Die Substanz ist bald aufgebraucht

Es sind beileibe nicht nur die "Abgehängten", die mit der Politik nichts mehr am Hut haben. Umgekehrt sind die etablierten Parteien genauso unfähig, sich auf zunehmend politikferne Milieus einzulassen. Nach der Entfremdung folgt alsbald die Scheidung. Es kommt darauf an, dies mit Weitsicht zu vereiteln

„Armselig“ ist ein Wort, das heutzutage im übertragenen Sinne gebraucht wird. Dann moniert es einen enttäuschenden Zustand, eine armselige Ausrede zum Beispiel. Eigentlich aber bezeichnet es, dem ursprünglichen Wortsinn gemäß, was der Armut entspringt und von ihr gezeichnet ist: armselige Unterkunft, armselige Kleidung.

Indem es zwei Bedeutungen hat – eine, die urteilt, und eine, die nur beschreibt – steht dieses Wort ausgerechnet der Wahlbeteiligung gut zu Gesicht. Ja, die Wählerflaute, wie zuletzt in Bremen, ist armselig im wertenden Sinne, weil aller Wahlkampf spurlos verpufft, weil die politische Maschinerie dem Schwund kraftlos zusieht. Wenn ein halbes Wahlvolk zu Hause bleibt wie die Bettlägerigen, dann hat die politische Sklerose zu lange unbehandelt gewütet.

Wer noch hingeht, gilt als komischer Vogel

Armselig im ursprünglichen Sinne ist die Wahlbeteiligung aber ebenso. Überall bricht sie wie zuletzt in Bremen zuvorderst dort weg, wo es am unbehaglichsten zugeht, wo die Menschen am wenigsten haben und mit den größten Existenzproblemen kämpfen. Wo Bildung und Chancen seltener sind als in ­Mittelschicht und Beletage. In Bremen gibt es Stadtteile, wo nicht einmal mehr – wie im Landesdurchschnitt – die Hälfte, sondern nur rund ein Drittel der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben.

Dagegen gibt es in den reichen, schönen und luftigen Gegenden der Hansestadt gar kein wirkliches Nichtwählerproblem. Dort lag die Beteiligung an der Bürgerschaftswahl zuweilen höher als der gesamtdeutsche Wert für Bundestagswahlen. Wo aber positive Aussichten und kollektive Strukturen fehlen, Frustration und Vereinzelung vorherrschen, kommt leicht ein Teufelskreis in Gang. Sinkende Wählerzahlen sorgen dafür, dass der soziale Druck, an Wahlen teilzunehmen, immer weiter zurückgeht. Mit den Jahren gerät die Enthaltung zur Norm. Nachrückende Generationen werden apolitisch sozialisiert. Es ist unerlässlich, diese Entwicklung als das zu verstehen, was sie ist: eine strukturelle Deaktivierung wachsender Teile des Wahlvolkes.

Die Abgehängten im »toten Winkel« der Parteien

Die Parteien haben es in dieser Situation zugegebener­maßen nicht leicht, denn in der Nichtwählerfrage stolpern sie zwangsläufig über ihre eigenen Beine. Nicht erst seit gestern sind Parteien überaltert, übermäßig akademisiert und in der wohl­habenderen Hälfte der Gesellschaft verankert. Dies gilt auch für ehemalige Arbeiterparteien. Gerade in den Nichtwählerhochburgen fehlen ihnen der Einblick und die physische Präsenz. Rein soziologisch fährt die niedrige Wahlbeteiligung sozusagen im „toten Winkel“ der Parteien.

Fast wirkt es, als lebten politische Eliten und Nichtwähler auf unterschiedlichen Planeten. Wenn etwa professionelle ­Kader einer „linken Volkspartei“ daran verzweifeln, dass die Angehörigen armer Milieus sich nicht einmal mehr über eindeutig an sie gerichtete Wahlgeschenke (Mindestlohn, Mietpreisbremse) mobilisieren lassen, dann ist dieses Missverständnis symptomatisch.

Denn die Parteileute denken so, wie ihre eigene Erfahrungswelt es ihnen vorgibt: Sie agieren über „rationales“ Geschacher, über strategische Kosten- und Nutzenkalküle und die Devise, dass „jede Stimme ihren Preis hat“. Dass ihre Angebote ein entpolitisiertes Milieu aber gar nicht mehr erreichen, dass die für ein beidseitiges Tauschgeschäft nötige Beziehung gar nicht mehr gegeben ist, können die Parteistrategen nicht nachvollziehen. Reicht denn einem verzweifelt Liebenden ein Blumenstrauß, um bei der Gegenseite Gefühle zu erzwingen, die gar nicht mehr existieren? Wer es versucht hat weiß: Mit der Gleichgültigkeit endet alles.

Ähnlich verzweifelt sind die aktuellen Vorschläge, auch in Supermärkten oder neben Geldautomaten Wahlurnen aufzubauen. Dort muss schließlich jeder hin. Und schlimmstenfalls greift man eben zur Wahlpflicht.

