Der Hass und die Selbstlähmung

Vor ihrem Parteikongress im November präsentieren sich die französischen Sozialisten in kläglichem Zustand. Während sich die Führungsfiguren gegenseitig blockieren, erwarten Basis und Anhänger ernsthafte Oppositionsarbeit - einstweilen vergeblich

Im September, zeitgleich zur rentrée, der Wiederaufnahme des politischen Tagesgeschäfts nach der Sommerpause, beginnt in Frankreich auch die Jagdsaison. Diese Parallele ist nicht ohne Charme. Fallen stellen, Treibjagden organisieren, in den Rücken schießen – beileibe nicht nur in Deutschland haftet der innerparteilichen Politik seit jeher etwas Waidmännisches an. Eine Demonstration der ganzen Breite des Handwerks darf man in den kommenden Monaten auch von der französischen Parti Socialiste (PS) erwarten. Mitte November wird auf dem Parteitag in Reims der Vorsitz der Partei neu bestimmt. Die Stimmung ist entsprechend: Mit „La Haine“ („Der Hass“) überschrieb vor kurzem Jacques Juillard, Chronist beim Nouvel Observateur einen Beitrag zum Klima in der Führungsspitze der PS.

Die zu erwartenden harten Auseinandersetzungen treffen eine Partei, die nicht genau weiß, wie sie sich fühlen soll. Auf der einen Seite ist die Doppelniederlage von 2007 bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen noch unverdaut. Eine ernsthafte kollektive Auseinandersetzung mit den Gründen der Niederlagen hat es bisher nicht gegeben. Auch die Bilanz der Oppositionsarbeit ist keineswegs überwältigend: Über weite Teile des abgelaufenen Jahres war die Partei vor allem mit sich selbst beschäftigt. In der Auseinandersetzung mit der Politik Nicolas Sarkozys ist eine einheitliche Linie nicht zu erkennen. Das Publikum erlebt einen vielstimmigen Chor ohne Dirigenten, in dem jeder der Tenöre nach seiner eigenen Partitur singt.

Auf der anderen Seite waren die Ergebnisse der Wahlen 2007 so katastrophal auch wieder nicht. Anderen sozialdemokratischen Parteien geht es deutlich schlechter. Die Kommunalwahlen 2008 brachten einen klaren Sieg nicht nur in den Großstädten, sondern auch in den Regionen. Rund 60 Prozent aller öffentlichen Investitionen Frankreichs werden von Politikern der PS verwaltet. Das öffentliche Image Nicolas Sarkozys und seiner Regierung ist im Keller, und dies bereits bevor die Folgen der sich abkühlenden Weltwirtschaft vollständig spürbar geworden sind. So erscheint die Lage der Partei immerhin besser, als man vor einem Jahr befürchten musste. Der abtretende Parteichef Francois Hollande hinterlässt eine Baustelle, aber keine Ruine.

Kampf um die Baustellenleitung

Um die künftige Baustellenleitung ist ein offenes Rennen entbrannt, das sich bis Mitte November hinziehen wird. Die Phase droht schmerzhaft zu werden. Die wichtigsten Kandidaten trennt ideologisch wenig. Gerade deswegen befürchten viele Beobachter eine hässliche Kampagne: Zwangsweise wird es nicht um Inhalte, sondern um Personen gehen. Die aussichtsreichsten Kandidaten sind Segolène Royal sowie der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoe. Beide sind Vertreter der Parteimitte, beide gelten als potenzielle Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2012. Ein Sieg des einen oder der anderen würde eine gewisse Weichenstellung bedeuten. Genau das wollen Francois Hollande wie Dominique Strauss-Kahn verhindern. Beide hoffen, 2012 selbst zum Zuge zu kommen. Auch eine jüngere Generation versucht, die Festlegung auf einen der beiden „Präsidentiablen“ im Moment zu verhindern. Als mögliche Generalsekretäre ohne Ambitionen für 2012 präsentieren sich der Strauss-Kahn-Vertraute Pierre Moscovici und Martine Aubry, die in den vergangenen Monaten ein Comeback gefeiert hat. Nicht auszuschließen ist, dass am Ende ein Kompromisskandidat das Rennen macht, etwa der Fraktionsvorsitzende Jean-Marc Ayrault.

Nur noch ein Verbund politischer Ich-AGs?

Die Umfragen lassen keine Aussage darüber zu, wer im November gewinnt. Entscheidend werden Francois Hollande und die mitgliederstarken Regionalverbände sein. Die Regionalbarone sind sich noch nicht darüber im Klaren, ob sie überhaupt an einer starken Führung Interesse haben. Schon macht das Gespenst des „Kommunalsozialismus“ die Runde: die Selbstbeschränkung der Linken auf eine – möglichst erfolgreiche – kommunale Politik, während die nationalen politischen Institutionen Frankreichs, wie über weite Teile des vergangenen Jahrhunderts, fest in der Hand der Rechten bleiben würden.

