Rettet Europa vor dem Euro!

Was die Eliten Europas nicht wahrhaben wollen: Die Ursache der europäischen Misere ist die Währungsunion. Der Versuch ihrer Rettung ruiniert nicht nur Wirtschaft und Demokratie in den Defizitländern, sondern erzeugt auch Misstrauen, Verachtung und Feindschaft zwischen den europäischen Völkern. Deshalb geht es heute nicht mehr darum, mit dem Euro zugleich Europa zu retten. Vielmehr gilt umgekehrt: Wem Europa am Herzen liegt, der muss den Abschied vom Euro befürworten.

Die Strukturen der Währungsunion und die Regeln des Vertrages von Maastricht haben die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise in der Eurozone verursacht. Hält die Politik weiterhin an diesen fest, wird sie die Probleme noch verschlimmern. Zu den für die Entstehung der Krise verantwortlichen Strukturen gehört neben der einheitlichen Währung selbst und der Zentralisierung der Geld- und Währungspolitik auch die im Binnenmarkt garantierte unbeschränkte Kapitalverkehrsfreiheit. Kritische Bedeutung haben zudem die Defizit- und Schuldengrenzen des Stabilitätspaktes, die No-bailout-Klausel, das Verbot der monetären Staatsfinanzierung und die Unauflöslichkeit der Mitgliedschaft in der Währungsunion. Manche dieser Regeln haben Politiker in den vergangenen Jahren mit großer Selbstverständlichkeit, wenn auch mit schlechtem Gewissen, ignoriert. Aber sie werden in der europäischen Politik nicht grundsätzlich in Frage gestellt – und alle gegenwärtig in Angriff genommenen Reformen zielen auf ihre Wiederherstellung und Verstärkung.

Im Folgenden werde ich zunächst die strukturellen Ursachen der Krise darstellen. Anschließend diskutiere ich die systematischen Beschränkungen und verheerenden Folgen der Euro-Rettungspolitik, wenn sie im strukturellen Rahmen der Währungsunion betrieben werden muss. Dabei werde ich auch auf die kritischen Einwände gegen meine Position eingehen, die Anke Hassel und Waltraud Schelkle in Heft 5/2011 der Berliner Republik vorgetragen haben.

1. Die strukturellen Ursachen der Eurokrise

Auch Hassel und Schelkle gehen davon aus, dass die Fehlentwicklungen, die zu der jetzigen Krise führten, schon in der Zeit zwischen dem Übergang zur Währungsunion und dem Beginn der weltweiten Bankenkrise im Herbst 2008 stattfanden. So gesehen war der Zusammenbruch von Lehman-Brothers nur der Auslöser, aber nicht die Ursache der Eurokrise. Sie stimmen mir auch darin zu, dass die einheitliche Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in einer uneinheitlichen Währungsunion die Unterschiede zwischen Ländern mit einerseits überdurchschnittlichen und andererseits unterdurchschnittlichen Wachstums- und Inflationsraten nicht ausgleicht, sondern systematisch verstärkt, und dass eben dies die eskalierenden Ungleichgewichte zwischen den heutigen Überschuss- und Defizitländern in der Eurozone verursacht hat. Aber ihnen erscheint dieser Effekt nicht besonders problematisch. Dies erfordert eine genauere Argumentation.

Der Vorgänger der Währungsunion war das 1979 von Helmut Schmidt und Valérie Giscard d’Estaing gegründete „Europäische Währungssystem“ (EWS). Es sollte die Fluktuation der Wechselkurse dämpfen, die den Handel zwischen den europäischen Nachbarländern belastete. Seine Mitglieder verpflichteten sich, die eigene Währung innerhalb einer gewissen Schwankungsbreite an den gemeinsamen Währungskorb des ECU zu binden. In der Tat reduzierte das EWS die Schwankungen erheblich, aber da die nationale Geldpolitik in einigen Mitgliedsländern die Inflation nicht auf das niedrige deutsche Niveau reduzieren konnte, kam es immer wieder zu (gemeinsam beschlossenen) Abwertungen. Der Padoa-Schioppa-Bericht von 1987 schlug deshalb eine verbesserte Koordination vor, aber die Delors-Kommission setzte sich mit französischer Unterstützung für eine Währungsunion ein. Diese wurde schließlich im Rahmen der Verhandlungen über die Wiedervereinigung auch von Deutschland akzeptiert.

