Steuern in widrigen Strömungen

zur Jubiläumsausgabe: Und jetzt weiter! Die Berliner Republik wird 15, Berliner Republik 1/2015

Den Geist des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts, jener Zeit also, in der auch die Geburtsstunde der Berliner Republik schlug, sah der kürzlich verstorbene Ulrich Beck in Anlehnung an einen Aufsatz Wassily Kandinskys durch das Wort „und“ geprägt. „Hier zerbricht das Entweder-oder der Ost-West- und der Rechts-Links-Ordnung des Politischen“, lautete damals die frohlockende Diagnose des Soziologen. „Nebeneinander“, „Vielheit“, „Synthese“ waren ihm die Stichworte des neuen Zeitgeistes. Auf die Industrie- folge die Risikogesellschaft, die Globalisierung war ihre Arena, Governance ihre Art der Selbsteinwirkung, die „Neue Mitte“ der archimedische Ort ihrer politischen Veränderung.

Wenn es eine Philosophie der rot-grünen Regierungszeit gab, so war das ihr diffuser Kern. Und wenn es ein politisches Organ dieser Philosophie gab, dann war es die Berliner Republik – und sie ist es bis heute, wie sich an der Jubiläumsausgabe studieren lässt. Doch wirken die Beiträge, vor allem diejenigen, die sich den strategischen Perspektiven der SPD widmen, mittlerweile seltsam schal geworden, zwar zukunftszuversichtlich den Worten nach, doch ist die Leidenschaft routiniert und zugleich von einer Verzagtheit, die den eigenen Ausführungen nicht mehr so recht traut. Ernüchterung hat sich breit gemacht, denn der Zuspruch zur SPD hat sich in den zurückliegenden Jahren nicht vergrößert und es gibt wenig Anhaltspunkte einer absehbaren Veränderung dieses Umstands. Die Gründe dafür wurden teils in der inneren Zerstrittenheit der Partei gesucht, teils bei einem obwaltenden neoliberalen Zeitgeist verortet, teils einer perfiden „sozialdemokratischen“ Machtpolitik der Bundeskanzlerin Angela Merkel zugeschrieben. Nichts davon ist falsch, doch klingen die Diagnosen eher entschuldigend als handlungsweisend. Die Misere scheint hartnäckigerer Natur zu sein und es stellt sich die Frage, ob bei der Suche nach den Ursachen nicht ein größerer Abstand zur Leinwand ein paar neue Einsichten befördert.

Wer die regalfüllenden wissenschaftlichen Werke und politischen Texte der Gründerzeit der Berliner Republik mit heutigem Auge liest, den verstört geradezu der positiv-dynamische Grundtenor, der den Analysen unterlag. In ihnen erschienen Globalisierung und Europäisierung außen und Flexibilisierung innen als ökonomiegetriebene Dynamiken gesellschaftlicher Transformation, die im Gegensatz zur nationalstaatlichen, korporatistisch verknöcherten Vorform nur noch der Governance als einer Feinsteuerung bedurften, um die allgemeinen Wohlstandsgewinne bis in die letzte Hütte durchsickern zu lassen. Ökonomische Freiheit wurde mit der bürgerrechtlichen in einem Gleichklang gesehen: Das war der – auch vom Autoren gesungene – Sound rot-grünen Regierens. Die Überwindung eines potenziell aggressiven Nationalismus war das zusätzliche Narrativ, das Erweiterung wie Vertiefung der EU gleichermaßen zu Prozessen von historischer Notwendigkeit erhob. Dieser Notwendigkeit war mit einer Politik des permissiven Konsenses – also einer Politik derjenigen, die diese Notwendigkeit auch einsahen – allemal genüge getan.

Dieses elitäre Politikverständnis ist bis heute der von Jürgen Habermas, Joschka Fischer und Martin Schulz intonierte basso continuo einer sich als progressiv verstehenden Europapolitik, doch es hat sich leergelaufen. Mit der Eurokrise hat sich Europa von einem politischen Projekt der Eliten zu einem Interessenfeld der Völker gewandelt, ablesbar an Aufkommen und Machtgewinn von Parteien, die partiale, regionale und nationale Interessen vertreten. Es ist ein neues Cleavage des Parteiensystems, ein mittlerweile eigendynamischer Prozess, in dem sich der Front National, die UK Independence Party, Syriza, Podemos, die AfD et tutti quanti wechselweise in dem Selbstbild bestärken, Träger eines durch das jeweilige Volk bestätigten Zeitgeistes zu sein.

So haben sich die europäischen Eliten die Politisierung ihres Projektes nicht gedacht, entsprechend hilflos abgrenzend agieren sie. Doch die pejorative Einordnung der neuen Parteien als populistisch entlastet nicht von der strategischen Aufgabe, den zugrunde liegenden Motiven nachzuspüren, zumal die Unterschiede zwischen Anhängern der etablierten Parteien und den Populisten nicht besonders ausgeprägt sind. Das Bedürfnis nach einer politischen Grenzziehung, nach einer Ordnung des souveränen Hüben und Drüben, der klaren Zuordnung von legislativer und exekutiver Entscheidung statt einer Flexibilität des „Und“ intergouvernementaler Strukturen, lässt sich auch als Antwort auf eine Globalisierung und Europäisierung lesen, in deren Dynamik der Wille des Demos – und zwar des konkreten und nicht des idealisierten – nicht die ihm gebührende Berücksichtigung findet. Noch ist unklar, ob diese Rückkehr des Nationalen ein temporärer Rückschlag ist oder sich eine dauerhaft fragile Mehrebenenordnung abzeichnet.

