"Wir brauchen Bewegung!"

Unter dem Ausstellungstitel "Nationalgalerie" präsentiert Thomas Demand im deutschen Doppel-Jubiläumsjahr in der Neuen Nationalgalerie seine Werke. Der international gefeierte Künstler ist zugleich Skulpteur und Fotograf: Er baut detailgetreue Papiermodelle von Orten und Tatorten nach, die häufig zuvor als Pressefoto Bekanntheit erlangten - und fotografiert sie erneut. Seine Bilder beschäftigen sich mit den historischen, politischen und gesellschaftsprägenden Ereignissen Deutschlands. Ermöglicht wurde seine Ausstellung in Berlin von Christina Weiss, seit 2008 Vorsitzende des Vereins der Freunde der Nationalgalerie. Im Interview mit Joachim Bühler und Johanna Lutz spricht die ehemalige Kulturstaatsministerin über die Ausstellung, die Aufgaben von Kulturpolitik und das Zusammenwirken von staatlicher und privater Kulturförderung in Zeiten der Wirtschaftskrise.

Berliner Republik: Thomas Demand hat in einem Interview in der „tageszeitung“ gesagt, dass ihn die Bilder interessieren, die beim Betrachter „hängen bleiben“. Was bleibt bei Ihnen von seinen Bildern hängen?


Christina Weiss: Es sind Bilder, die bereits im Kopf hängen und denen man jetzt wieder begegnet – auf eine ganz eigenartig verfremdete Weise. Thomas Demand fotografiert niemals die Realität, sondern er baut jedes Bild als Modell aus vorgefärbtem, industriellem Papier nach. Dann fotografiert er das Modell und zerstört es anschließend. Deshalb wirken seine Bilder auf eine seltsame Weise kalt und distanziert. Sein Thema sind Bilder aus den Massenmedien und extreme Alltagsbilder wie zum Beispiel Klingelschilder oder eine Balkonreihe an einem Plattenbau. Diese Bilder erkennen wir alle wieder, sie haben Modellcharakter für den deutschen Alltag. Und dann gibt es Bilder mit einem impliziten historischen Wiedererkennungswert wie das Werk mit dem einfachen Titel „Badewanne“: Die meisten Betrachter begreifen sofort: Das ist die Badewanne, in der Uwe Barschel umkam. Wir haben diese Bilder im Kopf, begegnen ihnen wieder, erinnern uns oder auch nicht, schauen hin – und stellen dann fest, dass sein Bild eigentlich nur das Zitat eines anderen Bildes ist.


Zitate gibt es in der Ausstellung auch in Textform: Jedes Bild wird von Texten des Schriftstellers Botho Strauß begleitet. Wie kam es zu der Konstellation Demand und Strauß?


Weiss: Beide setzen sich sehr intensiv mit dem Zustand unserer Gesellschaft auseinander. Thomas Demand wollte keine üblichen Begleittexte in seinem Katalog. Er suchte jemanden, der mit Sprache ein Assoziationsfeld zu den Bildern schafft. Die Bilder funktionieren ja auch für Menschen, die keine Erinnerung an massenmediale Bilder aus einer bestimmten Zeit haben. Zum Beispiel hat Demand das Fernsehstudio nachgebaut, in dem die Sendung „Was bin ich?“ mit Robert Lemke aufgezeichnet wurde. Hier ist es eine Frage des Alters, ob man das Studio erkennt oder nicht. Wenn nicht, erkennt man dennoch ein Studio und muss eben abstrahieren. Botho Strauß geht einen Abstraktionsschritt weiter. Er formuliert Anmutungen beim Betrachten der Bilder, Anmutungen immer mit Bezug auf die Gesellschaft, in der wir leben. Er steuert ein Stück Poesie bei, das inspiriert ist von dem Blick auf ein Bild.


Im Ausstellungskatalog wirft der Kurator der Tate Modern, Mark Godfrey, die Frage auf, ob die Ausstellung tatsächlich eine „Galerie der Nation“ darstellt, wie ihr Titel behauptet.


Weiss: Unser Ziel war, die Ausstellung unbedingt in diesem Jahr zu zeigen, in dem wir das 60-jährige Jubiläum der Bundesrepublik und den Fall der Mauer vor 20 Jahren feiern. Denn diese Arbeiten repräsentieren mit unglaublicher Genauigkeit und zugleich großer Distanz den bundesdeutschen Alltag. Demand legt den Finger in die Wunden der Gesellschaft: die Fremdheit, die Entfremdung und die Fremdsteuerung durch Massenmedien. Dies schien uns als Kommentar zu den Jubiläen ungeheuer wichtig – viel wichtiger als beliebige Bilder auszuwählen, die zufällig in diesen Jahren gemalt worden sind.