Es ging um weit mehr als nur um den angestrebten Übergang zu einem Regime der festen Wechselkurse, wie es in der Zeit des internationalen Goldstandards vor dem Ersten Weltkrieg bestanden hatte. Dabei behalten die Länder ja eine eigene Währung, und die Zentralbanken müssen Zahlungen ins Ausland durch die parallele Übertragung von Gold- und Devisenreserven ermöglichen. Wenn also in einer Überkonjunktur die Reserven wegen steigender Importe abnehmen, dann zwingt eine drohende Zahlungsbilanzkrise die nationale Zentralbank zur Intervention. Um die Binnennachfrage zu dämpfen und ausländisches Kapital anzulocken, müsste sie die Zinsen erhöhen. Umgekehrt müsste sie bei stagnierender Wirtschaft die Zinsen senken, um die Binnenkonjunktur und damit auch die Importnachfrage zu stimulieren.

Mit anderen Worten: In einem System der festen Wechselkurse muss die Geld-politik der Zentralbanken auf konjunkturelle Unterschiede und deren Auswirkung auf die nationalen Zahlungsbilanzen reagieren, um das Gesamtsystem zu stabilisieren. Die Währungsunion dagegen beseitigt das Warnsignal der Zahlungsbilanz, und zugleich wird der Hebel der Geldpolitik auf die Europäische Zentralbank übertragen. Diese aber kann nicht auf unterschiedliche Konjunkturen in den einzelnen Ländern eingehen, sondern muss sich an den Durchschnittswerten der Eurozone orientieren. Weil einheitliche Euro-Zinsen bei höheren Inflationsraten zu niedrigeren (und im umgekehrten Fall zu höheren) Realzinsen führen, kann die einheitliche Geldpolitik die Abweichung der einzelnen Länder vom Euro-Durchschnitt nicht korrigieren, sondern muss sie verstärken. Eben dies ist geschehen.

Hassel und Schelkle verharmlosen den systemischen Charakter und die Eigendynamik der Fehlentwicklungen, wenn sie (mit einem Teil der ökonomischen Literatur) darauf hoffen, dass „unterschiedliche Realzinsen auch eine Chance für beschleunigtes nachholendes Wachstum bieten“ können. Im Prinzip ja. Aber dieses Wachstum bleibt kreditfinanziert und konsumgetrieben, und es verschärft deshalb die internationalen Ungleichgewichte. Anders als unter einem Regime fester Wechselkurse können die Käufer in den Defizitländern nun Importe vom eigenen Konto bezahlen, ohne dass ihre Zentralbank dafür Gold oder Devisen transferieren müsste. Und wenn das eigene Konto dafür nicht reicht, dann können sie bei ihrer Bank einen Eurokredit zu niedrigen Realzinsen aufnehmen, den das Geldhaus durch noch billigere Interbankkredite aus den Überschussländern refinanziert. Deren Banken wiederum suchen nach ausländischen Anlagemöglichkeiten für die bei ihnen einbezahlten Exporterlöse, die im Inland nicht konsumiert oder investiert werden können.

In den Defizitländern führte die kreditfinanzierte Nachfrage also ungehindert zu steigenden Importen. In der Binnenwirtschaft kam sie in erster Linie dem Baugewerbe und den lokalen Dienstleistungen zugute, während bei den handelbaren Gütern die lokale Produktion verdrängt wurde – aufgrund steigender Löhne und Preise im Inland. Wer sollte unter solchen Bedingungen überhaupt bereit sein, Investitionen zur Steigerung der Produktivität in den exportorientierten Wirtschaftszweigen zu tätigen?

Kurz, das statistische Wachstum in den Defizitländern blieb ein kreditfinanziertes Strohfeuer, während die steigenden Lohnstückkosten die internationale Wettbewerbsfähigkeit immer mehr untergruben. Da aber die Änderung der nominalen Wechselkurse ausgeschlossen war, entsprach der wirtschaftlichen Fehlentwicklung nun die Divergenz der realen effektiven Wechselkurse. In der Periode zwischen 2000 und 2008 war dieser Wert für die deutsche Wirtschaft um mehr als 10 Prozent gefallen. In Irland, Griechenland und Spanien dagegen war er um 20 Prozent und in Portugal um 5 Prozent gestiegen. Im gleichen Maße wurden (und werden immer noch) die deutschen Exporte subventioniert und die Exporte der Defizitländer belastet.

