Wo Deutschland heute liegt

Deutschland ist nicht klein, nicht schwach, nicht unbedeutend. Trotzdem stapeln wir gerne tief, unsere gewachsene Verantwortung ist uns etwas unheimlich. Besser wäre, wir machten uns nichts vor: Unter den Mittelmächten sind nur wenige wichtiger

Mit der Macht ist es wie mit dem Geld in diesem Land. Wenn man jemanden nach seinem Einkommen fragt, wird er ausweichend antworten, keine Zahl nennen, die Achseln zucken: zu wenig natürlich, aber man kommt schon zurecht.

Und wie mächtig ist Deutschland? Die landläufig übliche Antwort ist Achselzucken, Ausweichen, vielleicht ein aggressiver Konter: Was für eine blöde Frage! Dieses Land kommt ganz gut zurecht damit, dass seine „Macht“ ein Anathema ist, eine intellektuelle No-go-Area.

In Deutschland gab es gute Gründe, das Thema zu meiden. Sie heißen Erster Weltkrieg, Nazi-Wahn und Zweiter Weltkrieg. Danach war Deutschland, geteilt, nur teilsouverän und gut in die beiden konkurrierenden Militärblöcke eingebunden, kein eigenständiger Spieler mehr im System der Supermächte.

Neue Weltordnung? Wir profitieren davon

Wie klein und bedeutungslos Bürgerinnen und Bürger der BRD und der DDR ihr Land damals selbst empfunden haben mögen, ist heute noch manchen Berlin-Touristen anzumerken, die alles, was nach der Wende neu errichtet wurde, seien es Parlaments- und Regierungsgebäude in Mitte oder die Repräsentationsbauten der Wirtschaft am Potsdamer Platz und anderswo, als „zu groß“ wahrnehmen. Solche Gefühle hegen dieselben Besucher gegenüber der prächtigen historischen und modernen Staatsarchitektur in Kopenhagen oder Brüssel oder Paris oder London selbstverständlich nicht. Dort erscheint als angemessen, was bei uns noch an Großmannssucht erinnern könnte.

Aber so sympathisch das deutsche Understatement auch anmutet: Dieses mit der Vereinigung größer gewordene Land hat heute tatsächlich mehr internationale Verantwortung zu übernehmen als zu Zeiten des Kalten Krieges, es hat mehr Möglichkeiten Einfluss geltend zu machen – und es profitiert selbst wie kaum ein anderes von der neuen Weltordnung, die dem Zeitalter der Bipolarität folgt.

Viermal in Folge Exportweltmeister

Deutschland ist nicht klein, es ist das größte, das heißt einwohnerreichste Land EU-Europas (Deutschland 82 Mio., Frankreich 62 Mio., Großbritannien 60 Mio., Italien 58 Mio.), zugleich Europas mit Abstand größte Volkswirtschaft, die drittgrößte der Welt (nach den USA und Japan) – und nun zum vierten Mal in Folge wieder Exportweltmeister. Das heißt: Keine andere Volkswirtschaft trägt einen größeren Teil zum Welthandel bei als die deutsche, rund zehn Prozent.

Die letzte Supermacht, die globale Überpower, sind die Vereinigten Staaten, das weiß jedes Kind. Die Sowjetunion ist untergegangen. Nimmt jetzt stattdessen Russland den Platz der Nummer Zwei ein? Wohl kaum. Hinter Amerika (11,7 Billionen Dollar Bruttoinlandsprodukt 2004) kommen kleinere Kaliber: Japan (4,7), Deutschland (2,7), Großbritannien (2,1), Frankreich (2,0), Italien (1,7), China (1,6), wenn man dem Ranking der Volkswirtschaften folgt.

In seinem berühmt gewordenen Werk Aufstieg und Fall der großen Mächte bezieht der amerikanische Historiker Paul Kennedy neben den ökonomischen Aspekten militärische und bündnispolitische mit ein; auch Wissenschaft und Bildung, die Qualität der öffentlichen Verwaltung und die Gleichmäßigkeit der Lebensverhältnisse wie auch die Herrschaftsform spielen bei Kennedys Vergleichen über fünf Jahrhunderte ihre Rollen.

