Besinnung auf den Markenkern

Die SPD war immer dann stark, wenn sie Wählerkoalitionen aus »kleinen Leuten« und linksliberalem Bürgertum schmieden konnte. Mit Martin Schulz an der Spitze und handfesten Gerechtigkeitsthemen besteht dazu jetzt wieder die Chance

In jedem Wahlkampf stellt sich für die deutsche Sozialdemokratie das strategische Dilemma, dass es die typische SPD-Wählerin und den typischen SPD-Wähler schlichtweg nicht gibt. Wie kaum eine andere Partei in Deutschland lebt die SPD davon, Wähler aus äußerst heterogenen Bevölkerungsteilen gleichermaßen anzusprechen. Etappenweise haben die Godesberger Öffnung von 1959, der massive Bildungsaufstieg einstiger Arbeiterkinder sowie sämtliche Versuche zur Bildung einer Wählerkoalition der „Neuen Mitte“ dazu beigetragen, die SPD-Wählerschaft sozialstrukturell und lebensweltlich zu verbreitern.

Folgerichtig geht die SPD immer dann erfolgreich aus Wahlen hervor, wenn ihr ein glaubwürdiger Brückenschlag zwischen fortschrittlichem Bürgertum und dem eigenen Wählerpotenzial in einfachen und mittleren Schichten gelingt. Dieser Befund gilt für die historischen Wahlsiege aus sozialliberalen Tagen ebenso wie für das Ausnahmeergebnis des Jahres 1998, in dem sich der progressive Wille zu Modernisierung mit dem traditionellen Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit paarte. Die SPD muss immer auf diesen beiden Beinen stehen.

Im Umkehrschluss erklärt sich die sozialdemokratische Durststrecke der vergangenen zehn Jahre zu einem großen Teil daraus, dass das empfindliche Gleichgewicht zwischen den grundverschiedenen Teilwählerschaften der Partei gestört war. Der weniger privilegierte und zumeist geringer gebildete Teil des SPD-Potenzials hatte das Zutrauen in die Partei verloren.

Die Hoffnungen der Rückkehrer

Einerseits stellten die Agenda-Reformen einen wirkmächtigen psychologischen Bruch dar, indem viele Arbeitnehmer die Neuerungen als Respektlosigkeit gegenüber der eigenen Lebensleistung empfanden. Besonders für einfach und mittel Gebildete entstanden zudem massive Abstiegsängste. Auch die positive wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in den Folgejahren der Reformen konnte in den Augen vieler traditioneller SPD-Wähler nicht den Eindruck wettmachen, dass die Partei ihren Markenkern der sozialen Gerechtigkeit verraten hatte. Trotz politischer Korrekturen gelang es dem Spitzenpersonal der Partei seither nicht, diesen Schwelbrand im Kern des sozialdemokratischen Selbstverständnisses gänzlich einzuhegen. Dies lag nicht zuletzt daran, dass ein Großteil des SPD-Spitzenpersonals selbst an der Konzeption und Durchsetzung der Reformen beteiligt gewesen war.

Andererseits sind für die – meist akademisch gebildeten – Parteifunktionäre in den vergangenen Jahren kulturelle Fragen in den Vordergrund getreten, mit denen das nicht-akademische SPD-Potenzial fremdelt. Gerade im Fall der Flüchtlingspolitik der letzten zwei Jahre zeigte sich eine deutliche Kluft zwischen dem bildungsbürgerlichen Eintreten für Weltoffenheit und der auf Verteilungsängsten beruhenden Skepsis vieler traditioneller SPD-Wähler. Die sozialstrukturelle Schieflage der SPD zugunsten linksbürgerlicher Wähler verschärfte sich.

In dieser Situation wirkte die Nominierung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden wie ein Neustart. Die seither auch im historischen Vergleich außergewöhnlichen Zugewinne der SPD in den Umfragen zeugen von der Hoffnung vieler Rückkehrer aus einfacheren und mittleren Verhältnissen, dass die Partei zu ihrem Markenkern der sozialen Gerechtigkeit zurückfinden möge. Da Schulz über seine unbestreitbare Europa-Affinität sowie sein humanistisches Bildungsprofil auch das linksliberale Bürgertum zu binden weiß, hat er die bedeutsame Chance, die Sozialdemokratie wieder auf ihre zwei altbewährten Beine zu stellen.

Schwarzmalerei wäre kontraproduktiv


Beim strategischen Blick auf den Themenkomplex der sozialen Gerechtigkeit im Wahljahr 2017 verdienen allerdings einige Besonderheiten der derzeitigen gesamtgesellschaftlichen Stimmungslage Erwähnung.