Im Ergebnis erzeugte die Währungsunion also einen perfekten Teufelskreis. Die einheitliche Geldpolitik verstärkte auf der einen Seite die Defizite und auf der anderen Seite die Überschüsse der Leistungsbilanzen. Diesen entsprachen komplementäre und scheinbar risikolose Kapitaltransfers aus den Überschuss- in die Defizitländer. Das Ergebnis waren kontinuierlich zunehmende Diskrepanzen der realen effektiven Wechselkurse, die ihrerseits die Unterschiede in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Euroländer kontinuierlich verstärkten. Aber ohne die Warnsignale der Zahlungsbilanzen blieben die dadurch erzeugten Probleme für die nationale wie für die europäische Politik latent.

2. Ohne Alarmglocken keine Feuerwehr

Die Überschussländer sorgten sich so wenig um die wachsenden Guthaben im Ausland wie die Defizitländer um die wachsende Abhängigkeit ihrer Wirtschaft von ausländischen Krediten. Und solange dort die Arbeitslosigkeit zurückging, weil Beschäftigungsverluste im Exportsektor durch das Wachstum lokaler Dienstleistungen überkompensiert wurden, erschien auch der progressive Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit nicht als ein akutes Problem der nationalen Politik. Aber selbst wenn die Regierungen auf die wachsenden Ungleichgewichte der Leistungsbilanzen und der realen Wechselkurse hätten reagieren wollen, hätten ihnen dafür die Instrumente der makroökonomischen Globalsteuerung gefehlt. Sie wären also auf mikroökonomische Interventionen angewiesen gewesen, indem sie etwa, wie Hassel und Schelkle nahelegen, auf anormale Preissteigerungen mit Regulierungen oder Abgaben reagiert hätten. Nur entsprächen derart dirigistische Eingriffe gewiss nicht der monetaristisch-neoliberalen Doktrin, die der Währungsunion zugrunde liegt.

Ebenso wenig Anlass zur Intervention hatten die von der Währungsunion geschaffenen Kontrollinstanzen. Die Europäische Zentralbank war stolz darauf, dass sie den Anstieg der Verbraucherpreise in der Eurozone sogar noch unter dem zuvor von der Bundesbank erreichten Niveau stabilisieren konnte. Zwar waren die Inflationsraten in den Defizitländern immer höher als in Deutschland, aber für die Erfolgsbilanz der EZB kam es ja nur auf den Euro-Durchschnitt an. Und dafür zählte die überhitzte Immobilienkonjunktur in Irland und Spanien nicht, weil eskalierende „Vermögenspreise“ für das Mandat der Bank nur dann eine Rolle spielen, wenn sie sich auch auf die Verbraucherpreise auswirken. Solange dies nicht geschah, war für die EZB die Welt des Euro völlig in Ordnung. Und selbst wenn sie sich um die wachsenden Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten hätte kümmern wollen – ihr fehlten schlicht die geldpolitischen Instrumente, um in der ersten Hälfte des Jahrzehnts die deutsche Wirtschaft expansiv und die irische, spanische und griechische Wirtschaft restriktiv zu steuern.

Für die Kommission schließlich war unter dem Stabilitätspakt die rasch eskalierende private Verschuldung überhaupt kein Thema. Ihr Auftrag beschränkte sich auf die Schulden der Staaten. Und wenn man vom (nicht erkannten) griechischen Sonderfall absieht, gab es hier kaum Grund zur Besorgnis. In Portugal und Italien entsprach die moderate Überschreitung der Defizitgrenze der eher schwachen Entwicklung der Wirtschaft – ebenso wie zuvor in Deutschland. Irland und Spanien dagegen nutzten ihr stärkeres Wirtschaftswachstum, um deutliche Haushaltsüberschüsse zu erzielen und um die Gesamtverschuldung weit unter die Maastricht-Grenze (und noch weiter unter das deutsche Niveau) zu senken. Es ist deshalb eine historisch unhaltbare Fehldeutung, wenn heute in Berlin, Frankfurt, Brüssel und Luxemburg die Schuld an der Eurokrise den Regierungen der Defizitländer und ihrer verantwortungslosen Schuldenpolitik zugeschrieben wird.