Pessimistische Beobachter sind ohnehin der Meinung, dass der Ausgang der Wahl an der Krise der Partei wenig ändern wird. In ihren Augen ist die PS keine wirklich strukturierte Partei mehr, sondern – zumindest auf der Führungsebene – ein loser Verbund politischer Ich-AGs. Die PS steckt in einem tiefen Dilemma: Klärt sie ihre Führungsfrage nicht, wird sie auch nicht in der Lage sein, ein schärferes inhaltliches Profil zu entwickeln. Doch eben diese Klärung der Führungsfrage versucht ein Teil der Parteispitze zu verhindern. Der Preis dieser verfahrenen Lage ist hoch: Fast zwei Drittel der Franzosen sind zurzeit der Meinung, die PS besitze kein Konzept für die Zukunft Frankreichs.

Ähnlich komplex ist die Frage der
ideologisch-programmatischen Erneuerung. Mit der Verabschiedung neuer „Grundprinzipien“ wurde hier im Frühjahr ein konstruktiver Schritt getan. Darin wird explizit formuliert, was ohnehin niemand ernsthaft bezweifelte: dass die PS eine „reformistische Partei“ ist. Sie sieht sich dem Ideal einer demokratischen Gesellschaft in der Tradition der Aufklärung und der französischen Revolution sowie dem Konzept einer „sozialen und ökologischen Marktwirtschaft“ verpflichtet. Interessanter an den „Prinzipien“ ist, was nicht in dem Dokument steht: Fast alle wirklich schwierigen Themen wurden ausgeklammert.

Wie gering der ideologische Zwist innerhalb des Mainstreams der Partei ist, zeigen auch die schriftlichen Beiträge für den Parteitag. Für Reims wurden nicht weniger als 20 verschiedene contributions eingereicht. Mit Ausnahme des Textes vom linken Flügel (der explizit vor einer Imitation von New Labour und Neue-Mitte-SPD warnt) fällt es schwer, große Unterschiede zu finden. Die Differenzen sind taktischer Natur. Die Wählerbasis der PS bewegt sich bei etwa 30 Prozent, was ebenso zu Allianzen zwingt wie die Logik des französischen Mehrheitswahlrechts. Mit wem soll die PS Allianzen suchen: mit einem „Zentrum“, das es schwer hat, sich politisch zu etablieren, oder mit den Parteien und Gruppen links von der PS? Diese hatten sowohl Francois Mitterand als auch Lionel Jospin – als Premierminister – zur Macht verholfen. Dagegen ist das „Zentrum“, auf das Royal im Jahr 2007 zu setzen versuchte, machtpolitisch bisher eher eine Schimäre geblieben.

Sarkozy hat wenig zu befürchten

In Umfragen, in der „Blogosphäre“ des Internets sowie in Leserbriefen kommt eine enorme Frustration über die Selbstlähmung der Partei zum Ausdruck. Basis und Anhänger erwarten, dass die PS endlich anfängt, ihre Rolle als Opposition ernsthaft zu spielen und Alternativen zu Sarkozys Kurs zu präsentieren. Diese Stimmung könnte am ehesten Segolène Royal zugute kommen: Sie hat früh begonnen, sich als harte Kritikerin Sarkozys zu positionieren. Man sollte die Komplexität der Aufgabe aber nicht unterschätzen. Zwar ist die persönliche Popularität Sarkozys im Moment angeschlagen. Dennoch finden die meisten seiner politischen Initiativen die Zustimmung einer Mehrheit der Franzosen, gerade auch der einfachen Arbeitnehmermilieus. Sarkozys große Achillesferse ist die wirtschaftliche Entwicklung. In allen anderen Fragen hat er gegenwärtig von der PS wenig zu fürchten.

Je länger die Selbstbeschäftigung der PS dauert, desto realer wird zudem eine andere Gefahr. Zurzeit wird in Frankreich der Versuch unternommen, die deutsche „Linke“ zu imitieren; sozioökonomische Frustrationen sollen an der PS vorbei nach links kanalisiert werden. Das linkssektiererische Spektrum soll unter Führung des milieuübergreifend beliebten Linkspopulisten, Trotzkisten und Briefträgers Olivier Besancenot in einer neuen „antikapitalistischen“ Partei vereint werden. Im Januar 2009 soll die Partei gegründet werden, bei den Europawahlen 2009 soll sie erstmals antreten. Untersuchungen im Auftrag der PS zeigen, dass das Wählerpotenzial solch einer Partei nicht gering wäre – und dass ihr Erfolg zu Lasten der PS gehen würde. Spätestens dann sollte die Phase der Selbstbeschäftigung der PS zu Ende gehen.

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