Wird ohne den Staat endlich alles gut?

Rainer Hank gibt falsche Antworten - aber auf Fragen, die für Progressive heute von Bedeutung sein sollten. Deshalb lohnt es, sein Buch zu lesen

„Undifferenziert“, „neoliberal“, „unmodern“ – linke Kritik an dem Buch Die Pleite-Republik von Rainer Hank ist schnell bei der Hand und trifft durchaus zu. Doch lassen sich seit der Finanzkrise wirklich alle liberalen, marktfreundlichen Bücher schlankerhand als gestrig abstempeln? Dann dürfte man den fast 500 Seiten umfassenden Band des Wirtschaftschefs der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gar nicht erst lesen. Aber das wäre ein Fehler, denn Hank stellt die richtigen Fragen. Nur gibt er häufig die falschen Antworten. Gerade deshalb lohnt sich eine Auseinandersetzung mit dem Buch aus progressiver Perspektive.

Der Wohlfahrtsstaat als „Förderzoo“

„Wo bitte geht’s zur Freiheit?“, lautet Hanks zentrales Thema. Ein Blick ins Namensregister zeigt, dass er sich von den großen liberalen Theoretikern inspirieren lässt: David Hume, John Stuart Mill, Adam Smith oder Milton Friedman. Wenig verwunderlich also, dass Hank den Sozialstaat als Sündenbock für die steigenden Staatsschulden ausmacht. Sei dieser einmal installiert, könne er „wie der Markt nur eines: wachsen“. Im Laufe der Zeit sei der Wohlfahrtsstaat zu einem „großen und unübersichtlichen Förderzoo“ verkommen. Jeder Bürger werde dazu verleitet, „etwas mitzunehmen, wo es nur geht“. Weil der paternalistische Sozialstaat schneller gewachsen sei als die Wirtschaft, habe der Staat immer höhere Steuern erhoben und den „Zaubertrick Verschuldung“ angewandt. Auf der Strecke bleibe die Freiheit – im Tausch für die zweifelhaften Versprechen des Wohlfahrtsstaates.

Aber gefährdet der moderne Staat tatsächlich die individuelle Freiheit wie zu Zeiten der liberalen Klassiker im 18. Jahrhundert? In Reaktion auf Rainer Hank hat die Philosophin Lisa Herzog jüngst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung herausgearbeitet, dass aus Sicht eines „neuen Liberalismus“ nicht nur staatlicher Zwang, sondern vor allem auch der „Mangel an Zugangsmöglichkeiten“ als freiheitsgefährdend angesehen werden muss. Aus dieser Perspektive geht die Gefahr für die Freiheit heute maßgeblich von den entfesselten Märkten aus, „die extreme Ungleichheiten erzeugen, die Machtverhältnisse und einseitige Abhängigkeiten zementieren“. Anders formuliert: Damit alle Bürger frei sein können, müssen zunächst alle Teil der Gesellschaft sein. Für eine solche „soziale Freiheit“ braucht es politische Konzepte zur gesellschaftlichen Teilhabe, anstatt der ewigen Leier vom Rückzug des Staates und der Entfaltungskraft des Marktes.

Darunter, dass Hank Freiheit einzig als Freiheit vom Staat verstanden wissen will, leiden selbst seine anregenden Ideen. Denn zweifellos hat er Recht, dass ein Sozialstaat, der sich im Namen der Gerechtigkeit bis über die Ohren verschuldet, äußerst amoralisch ist mit Blick auf die künftigen Generationen. Auch Hanks Verweis auf eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, der zufolge die gut informierte Mittelschicht stärker von staatlicher Förderung profitiert als die Unterschicht, ist wichtig für die Diskussion über einen modernen Sozialstaat.

Haben nicht gerade die Märkte versagt?

