»Wir brauchen den großen Knall«

Brendan Simms, Jahrgang 1967, ist Professor für die Geschichte der Internationalen Beziehungen an der Universität Cambridge und Autor des Bestsellers »Europa am Abgrund« (2016). Der irische Staatsbürger mit deutscher Mutter ist überzeugt: Die EU wird nur überleben, wenn sie sich zu den Vereinigten Staaten von Europa weiterentwickelt. Um diese Idee zu propagieren, hat er den Think Tank »Project for Democratic Union« gegründet. »Berliner Republik«-Redakteur Michael Miebach sprach mit Brendan Simms über die Europapolitik der Labour Party, kluge Strategien für die Brexit-Verhandlungen und die Zukunft der EU-27

Nachdem sich die Mehrheit der Briten für den Austritt aus der EU entschieden hat, brach die Wirtschaft ein und in der Politik begann Chaos. Beunruhigen Sie diese Entwicklungen?

Brendan Simms: Natürlich ist nach einer solchen Entscheidung die Unsicherheit groß. Aber jetzt gibt es ja wieder eine stabile Regierung, und der wirtschaftliche Rückgang war zunächst weniger stark als befürchtet. Wahrscheinlich wird die Wirtschaft aber weiter abstürzen, sobald der Brexit tatsächlich vollzogen wird. Doch das Vereinigte Königreich wird nicht kollabieren. Großbritannien ist nicht Griechenland.

Die Tories haben sich schnell wieder gefangen, aber in der Labour Party herrscht ein erbitterter Richtungsstreit. Welche Rolle spielt die Europafrage dabei?

Die Grabenkämpfe gibt es ja schon, seitdem Jeremy Corbyn im September 2015 Parteivorsitzender wurde. Das Referendum war dafür nicht der Auslöser, zeigt aber die vollkommen gegensätzlichen Positionen in der Partei: Bis in die achtziger Jahre war sie im Prinzip antieuropäisch ausgerichtet. Die Europäische Union wurde eher als kapitalistisches Komplott betrachtet. Das änderte sich erst, als Jaques Delors Präsident der Kommission wurde, der die soziale Dimension stärker betonte. Aber bis heute gibt es eine starke Strömung innerhalb der Labour Party, die die Verwirklichung eines britischen Sozialismus innerhalb der Europäischen Union nicht für möglich hält – sozusagen das sozialistische Pendant zu den konservativen Europagegnern. Jeremy Corbyn hat selbst gesagt, beim Referendum 1975 gegen den Verbleib in der EU gestimmt zu haben. Ich wäre nicht überrascht, wenn er auch diesmal heimlich dagegen gestimmt hätte. Eigentlich ist er ein Brexiteer. Die Modernisierer in der Tradition von Tony Blair und Gordon Brown sind dagegen zum Teil glühende Europabefürworter.

Eine andere mögliche Folge des Brexit lautet, dass Großbritannien zerbricht, weil Schottland, Wales oder Nordirland ihre Unabhängigkeit erklären, um in der EU bleiben zu können. Das wäre dann das Ende der britischen Union.

Es ist interessant, dass es solche Vorhersagen in Kontinentaleuropa überhaupt gibt. Ich war gerade länger in Deutschland – es gibt dort nicht nur die Erwartung, sondern fast die Hoffnung, das Vereinigte Königreich würde wegen des Brexit auseinanderfallen. Nach dem Motto: Gott bestrafe England. Ich glaube, das wird nicht passieren. Nordirland wird nicht abspringen, auch wenn sich eine deutliche Mehrheit für den Verbleib in der EU ausgesprochen hat. Die meisten dieser Wähler wollen aber nicht das Vereinigte Königreich verlassen. Nordirland hat ja kein Problem mit England oder Großbritannien selbst, sondern der dortige Konflikt liegt innerhalb der nordirischen Gesellschaft. Im Gegenteil, die Nordiren benötigen das Vereinigte Königreich dringend, um nicht aneinanderzugeraten. Was Schottland angeht: Ich glaube nicht, dass es innerhalb der nächsten fünf Jahre zu einer zweiten Abstimmung über die Unabhängigkeit kommt. Und wenn doch, würde sich an dem letzten Abstimmungsergebnis wenig ändern, obwohl fast 60 Prozent der Schotten für remain gestimmt haben. Denn die Gesamtlage hat sich für die Schotten radikal verschlechtert. Erstens würden sie als eigenständiges EU-Mitglied plötzlich zu Nettozahlern, während sie innerhalb Großbritanniens aufgrund der relativen Wirtschaftsschwäche Nettoempfänger sind. Zweitens würden sie wohl das Pfund verlieren und müssten den Euro übernehmen. Drittens müssten sie zu England auf einmal eine EU-Außengrenze aufbauen. Im Falle eines Handelskrieges zwischen Großbritannien und der EU wären sie die ersten Opfer. Viertens kommt die Unsicherheit innerhalb der EU selbst hinzu. Bedenkt man dann noch, dass die Gründung des Königreiches 1707 eine Reaktion auf die europäische Bedrohung war, dann wird es nahezu absurd, unter diesen Bedingungen aus einer erfolgreichen Union auszutreten, um in einer sehr problematischen Union bleiben beziehungsweise wieder eintreten zu können. Kurzum: Das Vereinigte Königreich wird es auch in zehn Jahren weiterhin geben.

