Wo die Banken herrschen, ist der Fortschritt ohne Chance



1 Das Fortschrittsbewusstsein der Sozialdemokratie basiert auf der Verbindung zweier Perspektiven. Da ist auf der einen Seite der materielle Fortschritt, die Entwicklung der Produktivkräfte, getrieben von Wissenschaft und Forschung, welche die Grundlage der allgemeinen Wohlstandsmehrung bilden. Auf der anderen Seite gibt es den sozialphilosophischen Fortschritt, der sich in der Mehrung staatsbürgerlicher Rechte aller, dem Ausbau (wirtschafts-)demokratischer Teilhabe der Arbeiterschaft und der Steigerung des sozialen Status des Einzelnen manifestiert. Dass die politische Einhegung des materiellen Fortschritts auch dessen weiterer Entwicklung diene, war das Credo während des Win-Win-Modells gesellschaftlicher Entwicklung der Trentes Glorieuses, in denen die Sozialdemokratie zur Volkspartei avancierte.

Seit zwei Jahrzehnten ist sie nunmehr mit der paradoxen Situation konfrontiert, dass sie die beiden Typen des Fortschritts nicht mehr in politischen Einklang bringen kann, dieser Einklang aber nach wie vor zur Grundlage ihres Selbstbildes und zum Maßstab ihres Erfolges genommen wird.
Zum einen hat sich die Dynamik des materiellen Fortschritts durch die Globalisierung in einer Weise potenziert, dass der rechtsphilosophische Fortschritt in seiner nationalstaatlichen Begrenzung nicht mithalten kann. Letzterer erweist sich als Fessel des Ersteren. Die Erfolge sozialdemokratischer Parteien in den neunziger Jahren basierten überall auf einem mehr oder minder gelungenen Anpassungsmanagement, mit dem diese Fesseln gelockert wurden, ohne dass jedoch zugleich eine supranationale Einhegung ins Werk gesetzt wurde. Der Preis waren erhöhte Statusunsicherheit und gesellschaftliche Ungleichheit sowie der Verlust von Vertrauen in den Staat im Allgemeinen und in die Sozialdemokratie im Besonderen.  

Zum anderen ist die Dynamik des materiellen Fortschritts an drei Grenzen gestoßen: Die Finanzkrise hat eine systemische Fehlentwicklung des globalen Kapitals, Fukushima hat die katastrophalen Folgen einer technologischen Entwicklung und der Klimawandel die fatalen Konsequenzen des kapitalistischen Wachstumsmodells offensichtlich gemacht.

2 Damit zeichnen sich die veränderten cleavages ab, entlang derer sich die Sozialdemokratie zukünftig wird positionieren müssen. Die mit Klimawandel und Atomausstieg verbundene Norm der Generationengerechtigkeit steht in einem bislang noch kaum wahrgenommenen Spannungsverhältnis zu den Anforderungen sozialer Gerechtigkeit, das sich in dem Maße verschärft, wie das kapitalistische Wachstumsmodell ökologisch transformiert wird. Das Vertrauen in die Selbstregulierungsfähigkeit der Wirtschaft hat sich erschöpft. Dieser Prozess verlangt ein höheres Maß an staatlicher Steuerung, dem aufgrund der Transformation womöglich gar schwindende fiskalische Ressourcen gegenüberstehen. Zugleich muss der Staat zur Gewährleistung seiner Handlungsfähigkeit und seiner Unabhängigkeit von den Kapitalmärkten Schulden abbauen.

3 Entsprechend ihren jeweiligen Positionierungen wird sich die Politik der Parteien zwischen den Polen Ökonomie, Ökologie, Staat(sverschuldung) und soziale Frage neu auffächern.

Diese Positionierungen sind pfadabhängig, und derzeit ist die Ökologie der einzige Pfad, auf dem die Sozialdemokratie unbeschwert zu „neuem Fortschritt“ schreitet. Hingegen besteht bei den beiden letzten Punkten, die den sozialdemokratischen Kern ausmachen, erhebliche Unklarheit über die Richtung. Die SPD ist in großen Teilen nach wie vor im alten Fortschrittsbegriff verfangen, weshalb es ihr schwer fällt, dem Abbau der Staatsverschuldung den Primat einzuräumen, den sie verfassungsrechtlich antizipiert hat. Sie tendiert noch immer dazu, in Staatsschulden die Variable einer sozialen Politik zu erkennen, die sich am Ende auszahlt. Dem zugrunde liegt das alte Fortschrittsversprechen, das Schicksal des Einzelnen lasse sich durch die staatliche Steuerung der Umstände seiner Existenz zum Besseren wenden. Dabei kann sie schon lange nicht mehr eines jeden Lage verbessern – aber sie kann ihn in die Lage versetzen, es selbst zu tun. Eine solche Politik des „Enabling“ war das realistische Leitbild der sozialdemokratisch geprägten Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Dekade. Diese Politik krankte nicht an einem Mangel an Zuwendungen, sondern daran, dass das Fördern zwar proklamiert, aber nicht hinreichend oder gar falsch realisiert wurde. Das war nicht immer knappen Ressourcen, sondern auch einer Überanpassung an den Markt geschuldet. Unter der Parole „Sozial ist, was Arbeit schafft“ wurden Beschäftigungsverhältnisse gefördert, die das darin liegende Versprechen in sein Gegenteil verkehrten und dem Staat als Nebeneffekt beträchtliche Einnahmeverluste bereiteten. Ein Fortschritt wäre demgegenüber eine inklusive Arbeitsgesellschaft, die den Lebensunterhalt sichernde Arbeit bietet und den Einzelnen befähigt und fördert, diese tatsächlich auszuüben. Dazu muss der Staat ordnungspolitische Mindeststandards setzen und ein größerer Akteur auf dem Arbeitsmarkt werden – auch um den Preis, dass nicht-marktfähige Beschäftigungsverhältnisse wegfallen.

Das Gerechtigkeitsproblem, das sich in der Ära des „modernen Regierens“ aufgetan hat, ist weniger eines der vermehrten Armut als vielmehr eines der Konzentration des Reichtums, welche die Sozialdemokratie mit befördert hat, ohne dass es dafür eine funktionale Notwendigkeit gab. Was damals als fortschrittlich galt, hat die jetzige Finanzkrise mit befördert und bedarf der Korrektur. Auch wenn die Rettung der Banken mit Staatsgeldern akut alternativlos war, so bedeutet sie doch nicht nur eine der eklatantesten Verletzungen gesellschaftlicher Gerechtigkeitsnormen, sondern auch eine nunmehr als Staatskrise fortdauernde Dokumentation staatlichen Unvermögens, sich aus der Abhängigkeit von den Banken zu befreien und die damit einhergehenden Einkommensdisparitäten und -umverteilungen in den Griff zu bekommen. Eine Politik, die solchermaßen ihre Autonomie einbüßt, verliert ihre demokratische Legitimation. Deshalb ist die Rückgewinnung staatlicher Autonomie, die Rückzahlung staatlicher Sicherungsleistungen und der Rückbau des Finanzsektors Grundbestandteil jeden weiteren Fortschritts.

Es ist die Nagelprobe für die Zukunftsfähigkeit der deutschen wie der europäischen Sozialdemokratie. «

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