"Wenn Merkel nicht handelt, zerfällt Europa"

Die Europapolitik der deutschen Bundesregierung ist bei den europäischen Nachbarn umstritten. Das ist nichts Neues. Denn aus historischer Perspektive hat Deutschland im europäischen Konzert schon immer eine Schlüsselstellung eingenommen. Das zeigt der renommierte irische Historiker Brendan Simms in seinem neuen Buch. Jetzt komme es darauf an, Deutschlands Stärke für ein vereinigtes Europa zu nutzen. Wie das gelingen kann, fragte Marius Mühlhausen für die "Berliner Republik"

Brendan Simms, wie kommt es, dass Deutschland in Ihrem neuen Buch „Europe: The Struggle for Supremacy – 1453 to the Present“ eine derartige Schlüsselstellung einnimmt?

Die besondere Bedeutung liegt zum Teil daran, dass Deutschland rein geografisch den Mittelpunkt Europas bildet. Somit war es historisch immer Brennpunkt der großen Politik: als Frankreich versuchte, sich aus der Umklammerung der Habsburger zu befreien; als sich die Engländer bemühten, ein Gleichgewicht zu wahren; als das Osmanische Reich danach trachtete, die Christenheit zu überrollen; oder auch später bei den Versuchen des Zweiten und Dritten Reiches, die Vorherrschaft über den gesamten Kontinent zu erringen.

Dabei erzählen Sie die Geschichte Europas als das stetige Ringen verschiedener Mächte um die Vorherrschaft. Warum beginnen Sie im Jahr 1453?

Das Jahr war in zweierlei Hinsicht wichtig: Erstens fiel Konstantinopel als Hauptstadt des oströmischen Imperiums dem osmanischen Ansturm zum Opfer. Das öffnete für die Türken das Tor nach Mitteleuropa, wodurch zugleich Ungarn, Kroatien und schließlich das Heilige Römische Reich selbst in die Schusslinie neuer Konflikte gerieten. Diese Bedrohung sollte sich auf Politik und Gesellschaft Deutschlands und Mitteleuropas konstitutiv auswirken. Zweitens endete 1453 der Hundertjährige Krieg mit der Niederlage Englands. Dies erlaubte es dem Sieger Frankreich, sich mehr und mehr Italien und dem Herrschaftsbereich der römisch-deutschen Kaiser zuzuwenden.

Kaum achtzig Jahre später hatte Heinrich II. großes Interesse am Bestehen des Schmalkaldischen Bundes deutscher Fürsten und Städte. Warum interessierte sich der König von Frankreich für den Bund deutscher Fürstentümer?

Nicht nur Heinrich II., sondern auch Richelieu und Ludwig XIV. interessierten sich für die deutschen Fürsten – ganz gleich, ob sie protestantisch oder katholisch waren. Ihnen allen ging es darum, die Macht des Habsburger Kaisers im Heiligen Römischen Reich einzudämmen. Eine skurrile Situation, denn so wurden die Franzosen lange Zeit vehemente Verteidiger der „Deutschen Freiheiten“ der Reichsstände. Und Deutschland erfuhr enorme Aufmerksamkeit.

War das Amt des Kaisers im Heiligen Römischen Reich deswegen so beliebt?

Mehr noch, es war der Hort für höchste Legitimation in Europa: Heinrich VIII. von England, Franz I. von Frankreich und im gewissen Sinne auch Süleyman der Prächtige des Osmanischen Reiches haben sich um diese Würde beworben.

Unter dem Banner der „neuen deutschen Frage“ wird in der aktuellen Eurokrise immer häufiger die Vormachtstellung Deutschlands debattiert. Blicken wir zunächst auf den Wiener Kongress im Jahr 1814. Worauf gründete die „Deutsche Frage“?

Dreh- und Angelpunkt war, wie man diesen mitteleuropäischen Raum gestalten sollte, so dass er einerseits stark genug wäre, um einer äußeren Macht wie Frankreich oder Russland standzuhalten, andererseits jedoch nicht so stark, dass er selbst das Gleichgewicht gefährden würde. Es war also ein Drahtseiltakt.