Der Wahlausgang am 23. Juni war knapp. Unter anderen Umständen wäre es vielleicht anders ausgegangen, zum Beispiel wenn das Remain-Lager überzeugender gearbeitet hätte oder wenn die Leave-Kampagne weniger populistisch argumentiert hätte. Würden Sie die Entscheidung als Unfall bezeichnen?

Aus historischer Sicht: Nein. Denn die Europäische Union war eigentlich eine Antwort auf die deutsche Frage: Wie bettet man Deutschland in Europa ein? Und wie schützen wir die kleineren, schwächeren europäischen Staaten vor Deutschland? So gesehen gibt es kein britisches Problem, für das die Europäische Union die Antwort wäre. Weder ist das Vereinigte Königreich eine Gefahr für den europäischen Frieden und müsste eingebunden werden, noch ist es so schwach, dass es den Schutz dieser Europäischen Union bräuchte. Deshalb sind die Souveränitätseinschränkungen im Zusammenhang mit der Europäischen Union für Großbritannien weniger vertretbar als anderswo in der EU. Das Ergebnis des Referendums war auch in diesen historischen Gegebenheiten angelegt.

Das klingt so, als gebe es die EU nur zur Friedenssicherung. Auch Großbritannien profitiert vom Binnenmarkt, von der gemeinsamen Außenpolitik oder von gewissen sozialen Standards.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin ein großer Fan der europäischen Einigung – aber auf dem Kontinent. Denn all das, wofür die EU gebraucht wird, leistet die britische Union ja schon: Sicherheit gegenüber anderen Mächten, wirtschaftliche Stärke, Repräsentation. Die zentrale Frage lautet daher, wie sich all dies auch in Kontinentaleuropa verwirklichen lässt. Das ist ja die Hoffnung vor allem der weniger entwickelten Länder: Was der griechische oder rumänische Staat nicht hinbekommt, soll Europa irgendwann liefern. Aber in Großbritannien gibt es das alles bereits heute. Hinzu kommt, dass die Kontinentaleuropäer schon seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr richtig souverän sind – anders als Großbritannien. Denn Deutschland ist so groß, dass ihm niemals erlaubt worden wäre, nach 1945 ohne europäische Einbindung eine Demokratie zu werden. Andere Länder waren zu schwach, um eine selbständige Demokratie aufbauen zu können. So betrachtet war die europäische Einigung die Bedingung, die den Europäern jene Partizipationsmöglichkeiten verschaffte, die es in Großbritannien immer gab.

Die anstehenden Verhandlungen über das künftige Verhältnis zur EU dürften spannend werden. Hierzulande sind viele Politiker und Beobachter der Meinung, die EU müsse eine harte Haltung zeigen, um potenzielle Nachahmer abzuschrecken und die eigenen Prinzipien nicht zu verletzen.