Sie spielen auf eine andere Jubiläumsausstellung in Berlin an: In „60 Jahre – 60 Werke“ im Gropius Bau wurden Werke möglichst vieler Künstler zu einer Art deutschen Gesamtschau zusammengestellt.


Weiss: Demands Blick ist wirklich der Blick in die Gesellschaft. Diesen Blick wollten wir, die diese Ausstellung finanziert haben, irgendwelchen Jubelfeiern entgegensetzen. Gemälde repräsentieren nicht unbedingt eine Epoche. Dieses Spiel aus Massenbildern und Alltag ist genau das, was bei Demand so in die Tiefen, in die Abgründe der Gesellschaft führt.


Was können Menschen mit der Ausstellung anfangen, die nicht in der Bundesrepublik aufgewachsen sind? Und kommt eine ostdeutsche Sichtweise vor?


Weiss: Alle können sich wiederfinden. Thomas Demand hat gerade deswegen auch in Amerika sehr großen Erfolg, weil seine Bilder durch ihren Abstraktionsgrad allgemeingültig sind. In der Ausstellung gibt es viele Alltagsbilder, auch solche die direkt auf die DDR und Ostdeutschland verweisen. Da, wo es mit der politischen Erinnerung nicht funktioniert, vermitteln die Bilder trotzdem die Situation: So sieht ein Haus, in dem Kinder zum Missbrauch gefangen waren, eben aus wie ein Haus, in dem man jemanden gefangen hält. Das Beängstigende, das Beklemmende an einem solchen Bild überträgt sich in jedem Fall. Genau deshalb schreibt Demand nie in die Werktitel, auf welches Bild aus den Massenmedien er sich bezieht. Die jüngere Generation erkennt zum Beispiel garantiert diese Bushaltestelle, in der die Jungs von der Band Tokio Hotel sich früher immer getroffen haben. Eine Assoziation, die der älteren Generation womöglich fehlt. Insofern bietet Demand für alle Generationen etwas an – und auch für Menschen, die mit Deutschland gar nichts zu tun haben, die aber sofort erkennen: Das ist Provinz, das ist deutsche Provinz. Denn diese berühmte Bushaltestelle ist im bayerischen Gemütlichkeitsstil gebaut und enthält damit ganz viele Zeichen, die für Deutschland stehen.


Zur Ausstellung gibt es ein vielfältiges Begleitprogramm mit Akteuren aus Wissenschaft, Kultur oder Politik. Titel: „How German is it?“


Weiss: Es geht um die Frage: Wie blicken wir selbst und wie blickt man von außen auf Deutschland? Was steht für Deutschland? Thomas Demands Idee war, dass die Themen jeweils einen direkten Bezug auf eine seiner Arbeiten nehmen. So gab uns beispielsweise das Bild vom deutschen Wald mit dem Namen „Lichtung“ Anlass für eine Diskussion über „Das Romantische und das Nationale im Klischee“. Und im November widmen wir uns unter anderem dem Thema „Deutsche Debattenkultur“ anlässlich des Bildes „Parlament“ vom Bundestag in Bonn. Denn die deutsche Debattenkultur unterscheidet sich immens von der Debattenkultur anderer Länder.


Zu diesem Thema kommen auch Politiker zu Wort, allerdings nur ehemalige. Sollten sich aktive Politiker nicht stärker in Debatten über Kultur und Gesellschaft einmischen?


Weiss: Ja, Politiker sollten eigentlich viel präsenter in der Gesellschaft sein, auch in ihren Kommentaren zur Kultur. Auch im Deutschen Bundestag müssen sie sehr viel stärker über aktuelle Themen diskutieren, und das ohne Blick darauf, wer am Ende in der Wählergunst steigt. Es muss darum gehen, sachlich orientiert Fragen anzusprechen und diese auf einer intellektuellen Ebene zu diskutieren, so dass diese Dispute wirklich Grundlage einer öffentlichen Debatte werden können. Das kommt im Bundestag leider viel zu selten vor. In diesem Fall haben wir uns ganz bewusst entschlossen, keine aktiven Politiker einzuladen, weil das Thema sonst eine völlig andere Richtung bekommen würde.


