirklich zu kennen und über eine Vielzahl von Kontakten zu verfügen, die den Zugang zu Institutionen und vorherrschenden Meinungsbildern ermöglichten. Es muss das strategische Ziel jedes Transatlantikers sein, solche Kontakte über den großen Teich hinweg herzustellen und zu pflegen.

Der lange Weg nach Westen – und zurück?

Den Deutschen wurde eine positive Einstellung zu Amerika nicht in die Wiege gelegt. Die Ablehnung angelsächsischer Wettbewerbsmodelle in Wirtschaft und Politik reicht weit in die deutsche Geschichte zurück. Erst der „lange Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) und die Bindung an Amerika führten die Deutschen in eine freiheitlich-demokratische Verfasstheit, führten zu friedlichen Beziehungen mit unseren Nachbarn, zu nachhaltigem Wohlstand – und zu Frieden mit uns selbst.

Wenig Glück hat Deutschland die romantische Affinität zu organischen und ständischen Staatsmodellen gebracht oder gar die Hinwendung zu autoritären, anti-liberalen Modellen, vor allem zu Russland, wie sie sowohl in konservativen als auch in links-utopischen Kreisen noch heute en vogue sind. Dennoch ist eine antiwestliche Grundeinstellung in Deutschland weiterhin virulent und bricht sich gelegentlich auch als Antiamerikanismus Bahn. Den konsensorientierten Deutschen ist der zugige Marktplatz der Ideen oft suspekt, der den Kern der westlichen Demokratie ausmacht. Auch das pessimistische Menschenbild, das der Gewaltenteilung und anderen Ausformungen des politischen Realismus zugrunde liegt, ist vielen nicht geheuer. Es ist nützlich, diesen Wesenszug der deutschen Politik im Hinterkopf zu haben, wenn man mit Amerikanern zu tun hat.

Europa steckt in der Krise, das ist ein Allgemeinplatz. Doch anders als häufig behauptet sind die gescheiterte Verfassung oder die unkontrollierbare Brüsseler Bürokratie nicht die Ursachen, sondern die Symptome dieser Krise. In Wahrheit ist sie das Produkt des mangelnden politischen Willens, gemeinsam Lösungen für praktische Probleme zu finden. Diesen Willen unter 27 Mitgliedsstaaten zu generieren, gehört zu den schwierigsten politischen Aufgaben überhaupt.

Einigkeit in Bezug auf die transatlantischen Beziehungen wird man nur erzielen können, wenn man sich von der Idee einer multipolaren Weltordnung mit Europa als Gegenmacht zu Amerika verabschiedet. Aufgrund der Interessenkonvergenz und gemeinsamer Werte kann eine solche systemische Konfrontation nur unter größten ideologischen Verrenkungen aufrechterhalten werden. Für eine Einigung Europas würde diese Strategie nicht taugen. Im Gegenteil, sie fiele auf Europa zurück.

Wer sonst steht uns so nahe wie Amerika?

Der transatlantische Moment ist gekommen. Die nächsten ein bis zwei Jahre entscheiden darüber, auf welchem Fundament das europäisch-amerikanische Verhältnis der nächsten Generation stehen wird. Entscheidend wird dabei sein, die transatlantischen Beziehungen von Sentimentalität und Animosität zu befreien und ein enges funktionales, an Problemlösungen orientiertes Verhältnis zu erreichen. Für Europa bedeutet das, Verantwortung zu übernehmen, auch wenn es weh tut. Amerika hingegen muss den natürlichen Partner Europa zum Stakeholder in der Weltordnungspolitik machen. Wer dies anders sieht, muss die Frage nach den Alternativen beantworten: Wer, wenn nicht die transatlantischen Partner, kann glaubwürdig liberale, freiheitliche und rechtsstaatliche Lösungen erreichen? Wer, wenn nicht die Vereinigten Staaten, steht uns so nahe? Und bei wem sonst ist die Chance auf Verständigung und auf Verständnis so groß?

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