Gewiss ist es fragwürdig, wenn die Mittelschichten als „Rent-Seeker“ zu den Hauptgewinnern des Wohlfahrtsstaats zählen. Ob es nicht besser wäre, der Mitte stattdessen mehr von ihrem Einkommen zu lassen, wie Hank es fordert, ist immerhin eine Überlegung wert. Und dass die Umverteilung zur Finanzierung der Sozialleistungen das Leistungsethos von Zahlern und Empfängern gleichermaßen schmälert, ist ebenfalls nicht ganz von der Hand zu weisen. Aber mag nur derjenige etwas leisten, der am Ende des Monats mehr Netto vom Brutto hat? Oder ist nicht vielmehr derjenige zur Leistung bereit, der sich als Teil der Gesellschaft versteht und sich nicht abgehängt fühlt vom Rest? Es ist die Klarheit von Hanks Position, die auch unter Progressiven wichtige Diskussionen anregen kann.

Anknüpfungspunkte bieten zudem Hanks Thesen zur frühkindlichen Förderung – auch wenn er zu einseitig auf den ökonomischen Gewinn für die Gesellschaft abstellt: „Je früher im Leben wir vom Schicksal benachteiligte Kinder fördern, desto größer ist die Aussicht auf Erfolg. Und desto billiger wird es für die Gesellschaft.“ Nahezu skurril wirkt wiederum die Forderung des Autors, der Staat möge seine Förderung bereits zum sechsten Lebensjahr beenden und sich fortan auf eine Minimalposition zurückziehen – ein Zeugnis von Hanks tiefem Staatsmisstrauen.

Dieses Misstrauen zeigt sich auch bei seinen Ausführungen zur parlamentarischen Demokratie, die Hank „die Tyrannei der zufälligen Mehrheit“ nennt. In der Vergangenheit seien Politiker allzu oft nur darauf bedacht gewesen, „geschickt Partikularinteressen zu bedienen, die sich zu Mehrheiten addieren“ lassen. Aus diesem Grund hätten sie sich nur noch an den Transferempfängern des ausgebauten Sozialstaats orientiert. Nun wachsen ihnen, sagt Hank, dessen Ausgaben über den Kopf. Dass die Märkte den Staaten mittlerweile das Vertrauen entzogen haben und so eine Periode der Haushaltsdisziplin einläuteten, ist für den studierten Literaturwissenschaftler „die neue Signatur der Zeit“. Nur vergisst er ausreichend zu thematisieren, dass es gerade das Versagen der freien Finanzmärkte war, das die Schuldenstände der zu ihrer Rettung eilenden Staaten weiter in die Höhe schnellen ließ.

Auch blendet Hank aus, dass sich ein Staatshaushalt aus Einnahmen und Ausgaben gleichermaßen ergibt. Diese Tatsache müsste, wenn Teile der Gesellschaft selbst von anhaltendem Wirtschaftswachstum nicht profitieren, unmittelbar zur Frage der Gerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft führen. Aber um diese Frage drückt sich Hank bereits auf Seite 90 herum: „Die Idee der Freiheit hat mit Ungleichheiten so lange kein Gerechtigkeitsproblem, wie jene die Ungleichheit begründenden Einkommen rechtmäßig erworben wurden.“

Insgesamt offenbart das Buch, dass Freiheit in einer modernen Gesellschaft heute mehr bedarf als „weniger Staat“ und „weniger Sozialquote“. Vielmehr erwächst Freiheit aus dem Schutz vor den Auswüchsen des freien Marktes sowie aus Befähigung zum freien Leben. Hanks Buch macht aber auch deutlich, dass der Anspruch, den Sozialstaat aufrechtzuerhalten oder sogar gezielt auszubauen, nicht ohne eine neue Verteilungsfrage auskommt. Dass die Idee der Freiheit begeistert und mit den großen Begriffen Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichheit verbunden werden kann, stellt gerade für progressive Parteien eine Chance dar. Wir sollten sie nutzen.

Rainer Hank, Die Pleite-Republik: Wie der Schuldenstaat uns entmündigt und wie wir uns befreien können, München: Blessing Verlag 2012, 448 Seiten, 19,95 Euro


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