Ich kann das emotional verstehen: Wer sich in einer Beziehung vor den Kopf gestoßen fühlt, reagiert mit Zorn, gerade wenn diese Beziehung eigentlich gar nicht so schlecht funktioniert hat. Es tut umso mehr weh, weil die Briten mit ihrer Kritik an der EU an vielen Stellen ja durchaus Recht haben. Dennoch: Den tough approach hielte ich für einen riesigen Fehler. Es kann nämlich überhaupt keine Nachahmer geben, weil kein anderes Land die politischen, wirtschaftlichen und auch außenpolitischen und militärischen Möglichkeiten für die Unabhängigkeit besitzt. Noch nicht einmal Frankreich könnte diesen Schritt gehen. Wie würde die französische Wirtschaft dann wohl aussehen? Und welche Währung sollten die Franzosen benutzen? Davon abgesehen wird die tatsächliche Kräftekonstellation häufig nicht richtig verstanden: Sollten die Drohgebärden der Festlandeuropäer weitergehen, wird es in Großbritannien einen großen nationalen Schulterschluss geben. Ein ohnehin kohärenter Akteur würde noch kohärenter werden und Front machen gegen die EU. In Festlandeuropa ist es genau umgekehrt. Einen Konsens gibt es nicht, noch nicht mal in Deutschland, wo es sowohl Hardliner als auch eine starke Wirtschaftslobby gibt, die den Handel mit Großbritannien nicht gefährdet sehen will. Außerdem gibt es in der EU viele Länder, die sich aus verschiedenen Gründen langfristig nicht mit Großbritannien anlegen wollen, seien es die Osteuropäer, die Unterstützung gegen die russische Bedrohung wollen oder sei es Irland wegen der Nordirlandfrage. Und mein letztes Argument: Europa hat doch schon genug Probleme – die Flüchtlingssituation, die Eurokrise, den Terrorismus, die hohe Arbeitslosigkeit. Sich jetzt noch einen Konflikt mit Großbritannien ans Bein zu binden, wäre irrational. Was die Europäer rein gar nicht gebrauchen können, wäre eine Art positives Russland an der Westflanke, das die Energie aus Europa aussaugt.

Wie würde Großbritannien reagieren, wenn die EU sich auf keine Kompromisse einließe?

Derzeit sind die Briten wohlwollend: Sie haben ein Eigeninteresse daran, dass die EU-27 gut funktioniert. Das europäische Chaos und die Uneinigkeit werden grundsätzlich als Gefahr gesehen. Aber das wird sich in dem Moment ändern, wenn die Kontinentaleuropäer sich tatsächlich zusammentun und gegen Großbritannien arbeiten. Dann wird es die Priorität der britischen Außenpolitik sein, diese Einheit zu zerstören.

Das hört sich so an, als würden Sie die Bedeutung Großbritanniens etwas überschätzen.

Großbritannien ist die viert- oder fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Es ist die dritt- oder viertgrößte Militärmacht der Welt. Es hat einen Sitz im Sicherheitsrat. Es ist Nuklearmacht. Mit Ausnahme der Vereinigten Staaten und China – welcher Staat wäre derzeit stärker als das Vereinigte Königreich?

Glauben Sie wirklich, dass es einen Binnenmarktzugang zu speziellen Konditionen geben kann? Ohne Sonderstatus müssten die Briten die europäischen Regeln weiterhin übernehmen, können diese aber nicht beeinflussen. Das wäre dann doch kein Gewinn, sondern ein Verlust an Souveränität. Die norwegische Opposition bezeichnet Norwegens Status als Fax-Demokratie: Es kommen Faxe aus Brüssel, und was draufsteht, muss dann implementiert werden.

Ich glaube, man muss den Sachverhalt im großen politisch-strategischen Zusammenhang sehen. Bei jeder bedeutenderen europäischen Frage wird Großbritannien aus den erwähnten Gründen etwas zu sagen haben. Zum Beispiel ergibt es wenig Sinn, eine gemeinsame europäische Politik gegenüber Putins Russland zu betreiben, ohne dass die Briten mit ihrer militärischen Kraft einbezogen werden. Vermutlich wird es deshalb am Ende einen Kompromiss geben: einen Binnenmarktzugang zu Sonderkonditionen im Gegenzug für Sicherheitsgarantien. Das wäre dann aus europäischer Sicht zwar Rosinenpickerei. Aber eine solche Rosinenpickerei gibt es schon die ganze Zeit im militärischen Bereich, wenn die Festlandeuropäer sagen: Krieg und Mobilisierung, das hat doch nichts mit uns zu tun. Das sollen bitteschön die Amerikaner und die Briten machen. Konkret stelle ich mir eine neue konföderale Struktur für Europa vor, die Großbritannien in wichtigen Fragen ein Mitspracherecht gibt, etwa was das Bankenwesen oder den Binnenmarkt betrifft.

In Ihrem Buch „Europa am Abgrund“ zeichnen Sie ein desolates Bild der Europäischen Union und vergleichen sie mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, nicht zuletzt im Hinblick auf die außenpolitische Schwäche. Alles eine Frage der Perspektive: Hätte man den Gründungsvätern erzählt, wie weit die Integration voranschreiten würde, wären Sie wahrscheinlich froh gewesen.