Das erwähnte Bild zeigt den Kanzlerstuhl des alten Bonner Bundestagsaals. Wieso diente Bonn dem Künstler als Vorlage für seine Papierskulptur und nicht Berlin?


Weiss: Ich kann dem Künstler nicht vorgreifen. Am Ende interessiert uns nicht, was der Künstler sich dabei gedacht hat, sondern wie das Bild auf uns wirkt. Das Motiv hat er natürlich mit Absicht gewählt. Es gibt diesen Bundestag nicht mehr. Aber viele Menschen erinnern sich an die historisch unglaublich wichtigen Debatten, die dort stattgefunden haben. Demand wollte sicher auch die Erinnerung daran erhalten. Weil es im Museum landen wird, bleibt das Bild sozusagen für die Ewigkeit. Das ist ja das Tolle an der Kunst: Die Massenmedien und die Erinnerung verschwinden, aber ein Kunstwerk bleibt.


In der Regierung Schröder waren Sie die Beauftragte für Kultur und Medien. Heute sind Sie Vorsitzende des Vereins der Freunde der Nationalgalerie. Sie sind also von der öffentlichen auf die private Seite der Kulturförderung gewechselt. Welche Aufgabenteilung sollte es zwischen beiden Seiten geben?


Weiss: Wir leben in einer Gesellschaft, die ständig Bewegung braucht. Ein Museum, das Jahr für Jahrzehnt gleich aussieht, genügt nicht mehr. Der Staat muss für die kulturelle Infrastruktur sorgen. Er finanziert natürlich die Präsenz der Kultureinrichtungen wie zum Beispiel der Museen und ermöglicht damit überhaupt erst kulturelles Engagement. Aber neue Ausstellungen in die Museen zu holen, das kann auch Aufgabe von Privaten sein, die sagen: Wir brauchen Bewegung!


Die Krise hat besonders in der amerikanischen Kulturförderung viel Schaden angerichtet. Einige Museen mussten sogar Bilder verkaufen, Ausstellungsetats wurden zusammengestrichen. In Deutschland lässt das private Kulturengagement offenbar noch nicht nach. Wie erklären Sie sich das?


Weiss: Zum einen gab es natürlich aufgrund unserer staatlichen Finanzierung im Kulturbereich keine derart verheerenden Auswirkungen durch die Finanzkrise. Zum anderen ist der Großteil der privaten Kulturstiftungen in Deutschland im Hinblick auf ihre Anlagepolitik extrem konservativ. Das hat sich bewährt. Ich bin Mitglied in Stiftungsräten etlicher Stiftungen, wo sich der Vermögensverlust vorübergehend bei höchstens vier Prozent bewegt hat. Das kann man verkraften. Aber natürlich wissen wir noch nicht, wie sich die Wirtschaftskrise weiter entwickelt. Außerdem können wir momentan schwer abschätzen, wie sich die neue Bundesregierung verhalten wird. Die Bekenntnisse zur Kultur waren bisher eher spärlich.


Die SPD hat versucht, das bürgerschaftliche Engagement auch auf dem Gebiet der Kultur zu stärken, etwa durch Reformen im Stiftungsrecht. Wo gibt es weitere Stellschrauben, um öffentlich-private Partnerschaften zu unterstützen?


Weiss: Die Reform des Stiftungsrechts ist sehr, sehr erfolgreich gewesen. Es gibt unendlich viel mehr Neugründungen von Stiftungen als in den Jahren zuvor. Das war sehr wichtig. Sicherlich gibt es noch Verbesserungsmöglichkeiten, dabei sollte man allerdings politisch sehr genau darauf achten, nicht in die amerikanische Falle zu treten. In einer „Public Private Partnership“ muss der Staat seine Position behaupten. Er darf die Privaten nicht zu mehr Engagement ermutigen, um sich hinterher selbst zurückzuziehen. Darin liegt eine reale Gefahr. Ich meine, wir sollten auch in diesem Punkt ein bisschen konservativ bleiben. Wir können nur dann eine Kulturnation sein, wenn der Staat die Kultur als eine Grundaufgabe begreift.
Frau Weiss, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Thomas Demands Ausstellung „Nationalgalerie“ ist noch bis zum 17. Januar 2010 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu sehen. Die Teilnahme an einzelnen Begleitveranstaltungen kann online gebucht werden unter: www.demandinberlin.org

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