Wieso schuf man dann im gleichen Atemzug den Deutschen Bund?

Damit sich die Deutschen nicht selbst zerfleischten oder dazu von äußeren Mächten angespornt wurden, galt es einen inneren Ausgleich zu finden. Im Deutschen Bund waren die Interessen der Preußen, der Österreicher und des „Dritten Deutschlands“ in etwa gleichberechtigt vereint.

Bei der Gründung des Kaiserreichs 1871 war Reichskanzler Otto von Bismarck bemüht, die Ängste vor einer deutschen Übermacht einzudämmen. Dagegen proklamierte Kaiser Wilhelm II. 1896 bereits lauthals: „Das Deutsche Reich ist eine Weltmacht!“ Woher kam dieser Wandel?

In Teilen war das einfach eine Frage der grundverschiedenen Persönlichkeiten. Wilhelm II. agierte weniger diplomatisch als Bismarck und begeisterte sich für die Marine und den Kolonialismus. Im Grunde ging es aber um Wilhelms politische Überzeugung – die übrigens auch von seinen Ministern geteilt wurde –, dass das Zweite Reich von 1871, trotz seiner Größe, längst noch nicht die notwendige Masse besaß, um in Europa gegen die Weltmächte Großbritannien, Frankreich und das Zaristische Russland anzukommen. Wilhelm II. war überzeugt, dass das Kaiserreich nur als Weltmacht überleben konnte.

Im Buch stellen sie oft die militärische Stärke der Deutschen in den Vordergrund.

Richtig. Denn historisch waren die Deutschen immer ein sehr bevölkerungsreiches, tüchtiges und militärisch kraftvolles Volk. Deshalb war es allen Großmächten wichtig, entweder an seiner Seite zu streiten, wie beispielsweise im Kampf gegen die Osmanen, oder zumindest nicht sein Gegner zu sein. Trotz der militärischen Stärke war Deutschland allerdings aufgrund seiner kleinen Fürstentümer lange Zeit politisch zu schwach. Doch nach 1871 war es mehrere Jahrzehnte lang zu stark. In beiden Fällen ging es in der europäischen Geschichte in eminentem Maße um die deutsche Frage.

Wie gelang es nach dem langen Streben um die Vorherrschaft, Europa nach dem Zweiten Weltkrieg als gemeinsames Friedensprojekt zu denken?

Der europäische Integrationsprozess war am Anfang sowohl als Friedens- als auch als Verteidigungsprojekt gedacht. Man wollte kulturell wie strukturell gewährleisten, dass sich die westlichen Demokratien nicht gegenseitig angriffen. Zudem sollte Europa auch imstande sein, sich gegen einen sowjetischen Angriff zu wehren. In den fünfziger Jahren wurde dieser Anspruch zugunsten der transatlantisch organisierten Nato aufgegeben. Das hat zugleich der europäischen Integration sehr geschadet, denn danach war Europa für die Europäer keine Frage mehr von Leben und Tod.

Braucht es deswegen heute eine gemeinsame europäische Armee?

Klar ist: Die Eurozone muss auch eine gemeinsame Armee haben, die das Monopol der Machtentfaltung nach außen entwickeln kann. Diese Armee dürfte dann nach der amerikanischen die zweitstärkste der Welt sein, vielleicht sogar die stärkste. Eine solche Armee wird es der Eurozone erlauben, im Bündnis mit den anderen Nato-Staaten die Stabilität Europas und seiner Umgebung – die weite Teile der Welt umfasst – zu sichern. Die reine Existenz einer gemeinsamen Streitmacht würde zugleich die Integration fördern, wie dies auch in anderen Unionen wie den Vereinigten Staaten und Großbritannien der Fall gewesen ist.

Dabei hat sich die deutsche Bundesregierung bei den jüngsten Militäreinsätzen in Libyen oder Mali sehr zurückgehalten. Eine kluge Entscheidung?

