Schleswig-Holstein für Oberschlaue

EDITORIAL

Unlängst fiel Großbritanniens Brexit-Minister David Davis, ein Kämpfer für den Ausstieg seines Landes aus der EU, mit einer kryptischen Bemerkung auf. Verglichen mit der Kompliziertheit der nun bevorstehenden Austrittsverhandlungen, erklärte Davis, sei „Schleswig-Holstein eine Realschulfrage“.

Schleswig-Holstein? Nur die wenigsten Zeitgenossen durften verstanden haben, wovon Theresa Mays Brexit-Organisator überhaupt redete. Tatsachlich bezog sich Davis auf die Vorgeschichte des deutsch-dänischen Krieges von 1864. In diesem heute in Deutschland (jedoch nicht in Dänemark) weithin vergessenen Krieg um die nationale Zugehörigkeit des Herzogtums Schleswig besiegten preußische und österreichische Truppen das Königreich Dänemark. Die Ereignisse des Jahres 1864 setzten eine Kette von Entscheidungen in Gang, die 1871 zur Gründung des Deutschen Reiches unter preußischer Vorherrschaft führten. Manche Historiker bezeichnen diesen Krieg sogar als den Kieselstein, der die Lawine von fatalen Entscheidungen ausloste, die schließlich im Ersten Weltkrieg und den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts mundeten.

Wie um Himmels Willen kommt Davis dann also mit Bezug auf den Brexit die Schleswig-Holstein-Frage in den Sinn? Ganz einfach. In Erinnerung geblieben ist den Briten die Episode vor allem aufgrund eines legendaren Zitats ihres seinerzeitigen Premierministers Palmerston: „Die Schleswig-Holstein-Frage ist so kompliziert, dass nur drei Männer in Europa sie jemals verstanden haben. Einer war Prinz Albert – der ist tot. Einer war ein deutscher Professor – der ist wahnsinnig geworden. Der Dritte bin ich – und ich habe alles darüber vergessen.“

Anders gesagt: „Schleswig-Holstein“ ist der Inbegriff eines unendlich verwickelten und unlösbaren Problems. Wenn jetzt selbst ein Brexit-Befürworter wie Minister Davis zu der Einsicht gelangt, die maßgeblich von ihm zu lösende Aufgabe sei sogar noch viel schwieriger als das Megarätsel Schleswig-Holstein, dann belegt dies eindrücklich vor allem eines: Mit ihrem ebenso planlosen wie unverantwortlichen Aufbruch haben Großbritanniens Brexit-Begeisterte ihr eigenes Land, ihre Mitbürger im europäischen Ausland und Europa insgesamt ganz ohne Not in ein Großexperiment mit völlig offenem Ausgang gestürzt.

Wo auch immer ratlose Brexiteers vom Schlage David Davis oder Boris Johnson neuerdings lamentieren, wie beschwerlich und unübersichtlich das ganze Projekt doch geworden sei, da sollte man ihnen in Erinnerung rufen: Ihr selbst habt dieses Debakel doch angerichtet! Ihr habt Euch – und uns anderen – diese Suppe eingebrockt; nun habt wenigstens den Anstand, sie wieder auszulöffeln! Sogar die (ihrerseits ganz unschuldige) Berliner Republik hilft dabei nach Kräften mit: Die Analysen unserer Autorinnen und Autoren im Schwerpunkt dieses Hefts schlagen wichtige Verständnisschneisen durch das Post-Brexit-Dickicht.

Als neuen ständigen Kolumnisten begrüßen wir in dieser Ausgabe Philip Oltermann, der im Alter von 16 Jahren von Deutschland nach England zog, dort blieb und heute als „Outsider Insider“ für den Guardian aus Berlin berichtet. Vielleicht kann auch dies einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass Briten und Deutsche beieinander bleiben. Willkommen an Bord, Philip!

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