Drei Tage im Juni

Europas Wohlstand und Sicherheit sind bedroht. Deutschland muss sich seiner Kraft und seiner Verantwortung bewusst werden

Berlin am 30. Juni 2006: Bundeskanzlerin Angela Merkel jubelt. Gerade hat die deutsche Nationalmannschaft Argentinien geschlagen und steht nun im Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft. Die deutsche Wirtschaft wird im selben Jahr zum ersten Mal seit der Jahrtausendwende wieder mit über drei Prozent wachsen, die Arbeitslosenquote fällt auf unter zehn Prozent. Deutschland ist wieder wer, auch Dank Merkels Vorgänger Gerhard Schröder, der für seine Reformen mit dem politischen Aus hatte bezahlen müssen. Im Jahr 2006 feiern die Deutschen in Schwarz-Rot-Gold ihren Wiederaufstieg ins Oberhaus der globalen Wirtschaftsmächte.

Der Euro befindet sich währenddessen noch immer in jenem ebenso glücklichen wie unerklärlichen Zustand, für den der spätere EZB-Chef Mario Draghi das treffende Bild des Hummelflugs finden wird. Die Wissenschaft vermag nicht zu erklären, wie er entgegen aller physikalischen Gesetze funktioniert.

Genau sechs Jahre später, am 30. Juni 2012, stimmen Bundestag und Bundesrat über den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM ab. Draghis Hummel fliegt nicht mehr, sie taumelt, und die Hoffnung, man könne die Währungsunion nun ein für alle Mal stabilisieren, wird schnell enttäuscht. Zu gering ist die finanzielle Ausstattung des ESM, zu hoch sind die politischen Kosten der offenen Solidarität mit den Krisenstaaten. So muss Draghi bereits am 26. Juli aktiv werden und alles unternehmen, um den Euro zu stabilisieren. Stützkäufe sollen aber nur gegen Einhaltung strenger Sparvorgaben erfolgen. Die EZB wird zum verlängerten Arm Berlins. Ohne es so recht gewollt zu haben, ist Deutschland zur Führungsnation der EU geworden.

Merkel und ihr Finanzminister regieren jetzt mit in den Hauptstädten der europäischen Peripherie. Ihre Strategie: strikte Haushaltsdisziplin und die Hoffnung auf die Rückkehr privater Investoren. Sie wird scheitern. In der Folge radikalisiert sich die Politik in den Krisenstaaten. Jede nationale Wahl kann nun zur Abstimmung für oder gegen die Gemeinschaftswährung werden – und so zur potenziellen Katastrophe für die Eurozone. Deutschland führt nicht, sondern dominiert, und so meldet sich spätestens im Sommer 2012 die „deutsche Frage“ mit voller Wucht zurück: Es handelt sich um eine Spielart desselben Problems, das die europäische Geschichte bereits seit 400 Jahren immer wieder heimgesucht hat. Zunächst als strukturelles Dilemma, denn bis zur Gründung des zweiten Reiches 1871 war Deutschland immer wieder zum machtpolitischen Spielball seiner Nachbarn geworden. Danach waren es die Größe und die machtvolle Position des neuen zentraleuropäischen Staates, die zunehmend zu einem Faktor für Instabilität wurden. Erst später, als zuerst das zweite und dann das dritte Reich 1914 und 1939 gewaltsam die Ordnung auf dem Kontinent herausforderten, wurde die deutsche Frage zu einem verhaltensbezogenen Problem – und Deutschland zu einer veritablen Gefahr.

Was das Verhalten anbelangt, vollzogen die Deutschen nach der verheerenden Erfahrung der Nazidiktatur eine 180-Grad-Wende. In vielerlei Hinsicht entwickelten sie sich zu Mustereuropäern. Das strukturelle Problem aber blieb bestehen: Das wiedervereinigte Deutschland wurde zum ökonomischen Koloss, während die politische Union Europas unvollständig blieb. Dies führte dazu, dass die Bundesrepublik weit weniger in gemeinsame Strukturen eingebunden wurde, als die Gründer der europäischen Einigung ursprünglich vorgesehen hatten. Zugleich aber betteten die EU-Osterweiterung und die feste Einbindung in die Nato Deutschland geografisch zum ersten Mal komfortabel inmitten anderer Demokratien ein, was es unempfindlich werden ließ für neue Gefahren, besonders an der Ostgrenze der Union.

30. Juni 2014: In Brasilien steht Deutschlands Fußballnationalmannschaft im Viertelfinale und wieder gibt es eine Abstimmung im Bundestag. Es geht um die Verschärfung der Sanktionen gegen Wladimir Putins Russland. Nur zögerlich und gegen den Widerstand weiter Teile der heimischen Industrie hat man sich zu dem Schritt aufraffen können, während der Konflikt in der Ukraine ungebremst eskaliert.

Doch Sanktionen werden nicht ausreichen, um Putins Großmachtfantasien ein Ende zu bereiten. Es geht nun darum, einen klaren Raum für die EU zu definieren: Was ist Europa und wo hört es auf? Wenn es nötig ist, müssen wir zudem deutlich machen, dass wir bereit sind, unsere Außengrenzen auch militärisch zu verteidigen. Denn solange ein Vakuum zwischen Russland und Europa besteht, werden auch die Spannungen weitergehen.

Wie bei der Regulierung der Eurozone geht es darum, legitime Strukturen zu schaffen, die den Wohlstand, die Teilhabe und die Sicherheit aller Europäer garantieren. Das aber kann nur gelingen, wenn Deutschland seinen Kurs ändert und sich seiner Kraft und der daraus erwachsenen Verantwortung bewusst wird.

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