3. Von der Lehman-Bankenkrise zur Staatskreditkrise

Die scheinbare Erfolgsgeschichte der Währungsunion endete im Herbst 2008 mit dem Bankrott der Lehman-Bank und dem Beginn der internationalen Finanzkrise. In der ersten Runde waren davon vor allem die Banken in den Überschussländern betroffen, die amerikanische Schrott-Hypotheken gekauft hatten. Die nachfolgende Kreditklemme traf dagegen vor allem Banken in den Defizitländern, die nun ihren Refinanzierungsbedarf nicht mehr auf dem Interbankenmarkt decken konnten. Zugleich mussten aber auch die Banken in den Überschussländern um ihre ausstehenden Kredite fürchten. Auf beiden Seiten retteten deshalb die Regierungen die „systemrelevanten“ Banken – ohne jede Rücksicht auf den Stabilitätspakt. Somit wurden hier wie dort private Risiken in Staatsschulden transformiert.

In den Defizitländern waren die Kosten der Bankenrettung besonders hoch und der Anstieg der Staatsschuld deshalb besonders steil. Zugleich wurde die reale Wirtschaft dort durch den Ausfall der Kreditfinanzierung in eine besonders tiefe Krise getrieben. Und angesichts der enormen Leistungsbilanzdefizite bezweifelten schließlich auch die Rating-Agenturen die Fähigkeit der Regierungen, die Staatsschuld zu bedienen und zurückzuzahlen. Deshalb stiegen die Risikozinsen zunächst in Griechenland und danach in Irland, Portugal und Spanien auf eine Höhe, die eine Staatsinsolvenz möglich erscheinen ließ – die ihrerseits wiederum die Existenz der Gläubigerbanken in Frankreich, Deutschland und in anderen Überschussländern bedroht hätte.

Die Lehman-Krise hatte also zunächst die in der Währungsunion aufgetürmten privaten Schulden- und Kreditpyramiden einstürzen lassen. Die Regierungen transformierten dann die schlechten Risiken der privaten Gläubiger in Staatsschulden, und als die „Märkte“ deren Sicherheit in Frage stellten, entwickelte sich daraus eine Staatskreditkrise, die die Existenz des Euro – und in deutscher Lesart sogar der Europäischen Union – zu gefährden schien. Auf diese Gefahr reagierten schließlich die Regierungen der Überschussländer, indem sie im Mai 2010 zunächst einen „Rettungsschirm“ für Griechenland und später, als die Kreditkrise auch weitere Länder erfasste, zunächst den europäischen Stabilisierungsfonds EFSF und schließlich den noch größeren Stabilisierungsmechanismus ESM institutionalisierten.

Außerhalb von Deutschland sind die meisten Ökonomen davon überzeugt, dass die Staatskreditkrise durch eine rasche und umfassende europäische Garantie hätte gestoppt werden können. Stattdessen orientierte sich die deutsche Regierung zunächst an der No-bailout-Klausel des Maastricht-Vertrages – ehe sie einsah, dass deren Befolgung die nächste Bankenkrise in Deutschland, Frankreich und anderen Gläubigerländern zur Folge haben müsste. Aber weil man fälschlicherweise die unverantwortliche Finanzpolitik der Defizitländer als eigentliche Ursache der Krise ansah, wurden die jeweils unvermeidlichen Garantien und Kredite immer so spät wie möglich, so begrenzt wie möglich und mit so harten Sparauflagen wie möglich gewährt. Und weil diese Sparauflagen die ohnehin fallende Nachfrage in den Defizitländern noch weiter reduzierten und ihre Wirtschaft immer tiefer in die Krise trieben, stiegen die Defizite, statt zu sinken. Die Staatskreditkrise erfasste immer mehr Länder, deren Fähigkeit zur Refinanzierung der Staatsschuld ebenfalls in Frage gestellt wurde. Ihr Ende ist auch jetzt noch nicht abzusehen.