So gut ging es Deutschland noch nie

So gesehen ist Deutschland heute in der glücklichsten Lage seiner Geschichte: umgeben von Freunden, Mitglied der machtvollsten kollektiven Sicherheitssysteme der Welt (Nato, EU, UNO), Teil des sich einigenden Europas, beinahe in jeder Ecke des Globus angesehen und willkommen, und der einzige Staat, in dem zurzeit Ost und West zusammenwachsen.

Dem Dauerlamento unserer Medien zum Trotz läuft vieles vergleichsweise ziemlich gut in diesem Land. Bei den Patentanmeldungen liegt Deutschland weltweit auf Platz zwei. Nach den sprachlich privilegierten Angloamerikanern sind es Forscher aus Deutschland, die in der akademischen Fachliteratur am meisten zitiert werden. Die Zahl der Internetnutzer ist hierzulande fast so groß wie im weit bevölkerungsreicheren Japan (Erster: die USA).

Deutschland bleibt der Maschinenbaustandort Nummer eins (vor Japan und den USA), Nummer zwei in der Autoproduktion, Erster im internationalen Reiseverkehr, Dritter (gesamtdeutsch) im Medaillenspiegel aller olympischen Sommer- und Winterspiele, Zweiter im ewigen Fußball-WM-Ranking (hinter Brasilien), Nummer eins als Reedereisitz der weltweiten Containerflotten (Deutschland 1157 Schiffe, Japan 235, Dänemark 142). Und bei den Superreichen auf der Forbes-Liste der Milliardäre stellt die deutsche upper class (hinter den USA) das zweitgrößte Kontingent.

Für Nato-Operationen ist Deutschland aktuell der zweitgrößte Truppensteller, in der UNO der drittgrößte Zahler. Einige Länder der Erde haben seit Ende des 19. Jahrhunderts das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch für sich übernommen: Japan, Griechenland, Taiwan, Peru, jetzt auch Russland, Georgien und Estland; manche ließen sich von der Rechtsordnung des Grundgesetzes inspirieren und von deutschen Verfassungsrechtlern beraten.

Als wir mit einigen neugewählten SPD-Abgeordneten Gerhard Schröder 1999 einige Monate nach seinem Amtsantritt in seiner Dahlemer Kanzlerresidenz besuchten, machte er immer noch den Eindruck, als sei er erstaunt, wie viel Zeit ihn die internationale Politik koste. Er habe sich vor allem um den inneren Zustand des Landes kümmern wollen, nun aber mache das Auswärtige mehr als die Hälfte seiner Termine aus. Für andere sei Deutschland wichtiger als wir uns selbst nähmen, das habe er lernen müssen.

Im Ausland weiß man, wo Deutschland liegt

Schröder hat Deutschland gern als „Mittelmacht“ beschrieben. Das ist eine kluge Formel, sie klingt nach Mittelfeld mit Platz nach vorn und hinten. Tatsächlich aber gibt es vorne nur die einzigartig mächtigen Vereinigten Staaten. Dann kommen die Mittelmächte, und dort ziemlich weit vorne, wenn es um wirkliche Wirtschaftskraft und um tatsächliches internationales Engagement geht: Deutschland.

Achselzucken. Was folgt daraus? Müssen wir uns ändern? Machen wir etwas falsch? Nicht unbedingt: Das unscheinbare Understatement, die nüchterne Geschäftigkeit, das irgendwie immer ein bisschen schlechte Gewissen – das steht uns ganz gut. Wir kommen schon zurecht. Nur sollten wir uns eben nicht wundern, wenn auf Reisen im Ausland ganz fremde Leute uns zu verstehen geben, dass sie sehr wohl wissen, wo Deutschland liegt. Dann sollten wir ihnen nichts vormachen, wir wissen es eigentlich auch.

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