Eine neue Scheidelinie durchzieht Europa, es ist gespalten in Gläubiger- und Schuldnerstaaten mit den entsprechenden Orientierungen der jeweiligen Bevölkerungen, und die Sozialdemokratie hat mit dem Problem zu kämpfen, dass sie ihr verteilungspolitisches Verständnis für die soziale Lage in den Schuldnerländern mit ihrer interessenspolitischen Angewiesenheit auf ihre Klientel im zentralen Gläubigerland Deutschland in Einklang bringen muss. Seit Beginn der Eurokrise ist sie zwischen diesen beiden Polen mäandert und grosso modo – von Steinbrück bis Gabriel – letztlich immer dem Kurs gefolgt, den Merkel vorgegeben hat. Sah man anfangs in der Eurokrise noch eine Dynamik hin zu mehr Europa angelegt, so hat man angesichts des erkennbaren Widerwillens der Völker stillschweigend vom integrationistischen Pfad Abschied genommen, den weiter zu beschreiten ohne ein grundlegendes Votum der Bürger ohnehin nicht möglich wäre.

Das wertefundierte Projekt Europa ist der ernüchterten Einsicht in das Klein-Klein intergouvernementalen Verhandelns gewichen, das auf absehbare Zeit Regieren in Europa ausmachen wird. Die politisch entscheidenden Akteure sind nicht die Repräsentanten des europäischen Volkes, sondern die „Institutionen“, allen voran die Europäische Zentralbank, und die Regierungschefs. Die zentralen Fragen sind nicht mehr die nach der Finalität, sondern die nach der Verhandlungsführung. Damit ist das enge Feld sozialdemokratischer Profilierung in der Europapolitik abgesteckt – das sie gleichwohl nicht allzu deutlich markiert. So bleiben ihre Orientierungen auf mittlere Sicht, etwa zur Austeritätspolitik des Ministerrates, zu einem Euro-Austritt Griechenlands, zur Beteiligung der Banken an der Schuldentilgung oder zur wachsenden politischen Rolle der EZB im Vagen. Das Maulen über Merkels Auf-Sicht-Fahren vermag nicht zu kaschieren, dass der eigene Weitblick, sei es in der Eurokrise, sei es aber auch in der Ukraine- und Russlandpolitik, kaum größer ist. Beide Krisen, wie auch die Bewältigung des Nahost-Konfliktes mit seinen Flüchtlingsströmen und den von ihm ausgehenden terroristischen Gefahren, werden auch in den kommenden Jahren die politische Stimmung im Lande prägen. Es sind Zeiten der außenpolitischen Bedrohung, der Neuorientierung, Zeiten der Exekutive, es kommt tatsächlich auf die Kanzlerin an – und 2017 entsprechend auf den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten (oder die Kandidatin?), dessen Anforderungsprofil damit schon weitgehend festgeschrieben ist. Es sind zugleich auch die Anforderungen, denen sich künftige Koalitionen stellen müssen. Damit ist die Zahl der Varianten eingeschränkt.

Die Außenwahrnehmung Deutschlands als ein wirtschaftlich prosperierender Stabilitätsanker in einem mehr oder minder krisengeplagten europäischen Umfeld prägt auch die Binnensicht der Gesellschaft und lässt die nach wie vor vorhandenen sozialen Verwerfungen in einem milderen Licht erscheinen. Der Arbeitsmarkt eröffnet in einem jahrelang nicht gekannten Maße die Chance der Teilhabe, die mit einer gewissen Förderung auch jenen offen stehen dürfte, die als schwerer vermittelbar gelten. Die hohe Beschäftigungsquote gibt Raum sowohl für Verbesserungen der Entlohnung (vor allem von Frauen) als auch für Reformen, die den atypischen Beschäftigungsverhältnissen ihre exkludierende Funktion nehmen. Auch hier ist sozialdemokratischer Reformgeist gefragt.

Doch grosso modo lassen die Antworten, die die Große Koalition auf bestehende soziale Fragen gibt, nicht die Binnendifferenz erkennen, die genügend Stoff für eine wahlentscheidende parteipolitische Profilierung abgeben würde. Zumal jede Form staatlicher Umverteilung unter dem von SPD, Union und Grünen gleichermaßen verfochtenen Vorzeichen einer nachhaltigen Haushaltspolitik steht, wodurch ihr enge Grenzen gesetzt sind.

Vor diesem Hintergrund relativiert sich die klassische soziale Frage. Deren Bewältigung wurde von einer Mehrheit der Wähler bisher als nicht mehr so brisant angesehen, dass sie bereit wäre, für die Antworten wesentlich höhere Steuern zu zahlen. Und diese Bereitschaft wird auch nicht wachsen, wenn die soziale Lage des Landes in solch drastischen Farben gemalt wird, dass sich selbst deren arbeitnehmerische Mitte darin kaum wiedererkennt. Das sind die Lehren, welche SPD und Grüne aus dem schlechten Abschneiden bei der letzten Bundestagswahl ziehen können.

Wenn die SPD wieder die Regierung führen soll, dann nicht, weil es dem Land so schlecht geht, sondern weil sie es besser kann.

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