4. Von der Staatskreditkrise zur Spaltung Europas

Ebenso wie viele andere Ökonomen erwarten Hassel und Schelkle, dass die Staatskreditkrisen der Euroländer beendet würden, wenn nur Bundeskanzlerin Angela Merkel den Widerstand gegen Eurobonds aufgäbe. Das mag zutreffen. Aber da Eurobonds die Kosten der Refinanzierung der deutschen Staatsschuld spürbar erhöhen würden, wäre es wohl leichter, die Zustimmung Deutschlands für eine Bankenlizenz des Rettungsfonds oder für andere, nicht unmittelbar haushaltswirksame Formen einer monetären Staatsfinanzierung zu gewinnen. Solange auch solche Kredite nur im Rahmen der normalen Kriterien der EZB-Geldpolitik gewährt werden, wären ja besondere Inflationsgefahren nicht zu befürchten. Aber dann könnten die Kapitalmärkte die europäische Politik nicht länger mit der drohenden Insolvenz des einen oder anderen Eurostaates vor sich her treiben. Dann wäre endlich auch der Blick frei auf die viel schwerer zu bewältigenden realen Krisen in den Defizitländern und die drohende wirtschaftliche und politische Spaltung Europas.

Hassel und Schelkle unterschätzen diese Probleme, wenn sie die „theoretisch fragwürdige Idee eines optimalen Währungsraums“ kritisieren und fordern, „den Stier bei den Hörnern zu packen und die Eurozone bereits jetzt als einen einheitlichen Wirtschaftsraum zu betrachten“. Schließlich, so meinen sie, habe ja auch die innerdeutsche Währungsunion „zwei sehr unterschiedliche Wirtschaftsräume zwangsintegriert“. Das ist wohl wahr. Aber der Vergleich kann nur entmutigen. Anders als Tschechien oder Ungarn, die nach dem Fall der Mauer mit eigener Währung Wettbewerbsfähigkeit erlangten, wurde die DDR als Folge der deutsch-deutschen Währungsunion effektiv deindustrialisiert. In zwei Jahrzehnten haben West-Ost-Transfers in Billionenhöhe zwar die Sozialeinkommen und die öffentliche Infrastruktur auf das westdeutsche Niveau angehoben. Aber sie haben nur wenige Inseln eines selbsttragenden Wirtschaftswachstums hervorgebracht – und sie haben die ökonomisch verheerende und politisch gefährliche Abwanderung aus ostdeutschen Regionen nicht verhindern können.

Die europäischen Defizitländer könnten auf solche Transfers, die drei Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts erreichten, gewiss nicht hoffen. Die EU verfügt ja weder über eine zentrale Rentenversicherung, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung, die ihnen die Kosten der Massenarbeitslosigkeit abnähmen, noch existiert ein horizontaler und vertikaler Finanzausgleich, der die Unterschiede der Steuerkraft egalisieren würde. Und wenn all diese Transfers in Deutschland dazu nicht gereicht haben, wie sollten dann die von Hassel und Schelkle favorisierten Eurobond-Kredite oder auch der von deutschen Sozialdemokraten und Gewerkschaften geforderte „europäische Marshallplan“ in den Defizitländern einen nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung in Gang bringen? Wahrscheinlich ist vielmehr eine dauerhafte wirtschaftliche Spaltung des Euro-Raumes.

5. Der Zwang zur realen Abwertung

Ohne die Währungsunion könnten die Defizitländer eine massive Abwertung nicht vermeiden. Diese würde die Importe so verteuern und die Exporte derartig verbilligen, dass die inländische Produktion im Preiswettbewerb auf den heimischen wie den ausländischen Märkten wieder eine Chance bekäme. Dann könnten auch Investitionen wieder rentabel erscheinen, und befristete Subventionen könnten nachhaltiges Wachstum bewirken. Nichts davon würde freilich erreicht, wenn die Abwertung nur die Erwartung weiterer Abwertungen provozieren würde. Deshalb hinge alles davon ab, ob die Gewerkschaften bereit und in der Lage wären, trotz der steigenden Importpreise auf Lohnsteigerungen zu verzichten. Dies wäre schwierig, aber nicht ausgeschlossen.

