Das Weird-Weltbild führt in die Irre

Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt plädiert für eine offenere und dialogischere politische Kultur. Gerade Linke sollten seine Mahnung ernst nehmen

Fehlt es der Linken an Einfühlungsvermögen in das Wertesystem der Mehrheit der Bevölkerung? Dies ist die Grundthese, die der an der University of Virginia lehrende Sozialpsychologe Jonathan Haidt in seinem Buch The Righteous Mind entwickelt. Bezogen auf die Vereinigten Staaten heißt seine Formel schlicht: „Republikaner verstehen Moralpsychologie, Demokraten nicht.“

Ausgangspunkt der Argumentation ist die Beobachtung, dass die rein sozio-ökonomischen Interessenableitungen, die nach dem klassischen linken Politikverständnis vor allem Wähler aus den Unter- und unteren Mittelschichten dazu bringen müssten, linken Parteien den Vorzug zu geben, in der Praxis nicht funktionieren. Arbeiter, einfache Angestellte und diverse Gruppen der unteren Mittelschichten wählen nicht annähernd so links wie es aus linker Sicht „rationalerweise“ zu erwarten wäre. Haidt versucht, dieses Paradox durch eine moralpsychologische Interpretation von politischem Verhalten zu ergründen.

Die Werteordnung der Linken ist zu eng

Seine Erklärung basiert auf einer moralischen Theorie sozialen und politischen Verhaltens. Politisches Verhalten ist nicht rational oder erkenntnisbasiert. Es ist vielmehr überdeterminiert – wie das menschliche Verhalten und Denken generell – durch intuitive, emotionale Urteile. „Sachargumente“ konstruiert das Gehirn quasi ex-post, um das primäre emotionale Urteil zu unterstützen. Diese emotionalen Urteile wiederrum sind moralischer Natur. Die Werteordnung der meisten Gesellschaften der Erde, so Haidt, basiert auf sechs moralischen Grundlagen, um die normative Werte- und Tugendkonzepte entwickelt werden: Fürsorge, Fairness, Freiheit, Loyalität, Autorität und Reinheit. Haidt versucht, für die Bedeutung jedes einzelnen dieser Punkte eine evolutionstheoretische und sozialpsychologische Begründung zu liefern.

Dabei verwendet er ein Evolutionskonzept, bei dem, in Anlehnung an Charles Darwin, nicht nur individuelle Selektion (genetisch weitergegebenes „survival of the fittest“) als Faktor determinierend ist, sondern eben auch „group selection“: Die Überlebens- und Reproduktionsfähigkeit von Menschen wird auch vom Schicksal der Gemeinschaft mitbestimmt, der sie angehören. Gruppenstärkendes Verhalten ist daher eine wesentliche Determinante erfolgreicher Selektionsstrategien. Gruppenbezogene Werte sind zentrale Elemente moralischer Ordnungen in allen Kulturen.

Haidt zufolge beginnt an dieser Stelle das Problem der Linken beziehungsweise der amerikanischen „liberals“. Deren ideologisches Weltbild – Haidt benutzt den Begriff der „WEIRD ideology“ (Western, Educated, Industrial, Rich, Democratic) – ist vergleichsweise eng und wird von drei Werten dominiert: einem starken Verlangen nach individueller Freiheit und Autonomie, einer auf den Aspekt der (relativen) ökonomischen Gleichheit zentrierten Vorstellung von Gerechtigkeit und einem Bekenntnis zu Solidarität mit den vermeintlich Schwächeren. Wo auch immer diese Schwächeren zu finden sein mögen: Die Fürsorglichkeit der Mittelschichts-Linken der westlichen Welt hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts ja ganz verschiedenen Gruppen zugewandt; das einheimische Proletariat zählt, weil reaktionär und undankbar, nur noch bedingt dazu.

Der Mensch ist ein Gruppenwesen

Die Fixierung auf diese Werte ist relativ einseitig: Andere moralische „Grundelemente“ werden kaum respektiert. Hierin unterscheidet sich der Linke vom Konservativen: Dessen Wertesystem ist breiter und umfasst, in der einen oder anderen Form, eben auch die gruppenbezogenen Grundelemente des Moralsystems. Es ist diese Breite des moralischen Angebotes, die konservative Parteien für Wähler aus sozial schwächeren Milieus attraktiv macht. Die Konservativen befriedigen Bedürfnisse, die das Wertesystem der Linken ignoriert oder stigmatisiert.

Ob Haidts Buch wirklich, wie William Saletan in der New York Times schreibt, „ein bahnbrechender Beitrag zum Selbstverständnis der Menschheit“ ist, sei dahingestellt, Urteile dieser Größenordnung traut sich der Autor dieser Besprechung nicht wirklich zu. Aber eine intellektuelle Bereicherung ist es allemal: Haidt schöpft für seine Argumentation aus einer Vielzahl von Disziplinen und empirischen Erkenntnissen, von der Philosophie über die Sozialpsychologie, die Verhaltensforschung, die Evolutionstheorie und die Soziologie bis hin zur Gehirnforschung. Und als Provokation für die Selbstgefälligkeit des etablierten linksliberalen Weltbildes – we are the good guys – ist das Buch hoch willkommen. Denn Haidt sagt ja nichts anderes, als dass nicht diejenigen die Engstirnigen sind, die wir dafür halten. Allein der Umstand, dass das Buch Fragen nach Grenzen, Selbstgerechtigkeit und Borniertheit der linksliberalen Debatten- und Milieukultur zu stellen erlaubt, macht es schon nützlich.

Aber die entscheidende Frage ist natürlich eine andere: Was folgt daraus? Haidt schließt sein Buch mit einem Plädoyer für eine offenere, dialogwilligere politische Kultur, die liberale und konservative Argumentationsketten als gleich wichtige Herangehensweisen für die Lösung von politischen Herausforderungen akzeptiert und – Yin und Yang – synergetisch miteinander verknüpft. Das ist nett, hat viel mit der Dichotomisierung der amerikanischen Innenpolitik zu tun, aber widerspricht in Teilaspekten Haidts eigener Argumentation.

Für die interne linke Debatte muss es um etwas anderes gehen. Die Frage ist, ob es uns gelingen kann, die Beschränkungen des „WEIRD-Weltbildes“ zu überwinden und uns weltanschaulich-programmatisch so zu positionieren, dass wir auch für moralisch breiter angelegte Bevölkerungsgruppen politisch wieder attraktiver werden – und dazu zählen eben sehr viele soziale Gruppen, deren Interessen zu vertreten die Linke nach wie vor in Anspruch nimmt. Die Frage nach den „Durkheimschen“ Institutionen und Ritualen, die die Vergemeinschaftung von Menschen erst herstellen, darf dabei kein Tabu sein: Der Mensch ist eben auch ein Gruppenwesen und ohne das mit gemeinschaftsbezogenen Werten verbundene „moralische Kapital“ ist, so die Argumentation Haidts, weder Gesellschaft noch Staat zu machen. Für eine solche Öffnung muss man aber erst einmal Verständnis, Toleranz und Respekt für die Wertorientierung Andersdenkender entwickeln. Dafür leistet Haidts Buch einen wichtigen Beitrag.

Jonathan Haidt, The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion, London: Allen Lane 2012, 448 Seiten, 17,95 Euro

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