"Glaub an dich!"

Bei der jüngsten Pisa-Studie schneidet Deutschland besser ab als zuvor. Dennoch bleibt das Bildungssystem undurchlässig. Gerade Kinder aus Nichtakademiker-Haushalten haben es weiter schwer. Deshalb gründete KATJA URBATSCH die Initiative ArbeiterKind.de. Gemeinsam mit bundesweit über 5 000 Ehrenamtlichen versucht sie, Kindern die Perspektive eines Studiums aufzuzeigen. Mit Katja Urbatsch sprach Marius Mühlhausen

Frau Urbatsch, was bedeutet Bildung für Sie?

Bildung heißt, sich Wissen und Kompetenzen anzueignen. Wer sich bildet, kann sein Leben selbst in die Hand nehmen, Entscheidungen treffen und sich an der Gesellschaft beteiligen.

Woran scheitert das deutsche Bildungssystem?

Das deutsche Bildungssystem stellt sehr stark auf die Familie ab – ideell und finanziell. Es unterstellt, dass Eltern immer und überall einspringen: Sie helfen bei den Hausaufgaben, geben Nachhilfe, überweisen Geld, wenn das Bafög nicht rechtzeitig kommt, korrigieren zum Teil Hausarbeiten oder gar die Doktorarbeit. Wer diesen Rückhalt nicht hat, hat ein Problem. Das sind vor allem Menschen mit sozial schwachem Hintergrund.

Genau diese wollen Sie mit Ihrer Initiative „ArbeiterKind.de“ unterstützen. Was ist Ihre Motivation?

Ich bin die erste in meiner Familie, die einen Hochschulabschluss hat. Ich komme aus einer ländlichen Gegend, da war die Hochschule auch gedanklich weit weg. Dennoch habe ich studiert, was im großen Familienkreis nicht immer auf Verständnis stieß. Mir haben Hilfestellungen und Informationen gefehlt. Für viele Kommilitonen war das selbstverständlich. Das hat mich beschäftigt.

Was ist das Ziel von ArbeiterKind.de?

Wir möchten junge Menschen aus Familien, in denen noch niemand studiert hat, ermutigen, genau dies zu tun. Ihnen ein Vorbild sein und sie auf diesem Weg bis zum erfolgreichen Studienabschluss unterstützen. Ich hatte in meiner Schulzeit nie Kontakt zu einem Studenten. Genau da werden wir aktiv. In Schulen machen wir diesen Kindern Mut und zeigen, dass ein Hochschulstudium möglich ist.

Es geht also darum, Ängste abzubauen.

Zunächst muss man ja auf die Idee kommen zu studieren – also was anderes zu machen als die Eltern. Viele haben ein super Abi, denken aber nicht ans Studieren. Sie trauen sich nicht so richtig. In einem zweiten Schritt geht es darum, Ängste abzubauen.

Wird das Studium dabei nicht zum Selbstzweck?

Wir möchten gar nicht, dass alle studieren. Aber alle sollen es als Option begreifen. Niemand soll denken: „Ja, ich würde gerne studieren, aber für mich ist das nicht vorgesehen.“ Die Entscheidung darf nicht vom eigenen Hintergrund abhängen.

Woran messen Sie Ihren eigenen Erfolg?

Wir bekommen großen Zuspruch und positive Rückmeldungen von Lehrern, Schülern und Eltern. Und wir haben das Thema mit auf die Agenda gesetzt. Jetzt sprechen alle von „Arbeiterkindern“, wenn es um Studierende der ersten Generation geht. Es gibt viele Stipendienprogramme, die vor fünf Jahren noch nicht existierten.

Wie kann man benachteiligte Gruppen ansprechen, ohne sie zu stigmatisieren?

Die Herausforderung ist, dass Menschen es nicht als Stigma empfinden. Wir versuchen, nicht von „bildungsfern“ zu sprechen, sondern verwenden den Begriff „Arbeiterkind“, um das Thema mit Humor zu nehmen. Bei unseren Schulungen sagen Akademikerkinder hinterher: „Oh, ich wäre jetzt auch gerne Arbeiterkind.“ Wir haben das so gesetzt, dass es positiv ist und dass sie auch einen gewissen Stolz entwickeln können. Es geht darum, seine eigenen Kompetenzen wahrzunehmen und nicht nur die Defizite zu sehen. Es handelt sich also mehr um einen Appell: Versteckt Euch nicht!

Ist es nicht die Aufgabe der Lehrer, alle Schüler unabhängig vom Elternhaus zu dem Weg zu motivieren, der ihren Leistungen entspricht?

Ich denke nicht, dass dies die alleinige Verantwortung von Lehrern ist. Hierbei versagen alle. Die Schule spiegelt im Endeffekt nur unsere Gesellschaft wider. Deshalb braucht es eine gesellschaftliche Veränderung. Wir müssen die Menschen für dieses Thema sensibilisieren. Alleine schaffen das die Lehrer nicht.

Ein wichtiger Schritt wäre es auch, die Schulen besser zu durchmischen.

Kinder dürfen nicht nur in ihrer eigenen Gesellschaftsschicht verharren. Bei mir hat das beispielsweise auch die Kirche geleistet oder der Sportverein. Gerade in der Kirche bin ich auf Akademiker getroffen, die mich gefördert haben. Aber das alles sind Institutionen, die unter Mitgliederschwund leiden.

Wie bewerten Sie die Bildungspolitik seit dem Start Ihrer Initiative im Jahr 2008?

Ich habe schon das Gefühl, dass viele Politiker und Verantwort-liche das Thema erst nehmen und angehen. Und auch das Thema Durchlässigkeit im Bildungssystem wird zunehmend prominent debattiert.

Im Idealfall würde sich die Initiative selbst überflüssig machen, oder?

Ich würde es mir wünschen. Aber das ist ein fernes Ziel. Gerade der gesellschaftliche Wandel braucht Jahrzehnte, er gelingt nicht von heute auf morgen.

Wo sehen Sie die nächsten großen Herausforderungen?

Als Initiative wollen wir auch in ländliche Bereiche vorstoßen. Dort ist es aber schwierig, lokale Gruppen zu etablieren. Außerdem heißt es in diesen Regionen häufig: „Wie, Du liest jetzt den ganzen Tag? Das ist keine Arbeit. Wann fängst du mal an, Geld zu verdienen?“

Was sagen Sie diesen Kindern?

„Du kannst es schaffen, glaub an Dich!“ Und das Gute ist: Es schaffen auch immer mehr. Wir wollen mit unseren Ehrenamtlichen diese Botschaft in möglichst viele Klassenräume und Familien tragen und damit zum gesellschaftlichen Wandel beitragen. Gelingt uns das, profitieren am Ende alle davon.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Katja Urbatsch promoviert an der Justus-Liebig-Universität Gießen. In ihrem Buch „Ausgebremst: Warum das Recht auf Bildung nicht für alle gilt“ beschreibt sie ihre Erfahrungen als Studentin der ersten Generation.

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