Wenn man aber an der Währungsunion festhält und damit die nominale Abwertung ausschließt, dann könnten die massiven Wettbewerbsnachteile der Defizitländer nur durch eine reale Abwertung überwunden werden. Theoretisch erfordert dies eine drastische Senkung der Lohnstückkosten, um die Chancen der inländischen Produktion im In- und Ausland zu verbessern. Dazu könnten produktivitätssteigernde Investitionen beitragen. Aber solange die Rentabilität fehlt, werden diese nicht zustande kommen. Deshalb erfordert die reale Abwertung eine drastische und möglichst rasche Senkung der nominalen Lohnkosten.

Für drastische Kürzungen der Nominallöhne kann jedoch – anders als für den Verzicht auf Lohnsteigerungen nach einer nominalen Abwertung – die Zustimmung der Gewerkschaften nicht erwartet werden. Gesetzliche Lohnkürzungen sind im öffentlichen Sektor möglich, dienen dort aber nur der Verminderung von Haushaltsdefiziten. Im Privatsektor dagegen kann der Staat zwar den gesetzlichen Mindestlohn kürzen, aber schon die Definition und erst recht die Kontrolle ökonomisch angemessener Löhne für die diversen Tätigkeiten und Qualifikationen in Industrie- und Dienstleistungsunternehmen würde die Kapazität der Defizitländer hoffnungslos überfordern. Dafür gibt es auch keinerlei historische Beispiele in anderen kapitalistischen Demokratien.

Deshalb kann die nominale Lohnsenkung allenfalls vom „Markt“ erzwungen werden. Unter dem Druck der Massenarbeitslosigkeit ist dieser Prozess auch überall in Bewegung gekommen. Aber er ist langwierig, und nur in Irland zeigen sich jetzt erste Effekte in der Leistungsbilanz. Um den Prozess zu beschleunigen, setzt die europäische Politik deshalb auf den Wettbewerb zwischen den Beschäftigten und den Arbeitslosen. Dabei geht es nicht nur um die Deregulierung der Dienstleistungen und den Abbau des Kündigungsschutzes, sondern auch um das union busting nach dem Vorbild von Margaret Thatcher und Ronald Reagan. In Griechenland beispielsweise fordert die „Troika“ die Abschaffung der Tarifautonomie, die Beseitigung des Vorrangs von Tarifverträgen vor Betriebsvereinbarungen und die Zulassung von Betriebsgewerkschaften.

Unter dem Druck der Massenarbeitslosigkeit können die radikale Dezentralisierung der Lohnbildung und der Wettbewerb unter den Arbeitnehmern in der Tat die Lohnkosten drücken und höhere Gewinne ermöglichen. Freilich reagieren de-institutionalisierte Arbeitsmärkte auch extrem flexibel auf Änderungen der lokalen Knappheitsverhältnisse – mit der Folge, dass der Fachkräftemangel die Lohnkosten in erfolgreichen Unternehmen rasch wieder steigen lassen würde. Schließlich hat Thatchers erfolgreiches union busting die britische Industrie nicht gerettet, während die starken Gewerkschaften in Finnland, Schweden, den Niederlanden, Österreich und Deutschland wesentlich zur Bewältigung des Strukturwandels der letzten Jahrzehnte beigetragen haben. Wenn die reale Abwertung überhaupt erreicht werden könnte, wäre ihr ökonomischer Effekt also ambivalent. Sie begünstigte die Ausbildung einer Niedriglohn-Wirtschaft, deren strukturelle Bedingungen die Erschließung neuer Märkte durch hochwertige und innovative Produkte und Dienstleistungen eher behindern würden.

Aber ohne die reale Abwertung kann es keine nachhaltige Belebung der Wirtschaft in den Defizitländern geben. Deshalb hat der Ex-Wettbewerbskommissar Mario Monti im Prinzip recht: Nötig ist eine Wachstumspolitik, die Investitionen subventioniert. Diese können jedoch erst wirken, wenn in den Defizitländern zuvor eine radikale Version der europäischen Wettbewerbs- und Deregulierungspolitik verwirklicht wurde. Sie ist, wenn der Euro gerettet werden soll, ökonomisch „alternativlos“. Aber das heißt noch nicht, dass sie auch gegen den Protest der Wähler, gegen den Widerstand der noch keineswegs entmachteten Gewerkschaften und mit den vorhandenen Mitteln des Staatsapparats durchgesetzt werden könnte. Scheitert sie jedoch, dann droht den Defizitländern in der Eurozone nicht nur eine langwierige Stagnation, sondern eine wirtschaftliche Erosion mit Massenarbeitslosigkeit, zunehmender Verarmung und mit der Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte. Bestenfalls kann dort ein dauerhaft von sozialpolitisch motivierten Transfers abhängiger europäischer Mezzogiorno entstehen.