In beiden Fällen war das meines Erachtens ein Fehler, denn in Libyen hätte es ohne die Intervention ein furchtbares Massaker gegeben. Und einen Sieg der Islamisten in Mali können wir nicht zulassen. Ich denke, dass es eine gemeinsame europäische Armee auch den Deutschen leichter machen würde, sich für die gute Sache einzusetzen, wie es jetzt im Rahmen des Nationalstaats aus historischen Gründen nicht möglich ist.

Aktuell scheint es so, als befinde sich das gesamte Projekt Europa am Scheideweg. Wie ernst ist es aus historischer Sicht um seine Zukunft bestellt?

Die Situation ist für die Europäer mehr als schwierig. Sie ist zu vergleichen mit der Situation der Deutschen und der Amerikaner um das Jahr 1780, die zu dieser Zeit auch in schwachen Konföderationen lebten – zum einen im Alten Reich, zum anderen unter den „Articles of Confederation“. Damals rafften sich die Amerikaner auf. Sie folgten explizit dem Vorbild der Anglo-Schottischen Union von 1707 mit parlamentarischer und militärischer Integration sowie einer Schuldenunion. Kurzum: Sie schufen eine richtige Verfassung, die Karriere gemacht hat.

Und das Alte Reich?

Das wurschtelte sich weiter nach Gutdünken durch und ging letztlich unter. Es ist also jetzt an der Zeit, dass sich die Europäer grundlegend entscheiden, welchen Weg sie gehen wollen. Damit die Eurozone nicht scheitert, braucht es einen „Philadelphia Moment“, bei dem im Glauben an eine gemeinsame Zukunft wie 1788 in den Vereinigten Staaten eine Verfassung ratifiziert wird. Gerade auch, um Deutschland in Europa neu einzubetten und die Kräfte der Deutschen besser für die gesamteuropäischen Zwecke zu mobilisieren.

Also geht es um einen Unionsvertrag nach amerikanischem Vorbild?

Richtig. Und dazu ist es eine von allen Europäern gewählte verfassungsgebende Versammlung notwendig. Nur so kann es einen Unionsvertrag wie in den Vereinigten Staaten geben. Im 18. Jahrhundert haben die Amerikaner übrigens gesagt, dass sie eine schwache Konstruktion wie das Heilige Römische Reich unbedingt vermeiden wollen. Heute schüttelt man in Washington verständlicherweise den Kopf über die Ziellosigkeit der europäischen Politik.

Dabei wächst bereits jetzt mit Blick auf „mehr Europa“ in vielen Ländern die Protesthaltung. Sind da die Vereinigten Staaten von Europa das richtige Signal?

Die Frage ist, welche Schlüsse man aus der wachsenden Skepsis gegen das Integrationsprojekt zieht. In der Gründerzeit der Vereinigten Staaten hatte man ebenfalls große Furcht vor einem verstärkten pennsylvanischen oder georgianischen Nationalismus. Und dennoch schreckten die Patrioten nicht zurück, sondern dachten progressiv und gaben sich eine demokratische Verfassung. Schließlich hatte man mit Blick auf die unendlichen Querelen der italienischen Klein- und Stadtstaaten zu Zeiten Niccolò Machiavellis erkannt, welches Konzept jedenfalls nicht als Vorbild dienen konnte.

Und heute?

Ich bin davon überzeugt, dass in der aktuellen Eurokrise viele Menschen den Glauben an die jeweils eigene Nationalstaatlichkeit längst verloren haben. Aber zugleich sind die Bürger deshalb nicht für „mehr Europa“ zu gewinnen, weil ihnen bis jetzt die demokratische Legitimation der europäischen Politik fehlt. Hand aufs Herz: Ihre Souveränität haben die meisten Länder im Zuge der Krise doch schon längst verloren. Deshalb sollte es jetzt vor allem darum gehen, die europäischen Bürger mittels demokratischer Institutionen an der Politik teilhaben zu lassen und das Engagement für die gemeinsame Sache zu fördern.