Das ändert nichts daran, dass die zentralen Probleme der EU nicht angegangen, sondern vertagt werden. Die aktuelle Stille trügt. So ist hinsichtlich der Eurokrise noch immer nicht geklärt, wer für die vielen Schulden am Ende eigentlich geradesteht. Noch immer straucheln viele Banken. Die Leistungsbilanzunterschiede bestehen weiter. Auch das Problem Griechenland wird zurückkommen. Eine gemeinsame Währung ohne gemeinsamen Finanzminister – das klappt einfach nicht. Und ein Schengenraum ohne gemeinsame Grenzsicherung funktioniert ebenso wenig. Auch ist die gemeinsame Außenpolitik so kompliziert, dass Europa global nicht richtig strategiefähig ist.

Deswegen fordern Sie eine politische Union der Mitglieder der Eurozone – die Vereinigten Staaten von Europa. Welche zusätzlichen Bereiche müssten dafür vergemeinschaftet werden?

Es geht mir um einen wirklichen europäischen Staat mit gemeinsamen Staatsschulden, einer einheitlichen Verteidigungspolitik und einer gemeinsamen demokratischen Repräsentation. Debt, defense und democracy – diese drei Ds gehören zusammen. Das lehrt uns die Staatswerdung der Vereinigten Staaten und Großbritanniens.

Wenn die Lage der EU so dramatisch negativ ist, wäre eine politische Union dann nicht eine maßlose Überforderung und deshalb unrealistisch? Der bessere Weg voran war in Europa stets eine Politik der kleinen Schritte im Sinne pragmatischer Visionen.

Das, was wir jetzt haben, ist auch nicht realistisch. Und historisch gesehen sind alle erfolgreichen Unionen – vor allem das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten – nicht evolutionär durch kleine Schritte entstanden, sondern durch extreme Brüche, durch einen großen Knall in Zeiten der Krise. Gibt es dann erst einmal einen demokratischen europäischen Staat, können die vielfältigen Probleme endlich gelöst werden – durch Kompromissfindung in funktionierenden Institutionen. Der große Denkfehler der Europäischen Union ist es, dass man Integration als Prozess versteht und nicht als Ereignis. In jedem Land sollte es eine Volksabstimmung über den Beitritt zu diesem europäischen Staat geben. Ich bin sicher, die meisten Kontinentaleuropäer würden dafür stimmen. Stimmt ein Land mehrheitlich dagegen, muss es austreten und kann seine nationale Währung wieder einführen. Ich sage Ihnen: Sollte es ein solches Kerneuropa geben, wird niemand außen vor bleiben wollen.

Solche Volksabstimmungen wären aber durchaus mit Risiken verbunden. Was passiert etwa, wenn Frankreich dagegen stimmt und Deutschland dafür? Europa wäre gespalten.

Das wäre aber das Gegenteil der gesamten französischen Politik seit dem Zweiten Weltkrieg, die immer darauf abzielte, Deutschland einzubinden. Das war ja immer der Unterschied zwischen Frankreich und Großbritannien: Die Briten hielten es nicht für nötig, zur Einbindung Deutschlands ihre Souveränität aufzugeben, die Franzosen hingegen schon.

Die Schaffung der britischen Union 1707 und der amerikanischen Union 1787/88 fand unter vollkommen anderen Vorzeichen statt. Mir scheinen die kulturellen, wirtschaftlichen, demokratischen und auch sprachlichen Prägungen der europäischen Nationen so unterschiedlich zu sein, dass eine solche „wirkliche“ Union gar nicht wünschenswert ist.

England und Schottland waren auch zwei sehr alte Staaten. Das Schottland von 1707 war älter als viele heutige europäische Staaten.

Aber es waren nur zwei und nicht 27.

Ja, aber es handelt sich ebenfalls um eine multinationale Union. Die Schotten waren eine andere Nation mit anderen Traditionen und mochten die Engländer überhaupt nicht. Ein solcher Zusammenschluss ist keine Liebesheirat, sondern etwas sehr viel Ernsteres. Die Identität wird später sozusagen nachgeliefert durch gemeinsames Handeln. Ebenso unterschiedlich in Bezug auf Mentalitäten und Interessen waren auch die einzelnen Gebiete Amerikas vor der Gründung der USA. Das Argument war und ist: Wenn wir uns nicht zusammentun, dann werden wir auseinanderfallen. Wir werden andere Mächte dazu einladen, über uns herzufallen. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass wir uns irgendwann wieder gegenseitig bekriegen.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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