6. Die politischen Kosten der Euro-Rettung

Diese Risiken nimmt die europäische Politik in Kauf, um den Euro – und damit nach Angela Merkels Meinung auch Europa – zu retten. Zu den Kosten der Euro-Rettung gehören jedoch nicht nur die wirtschaftliche und soziale Spaltung Europas, sondern auch die Erosion der Demokratie und des politischen Zusammenhalts in Europa. Demokratie setzt voraus, dass die Bürger über die Politik Einfluss auf ihr kollektives Schicksal ausüben können. Die Währungsunion hat mit der Geld- und Währungspolitik die wirksamsten wirtschaftspolitischen Instrumente der Mitgliedsstaaten zentralisiert. Das Ergebnis war die Eurokrise. Nun werden zu deren Bewältigung mit dem europäischen Fiskalpakt und mit den von Rat und Parlament beschlossenen „Sixpack“-Verordnungen auch die noch verbliebenen nationalen Kompetenzen einer zentralen Detailsteuerung unterworfen. Insbesondere das Verfahren zur „Verhinderung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“ hat dafür rechtlich fast unbegrenzte Weisungsrechte der Kommission eingeführt. Diese gelten auch keineswegs nur gegenüber Schuldnerstaaten, die Hilfen aus den Rettungsfonds in Anspruch nehmen, sondern gegenüber allen Mitgliedsstaaten der Währungsunion. Im Ergebnis werden dadurch auf Politikfeldern von höchster Bedeutung für die Lebensbedingungen und die Lebenschancen der Bürger die Wahlmöglichkeiten der nationalen Politik weitgehend beseitigt. Die Legitimationskraft demokratischer Prozesse schwindet schon, wenn die nationale Politik aufgrund ökonomischer Notwendigkeiten „alternativlos“ wird. Aber wenn sie zum Vollzug europäischer Anweisungen gezwungen wird, dann ersetzt Fremdherrschaft die demokratische Selbstregierung auf der nationalen Ebene.

Die europäische Krisenpolitik könnte also nur auf der europäischen Ebene legitimiert werden, deren Instanzen sie definieren und gegenüber den betroffenen Staaten durchsetzen. Bei den Interventionen in die Kompetenzbereiche der nationalen Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik handelt es sich um höchst kontingente Ermessensentscheidungen, die nicht an vorgegebene rechtliche Regeln gebunden werden können. In der Sache können sie nur von der Kommission getroffen werden. Diese selbst aber besitzt nicht die Legitimation einer demokratisch verantwortlichen europäischen

Regierung. Deshalb wird die formale Verantwortung den Regierungen der Euro-Gruppe zugeschrieben, obwohl diese die Kommission allenfalls mit „umgekehrt qualifizierter Mehrheit“ stoppen könnten. Mit diesem Formalismus wird keine demokratische Legitimität gewonnen. Die Regierungen selbst sind durch ihre Wähler und Parlamente zwar legitimiert, Verpflichtungen für das eigene Land zu übernehmen, aber sie haben kein demokratisches Mandat, das sie zu Ermessenentscheidungen über die Politik und das Schicksal anderer Länder legitimiert. Und selbst das Europäische Parlament wäre allenfalls zur Mitwirkung an allgemeinen Regelungen im Rahmen der europäischen Gesetzgebung, aber eben nicht zu diskretionären Einzelfallentscheidungen legitimiert.