Ist es nicht gerade die von der deutschen Bundesregierung geforderte Austeritätspolitik, die eine gemeinsame europäische Vision austrocknet?

Der Fehler liegt darin, dass die deutsche Regierung und mit ihr die gesamte Eurokratie die Integration stets als einen Prozess gesehen haben. Tatsächlich aber sind erfolgreiche Zusammenschlüsse – allen voran der Weg in die Anglo-Schottische und die amerikanische Union – immer einmalige Begebenheiten gewesen. Das heißt, wir müssen die nötigen Veränderungen und die Demokratisierung der Institutionen auf einem Schlag verwirklichen. Entscheidend ist dabei, dass sie durch einen einmaligen Wahlakt aller Bürger in der Eurozone ratifiziert werden. Dafür braucht es vor allem politischen Mut.

Angenommen, man würde jetzt die Vereinigten Staaten von Europa aus den Staaten der Eurozone schaffen. Würde dann nicht ein Kerneuropa entstehen, das eine weitere Integration erst einmal unmöglich macht?

Man müsste dabei gewährleisten, dass auch andere Staaten weiterhin integriert werden können. Schweden und Polen beispielsweise könnten sich sofort oder bald danach den Vereinigten Staaten von Europa anschließen. Ich bin davon überzeugt, dass nach und nach fast alle anderen europäischen Staaten westlich von Russland aus verschiedenen Gründen nachziehen würden. Das würde bedeuten, dass wir am Ende nur noch drei unabhängige Staaten im freien Europa haben würden: Großbritannien, die Schweiz und die neue „Demokratische Union“. Und das wäre auch gut so.

Sie lehren als irischer Staatsbürger in Großbritannien. Kann es überhaupt ein Vereinigtes Europa ohne Großbritannien geben?

Ich denke nicht, dass wir ein europäisches Großbritannien bräuchten. Vielmehr braucht es ein britisches – oder zumindest ein anglo-amerikanisches – Europa. Bereits durch eine gemeinsame Freihandelszone wären die Vereinigten Staaten von Europa auch in der Zukunft wirtschaftlich eng mit Großbritannien verbunden. Und durch die Nato weiterhin auch militärisch und politisch eng verbündet. Dann hätten wir statt nur einer gleich zwei britische Staaten in Europa. Beide würden, wie der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck schon sagte, englischsprachig sein.

Welche Rolle muss die deutsche Bundesregierung spielen, damit sich Europa weiterentwickeln kann?

Um ein Voranschreiten in die Wege zu leiten, muss Bundeskanzlerin Angela Merkel – sozusagen als europäischer Bismarck – die Initiative ergreifen. Sie muss sich über die Schimpfkanonaden in Griechenland und anderswo hinwegsetzen. Das könnte ihr auch gelingen, denn im Grunde haben die meisten Bürger der Eurozone derzeit viel Respekt vor ihr. Außerdem muss der überholte Dualismus zwischen Berlin und Paris aufhören, nicht nur, weil er nationalstaatlich fixiert ist, sondern auch, weil er die anderen Staaten ausschließt.

Meinen Sie, dass die französische Regierung dieses Fortschreiten mittragen würde?

Wenn nötig – und es könnte dazu kommen – muss Angela Merkel die Franzosen links liegen lassen und als ersten Schritt ein Kleineuropa der Willigen schaffen. Ich sage: Wenn Angela Merkel jetzt nicht entschieden handelt und eine demokratisch ausgestaltete politische Union schafft, dann droht die Eurozone auseinanderzufallen. Und damit würde die deutsche Frage keinesfalls verschwinden, sondern in neuer Intensität auf die europäische Geschichte Einfluss nehmen.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Kürzlich erschien Brendan Simms Buch "Europe: The Struggle for Supremacy - 1453 to the Present" im Verlag Allen Lane. Es hat 720 Seiten und kostet etwa 25 Euro.

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