Davon abgesehen, dass keine Wahlmodalität dieser Welt eine real stattfindende Entfremdung der Menschen vom Poli­tischen aufhalten kann (auch nicht an Tankstellen), würde gerade eine Wahlpflicht einmal mehr ein strafendes Signal an die Schwächsten in der Gesellschaft senden. Pflicht, Sanktion und Aktivierung: Mit diesem Vokabular erhoben sich schon bei der Agenda 2010 Staat und Parteien über die vermeintlich trägen low potentials. Der psychologische Bruch, der mit dieser Zurechtweisung verbunden war, wurde im Gegensatz zu den sozialpolitischen und wirtschaftlichen Konsequenzen der Reformen nur selten diskutiert. Doch wer ein Jobcenter einmal von innen gesehen hat, wird wissen, was gemeint ist.

Der demokratische Kitt bröckelt. Es handelt sich um eine empfindliche Substanz. Die eine, schnelle Lösung gibt es daher nicht. Zumindest keine, die im Handumdrehen wieder echte Bindung der Menschen an die politische Gemeinschaft herstellt, das Vertrauen zu den Parteien steigert und unsere Demokratie erneuert. Deshalb gibt es auch keinen schnellen Nutzen, den sich Parteien rasch unter den Nagel reißen könnten.

In diesem Sinne scheint absehbar, dass die Parteien resignieren. Sollten sie sich nicht darauf beschränken, ihr Heil unter den verbleibenden Wählern zu suchen? Sollten sie nicht aus Realitätssinn versuchen, mit den Bedingungen zu operieren, die sie vorfinden? Sollten sie nicht, ungeachtet ihrer einstigen gesellschaftlichen Ursprünge, nun allein die Wähler der aktiven, gebildeten, kurzum: mündigen Mittel- und Oberschicht hofieren?

Fatale Fixierung auf die noch wählenden Bürger

Nein, sollten sie nicht. Denn erstens schmilzt die Wählerscholle, auf der die Parteien ausharren müssten, perspektivisch immer schneller. Ein einfacher Blick auf die Bevölkerungsstruktur Deutschlands mit ihren zahlreichen Traditionswählern im fortgeschrittenen und hohen Alter gibt hier eindeutigen Aufschluss. Zudem hält die Entpolitisierung bereits auch in Teilen der Mittelschicht Einzug. Um bei klimatischen Bildern zu bleiben: Orte der Nichtwahl funktionieren innerhalb der Gesamtdemokratie wie Tiefdruckgebiete, in denen eine negative Sogwirkung entsteht, die über Schule, Arbeitsplatz und vermeintlich „zielgruppenspezifisch“ angepasste Medienangebote dynamisch um sich greift.

Zweitens steht auch die Qualität der Demokratie auf dem Spiel. Auf die Gefahr hin, als verträumt zu gelten: Parteien sind nicht nur sich selbst verpflichtet, sondern zuvorderst dem ­Souverän, und der ist eben in Teilen auch Nichtwähler. Leider ist es eine bequeme Unsitte, in politischen Gesprächen den Eigennutz von Parteien und Politikern als einzig möglichen Handlungsantrieb anzuführen. Hier aber geht es um mehr. ­Gerade Vertreter traditionsreicher Parteien, die sich einst der ­politischen Selbstermächtigung der Massen verschrieben ­hatten, sollten sich fragen, ob sie mit einer „pragmatischen“ Fixierung auf die noch wählenden Bürger nicht ihre eigene ideelle Selbstentleibung besiegeln.

Die Parteien werden sich selbst etwas zumuten und mit Geduld agieren müssen. Die politische Bildungs- und Engagementarbeit braucht eine neue Dimension. Sozialarbeiter sollten in ihren Kompetenzen und finanziellen Mitteln gestärkt werden, um beispielsweise auch explizit demokratiepolitische Projekte durchzuführen. Die Rolle des Politischen in den Schulen sollte fundamental überdacht und erweitert werden. Es wird Budgets brauchen für Kiezhaushalte, bei denen Menschen, die daran nicht mehr gewöhnt sind, wieder selbst etwas zu sagen haben. Kleinräumige Modellversuche im Land, die teilweise schon bestehen, sollten professionell erfasst werden. Die Parteiorganisationen, gerade auch die Jugendorganisationen, werden auf Menschen zugehen müssen, die man bislang eher bemitleidet und als „bildungsfern“ bevormundet hat.

Die Parteien haben es selbst in der Hand

Über eine gemeinsame, parteiübergreifende, staatlich finanzierte Jugendplattform könnte man benachteiligte Stadtteile erkunden, um dort die Hoffnungen und die Ängste der jungen Menschen auszuloten. Es wird darauf ankommen, nicht nur in den Wahlkampfphasen kurzfristig vorbeizuschauen, sondern dauerhafte Präsenz anzustreben. Wenn erst einmal die „Multiplikatoren im Kleinen“, also meinungsstarke Jugendliche, religiöse Verbände und Sportvereine, mit der Politik auf Tuchfühlung gehen, ist eine erneute Aufwärtsbewegung der demokratischen Mobilisierung womöglich sogar näher als gedacht. Kurzum: Die Etablierten und die Akademiker müssen ganz bewusst das Ende ihres Monopols betreiben.

Die Parteien haben es selbst in der Hand. Sie können selbstkritisch Größe beweisen, über sich hinaus wachsen, mutig sein. Sie können eine neue demokratische Erzählung wagen und – nicht zuletzt – damit auch sich selbst zu neuem Leben verhelfen. Oder aber sie bleiben im Gerangel um den kurzfristigen Eigennutz stecken. Dann müsste weiter von der Substanz alter Tage gezehrt werden. Das aber wäre armselig, im heute geläufigen Sinne.«

zurück zur Ausgabe