Anders formuliert: Die derzeitige Politik zur Bewältigung der Eurokrise kann nur als ein Notstandsregime qualifiziert werden, das die demokratischen Prozesse in den Mitgliedsstaaten ausschaltet, und dem auch auf der europäischen Ebene die demokratische Legitimation fehlt. Sie wird von den Regierungen der Gläubigerländer und der Kommission durchgesetzt in der kaum noch plausiblen Hoffnung, auf diese Weise eine noch gefährlichere Finanzkrise abwenden zu können. Und das Europaparlament und die pro-europäischen Eliten in den Mitgliedsstaaten verschließen die Augen vor der manifesten Legitimationskrise in der noch weniger plausiblen Hoffnung, über das Notstandsregime den Durchbruch zur Demokratie in einem europäischen Bundesstaat erreichen zu können. Wenn aber die Währungsunion selbst die Ursache der Systemkrise ist, und wenn ihre Verteidigung in den Defizitländern die Wirtschaft und die Demokratie ruiniert und zwischen den europäischen Völkern Misstrauen, Verachtung und Feindschaft erzeugt, dann geht es nicht mehr darum, mit dem Euro zugleich Europa zu retten. Sondern es geht darum, Europa vor dem Euro zu retten.

7. Aber was dann?

Die europäische und die deutsche Politik haben bisher Alternativen zur Euro-Rettung kategorisch ausgeschlossen. Deshalb fehlen Konzepte für einen möglichen Ausstieg aus dem Euro, die wenigstens einfache Plausibilitätstests auf ihre Praktikabilität und auf erwartbare Nebenfolgen bestanden haben. Sie können auch hier nicht aus dem Hut gezaubert werden. Überzeugend erscheinen allerdings die Warnungen vor einem einseitigen Ausschluss oder Austritt Griechenlands, der in der Tat katastrophale Auswirkungen im Land hätte, der Kapitalflucht, Kettenreaktionen in anderen Schuldnerländern und unkontrollierte Aufwertungen der anderen Währungen lostreten würde. Stattdessen ginge es um eine gemeinsame und geordnete Rückkehr zu dem Regime des früheren, aber in wichtigen Punkten zu verbessernden Europäischen Währungssystems – also zu einem EWS II.

Um unkontrollierte Turbulenzen zu vermeiden und Zeit für eine dauerhafte Umstellung zu gewinnen, müsste die gemeinsame Währung in einem einzigen Akt durch nationale Währungen ersetzt werden, die durch feste Wechselkurse aneinander und an eine gemeinsame Referenzwährung gebunden sind. Zur Minimierung von Transaktionskosten wäre es zudem sinnvoll, zunächst alle nationalen Währungseinheiten im Verhältnis 1:1 zum Euro festzusetzen. Die Festlegung begrenzter Schwankungs-Bandbreiten wäre dann Sache späterer Verhandlungen, und die notwendige Auf- oder Abwertung einzelner Währungen würde – wie im früheren EWS I üblich – von Fall zu Fall in besonderen Verfahren beraten und beschlossen werden.

Wenn dann die Währungsrelationen mit Blick auf die Relation der Lohnstückkosten einigermaßen ausgeglichen wären, könnten die Strukturhilfen eines „europäischen Marshallplans“ tatsächlich wirksam werden. Vor allem aber könnte die demokratisch verantwortete nationale Wirtschaftspolitik die Entwicklung der eigenen Wirtschaft wieder wirksam beeinflussen. Freilich müsste sie dabei auch wieder die Restriktionen einer eigenen Zahlungsbilanz respektieren. Die Geldpolitik der nationalen Zentralbanken hätte dann wieder die Aufgabe, die eigene Währung innerhalb der vereinbarten Bandbreite zu halten. Aber um die gravierenden Koordinationsdefizite im früheren EWS I zu vermeiden, sollten sie dabei durch einen Europäischen Währungsfonds unterstützt werden, dessen Mittel ausreichen, um kurzfristige Zahlungsbilanzdefizite durch Devisenkredite auszugleichen.

Diese Skizze ist nicht als Blaupause eines Reformprogramms zu verstehen. Sie soll lediglich andeuten, dass es nicht aussichtslos wäre, nach Alternativen zum „alternativlosen“, aber katastrophalen Programm der Euro-Rettung um jeden Preis zu suchen. Diese Suche ist nötig, auch wenn die möglichen Lösungen erst dann eine politische Chance erhalten können, wenn die gegenwärtige Politik ökonomisch und politisch gescheitert ist. Man kann nur hoffen, dass Europa und die Demokratie in Europa dann noch in einer Verfassung sein werden, die eine Rettung ermöglicht.


zurück zur Ausgabe