Demokratie oder Autoritarismus? Die Republik am Scheideweg

Viel spricht dafür, dass es sich bei den vergangenen zehn Jahren bloß um ein Interregnum handelte und dass die eigentliche Zeit der Berliner Republik erst jetzt beginnt. Auf jeden Fall bleibt viel Arbeit zu tun - gerade auch für diese Zeitschrift

Als vor gut zehn Jahren die Regierung Schröder in die alte und neue Hauptstadt umzog, hätte wohl niemand geahnt, wo die neue Berliner Republik ein Jahrzehnt später stehen würde. Zu sehr strahlte damals, am Anfang des neuen Jahrhunderts, ganz Europa im Glanze seiner Sozialdemokratie – ob in Frankreich unter Jospin, in England unter Blair oder in Italien unter Prodi. Und Deutschland machte da keine Ausnahme, im Gegenteil: Zur Halbzeit seiner ersten Legislaturperiode wurde Gerhard Schröder beim Uno-Millenniums-Gipfel gar vom früheren amerikanischen Außenminister Henry Kissinger als „Weltstaatsmann“ des Jahres 2000 geehrt.

Doch tempi passati! Was danach folgte, ist Geschichte – nämlich die Agenda 2010 und damit der Absturz, erst in die Niederungen der deutschen Parteipolitik und dann auf ein historisches Tief. Mit 23 Prozent der Stimmen bei der letzten Bundestagswahl ist die deutsche Sozialdemokratie heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Macht man sich zudem bewusst, dass vor exakt einem Jahrzehnt der Spendenskandal der Union seinen Höhepunkt erreichte – am 10. April 2000 wurde Kohls „Mädchen“ Angela Merkel neue CDU-Parteivorsitzende –, erscheinen die Veränderungen der vergangenen zehn Jahre fast unbegreiflich. Immerhin sah damals selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Union „um den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit gekommen“.

Tatsächlich ging das „System Kohl“ weit über den einstigen Patriarchen hinaus. So hatte speziell die hessische CDU des damals frisch gewählten Ministerpräsidenten Roland Koch mit unsäglicher Unverfrorenheit schwarze Konten als Spenden „deutschstämmiger jüdischer Emigranten“ deklariert. Dass der Saubermann und „brutalst mögliche Aufklärer“ an der Spitze des hessischen CDU-Kampfverbandes heute immer noch (und erneut ziemlich unangefochten) das Bundesland regiert, ist gerade vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten beiden Jahre eine besonders bittere Ironie der Geschichte.

Für die Zukunft der Bundesrepublik wirft die historische Krise der Sozialdemokratie die Frage auf, womit wir es während der letzten zehn Jahre unter sozialdemokratischer Führungsbeteiligung überhaupt zu tun hatten. Nicht weniges spricht dafür, dass es sich dabei bloß um ein Interregnum handelte und dass die eigentliche Zeit der Berliner Republik erst jetzt beginnt – und zwar in deutlicher Absetzung von den einstigen Bonner Verhältnissen. Die Bonner Republik war nämlich nicht nur durch eine gewachsene Bipolarität nach außen (im Spannungsfeld des Kalten Krieges), sondern auch nach innen gekennzeichnet. Der jeweiligen Regierung stand stets, nach der alten Links-Rechts-Ordnung, eine Opposition als taugliche Regierungsalternative gegenüber. Aufgrund der Krise der SPD fehlt es derzeit an dem notwendigen Gegenpol zur CDU als alt-neuem Kanzler(innen)wahlverein. Stattdessen entwickelt sich das deutsche Parteiensystem zu einem System neuen Typs, in dem zwei angeblich „bürgerliche“, aber vor allem stets koalitionsbereite Parteien (FDP und Grüne) um die Union als schwarze Sonne der Macht und letzte zu einer kleinen Koalition befähigten Volkspartei kreisen. Gelingt es der SPD bis 2013 nicht, anders als bei der vergangenen Wahl mit einer eigenen inhaltlichen und koalitionären Regierungsalternative jenseits der Großen Koalition aufzuwarten, dürfte sich diese Verschiebung zugunsten der Union weiter verstärken.

Wie kommt die SPD  wieder auf Augenhöhe mit der Union?


Tatsächlich ist derzeit jedoch in keiner Weise absehbar, ob und wie es die SPD schafft, wieder auf Augenhöhe mit der Union zu gelangen. Nach dem „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ (Ralf Dahrendorf) am 9. November 1989 hat das neue sozialdemokratische Projekt für dieses Jahrhundert offensichtlich noch keine Konturen gewonnen. Mehr noch: Es stellt sich die Frage, wie die Berliner Republik der zweiten großen Dahrendorfschen Prognose für das 21. Jahrhundert begegnen kann – nämlich der Entwicklung hin zu autoritären Regimen. Der Blick über den deutschen Tellerrand zeigt, dass diese Entwicklung in vollem Gange ist. Ob in China, Russland, aber auch in den USA und Europa (man denke nur an das Beispiel Italien) – in sämtlichen Regionen der Welt hatten wir es nach dem demokratischen Aufbruch von 1989 in den vergangenen zehn Jahren, unter dem legitimatorischen Label der Terrorbekämpfung, mit einem Abbau rechtsstaatlich-demokratischer Errungenschaften und mit neo-imperialen Tendenzen zu tun. Fast ist man geneigt, gerade nach dem Scheitern von Kopenhagen, von einem Ende des Multilateralismus und einer Entwicklung zu einer neuen „Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ im Sinne Carl Schmitts zu sprechen. Das bedeutet: Einzelne regionale Hegemonialmächte regieren in ihrem Einzugsbereich ganz nach ihrer Fasson und ohne internationale Kontrolle auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Soziale Demokratie als europäisches Projekt – oder gar nicht

Dieser autoritäre Zug nach außen hat jedoch stets auch Rückwirkungen nach innen. Er befördert starke, populistisch agierende Führungsfiguren und damit letztlich auch den post-demokratischen Demokratieabbau. Für die Sozialdemokratie käme es deshalb darauf an, Dahrendorfs Skeptizismus zu widerlegen – und einen anderen, sozial-ökologisch-demokratischen Weg zu formulieren. Angesichts der globalen Herausforderungen ist dies heute nur auf europäischer Ebene möglich. Hier vor allem wird sich die SPD zu bewähren haben. Das wäre ein Projekt, das die bewährten Traditionen der Bonner in der Berliner und sogar in der Brüsseler Republik fortleben ließe.

Noch steht allerdings in den Sternen, ob es gelingt, die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert als europäisches Projekt zu reformulieren, um der konservativ-reaktionären Hegemonie überzeugend Paroli zu bieten, oder ob auch Europa auf den autoritär-autokratischen Weg einschwenken wird. Es bleibt also viel Arbeit für die „Berliner Republik“ – sowohl in ihrer großen als auch in ihrer kleinen Form. «

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