Die Mehrheit der Menschen ist davon überzeugt, dass es Deutschland derzeit wirtschaftlich gut geht. Auch hinsichtlich der eigenen wirtschaftlichen Lage sind die Deutschen überwiegend zufrieden sowie hinsichtlich der unmittelbaren Zukunft eher optimistisch. Sorgen um den Arbeitsplatz sind derzeit beispielsweise nur schwach ausgeprägt. Insofern wäre eine generelle Schwarzmalerei bezüglich der Verhältnisse in Deutschland aus Sicht der SPD kontraproduktiv.

Dennoch hadern die Menschen mit dem vielfach bemühten Narrativ, dass angesichts der guten Lage jegliche Kritik an den derzeitigen Verhältnissen allenfalls Lamentieren auf hohem Niveau wäre. Denn viele spüren sehr wohl, dass sich die Wachstumsgewinne ungleich verteilen: Während viele Bürger allenfalls größere Arbeitsplatzsicherheit genießen, bleiben sie hinsichtlich steigender Kapitalrenditen und Spitzengehälter zugleich nur staunende Zuschauer. Ebenso schlagen Probleme des Erwerbslebens wie etwa wachsender Arbeitsdruck sowie (fernere) Zukunftssorgen, etwa um die Alterssicherung, negativ zu Buche. Auch berichten Bürger in Befragungen gehäuft von der Sorge, dass das eigene Leben binnen kurzer Zeit in die Misere abgleiten könnte. Staatliche und gesellschaftliche Sicherungsmechanismen werden als prekär empfunden.

Ganz nah ran an die Lebenswirklichkeit


Als sozial gerecht wird somit empfunden, was dieser komplexen Lebenswirklichkeit der Menschen Rechnung trägt. Erwartet wird, dass die konkreten Lebenslagen der Menschen mitsamt ihrer langfristigen Unwägbarkeiten aufgegriffen, Überforderungen verhindert und existenzielle Risiken verlässlicher abgesichert werden. Zudem möchte man im Vergleich zu Top-Verdienern nicht weiter zurückfallen. Es wird Verhältnismäßigkeit eingefordert.

Mit einem bürgernahen Ansatz, der Gerechtigkeitsthemen an der realen Lebenswirklichkeit festmacht, liegen Martin Schulz und die von ihm geführte SPD daher am Puls der Zeit. Aufgrund seiner eigenen – teils beschwerlichen – Vita gelingt es Schulz zudem, seine Empathie für die schwierigen Alltagserfahrungen der Menschen glaubhaft zu vermitteln. Damit stellt er die anderen Parteien vor ernsthafte Herausforderungen.

Die von der plötzlichen Hausse der SPD verunsicherte Union schwankt derzeit bei der strategischen Ausrichtung ihres Wahlkampfes. Einerseits würde ein von Unionswählern traditionell geforderter Fokus auf innere Sicherheit massiv von den Zerwürfnissen der Flüchtlingspolitik überschattet. Andererseits stehen die Chancen für einen erneuten Versuch asymmetrischer Demobilisierung, in dem die Kanzlerin sozialpolitische Themen besetzt, angesichts der hohen Passung zwischen SPD-Kandidat und SPD-Thema derzeit nicht zum Besten.

Ebenso wenig konnten sich die Grünen bislang wirkungsvoll positionieren. Seit die Partei bei der Bundestagswahl 2013 mit ihren radikalen Umverteilungsplänen scheiterte, hat man sich wieder stärker ökologischen und kulturellen Themen zugewandt. Auf diese Weise wird eine eigenständige Rolle zwischen Rot und Schwarz befördert; gleichzeitig jedoch scheinen die mittlerweile gesellschaftlich etablierten Kernthemen der Grünen nur noch bedingt auf das eigene Wählerkonto einzuzahlen.

Auch muss sich noch zeigen, inwiefern es der Linken abermals gelingen wird, die SPD vor sich herzutreiben. Erstmals seit 2005 steht die Linkspartei vor der Herausforderung, einen Spitzenkandidaten zu bekämpfen, der nicht zu den Hauptverantwortlichen der Agenda 2010 zählt und zudem den Markenkern der SPD zentral in seiner Strategie platziert. Außerdem kann die Sozialdemokratie auf ihre konkrete Regierungsbilanz verweisen. Sozialer Fortschritt bei verlässlichem Regieren – genau darin liegt das Potenzial für eine Gegenoffensive der SPD, um die protestorientierte Linke selbst in Bedrängnis zu bringen.

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