Die vergeudeten Jahre

EDITORIAL

Wahlkämpfe schaffen Klarheit. Wahlkämpfe zwingen politische Akteure zu Verständlichkeit und Zuspitzung. Wahlkämpfe sind der ultimative Test dafür, ob die jeweiligen Ideen und Konzepte von Parteien am Markt der öffentlichen Meinungsbildung verkäuflich sind. Wer es im Wahlkampf schafft, eine ganz bestimmte Sicht auf die Dinge durchzusetzen, der erringt damit auch die Legitimation zu späterem Regierungshandeln. Wer dagegen in der eigenen Wahlkampagne von vornherein für nichts kämpft, der erringt auch keine Deutungshoheit und steht später – selbst im Siegesfall – ohne Mandat für irgendetwas in der politischen Landschaft herum.

So ist es in den vergangenen vier Jahren Angela Merkel ergangen. Die Bundestagswahl von 2009 gewann die Kanzlerin, indem sie den politischen Diskurs der Republik mit ihrer demokratiezersetzenden Taktik „asymmetrischer Demobilisierung“ planmäßig lahmlegte. Seither bietet die „bürgerliche“ Regierung Merkel/Rösler ein so atemberaubend armseliges Bild von Ideenlosigkeit und Lobbyismus, Gewurstel und Zerstrittenheit, dass Schwarz-Gelb im Wahljahr 2013 objektiv mit völlig leeren Händen dasteht. Es mag sein, dass Angela Merkel – und zwar gerade wegen ihres amöbenhaften Wesens – bei vielen Deutschen als Person wohlgelitten ist. Doch dieselben Deutschen haben mehrheitlich längst begriffen, dass das von Merkel betreute Kabinett eine beispiellos untaugliche Truppe ist: Bereits sechs von zehn Bürgern wünschen sich inzwischen eine andere Regierung.

Merkels Nachteil ist, dass die Konsequenzen der schwarz-gelben Arbeitsverweigerung mittlerweile überall mit den Händen zu greifen sind – einem dieser brennenden Probleme, dem zunehmenden Mangel an Wohnungen zu bezahlbaren Mietpreisen vor allem in Deutschlands dynamischen Zentren, widmen wir uns im Schwerpunkt dieses Heftes ganz besonders. Tatsächlich besteht Deutschlands Defizit heute zum Glück nicht darin, dass es unserer Gesellschaft und Ökonomie an Leistungsfähigkeit und leistungsbereiten Menschen mangeln würde. Deutschlands entscheidendes Defizit ist vielmehr, dass vorhandene Potenziale ungenutzt bleiben, weil unsere Gesellschaft in der lethargischen Ära Merkel/Rösler so himmelweit unter Wert regiert wird. Der riesigen Mehrheit der tüchtigen und flexiblen, innovativen und einsatzbereiten Menschen im Land steht eine ambitionsfreie Regierung gegenüber, die keine einzige dieser positiven Attribute an den Tag legt. Derweil gehen Globalisierung, Klimawandel und demografischer Umbruch weiter. Mit dem kräftigen Rückenwind des – unbestrittenen – Aufschwungs am Arbeitsmarkt hätte sich unsere Gesellschaft unter energischer politischer Führung längst in ein kreatives Laboratorium fortschrittlicher Lösungen für unser Jahrhundert verwandeln können. Dass in Deutschland von solch einem Geist des Aufbruchs heute nicht das Geringste zu spüren ist, wird das trostlose Vermächtnis Angela Merkels bleiben. Auf Rot-Grün 2.0 kommt eine Menge Arbeit zu.

Tobias Dürr, Chefredakteur

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