Wir sind bereit! Sind wir bereit?

Nach einem Jahrzehnt an der Regierung kann die SPD mehr Mut gebrauchen. Ein rotes Büchlein aus dem Jahr 1998 weist den Weg - und belegt, dass die Sozialdemokraten ihren Ansprüchen in überraschendem Maße gerecht geworden sind

Das rote Büchlein war ein Renner. Massenhaft hat es die SPD im Sommer 1998 verteilt – auf Kundgebungen, an Ständen, in Briefkästen. Sein programmatischer Titel gab die Richtung vor: Wir sind bereit. Aufwendig produziert, stellte die SPD auf 96 Seiten ihr Programm, ihre Philosophie und ihren Kandidaten für die bevorstehende Bundestagswahl vor.

Mit dem Büchlein wollte die SPD den Menschen die Angst nehmen vor dem politischen Wechsel und wendete dabei einen Trick an: Sie behauptete schlicht, dass der Wechsel schon längst da sei – als Wandel im Leben der Menschen, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft. Und die SPD versprach nun „Sicherheit im Wandel“. Unter solchen Umständen ist es einfach, einen neuen Kanzler zu wählen. Es ist eigentlich nur noch ein folgerichtiger Schritt – so stand es auch im roten Büchlein der SPD.

Jeder weiß, wie die Geschichte ausging. Die SPD gewann die Wahl des Jahres 1998 überzeugend. Gerhard Schröder wurde Kanzler, und die Genossen schwebten im Glück. Für viele von ihnen schien der Sonnenaufgang nach der Wahl heller zu sein als sonst. Der Regierungsalltag stellte sich dann jedoch bisweilen um einiges grauer dar als jener glückliche Morgen nach dem 27. September 1998.

Inzwischen regiert die SPD zehn Jahre. Und immer wieder hadert sie mit ihrer Bilanz. Immer wieder zweifelt sie an sich selbst und daran, wie sie in den vergangenen Jahren regiert hat. Nehmen wir also das rote Büchlein noch einmal zur Hand. Wer darin liest, stellt drei Dinge fest: Die SPD ist sich erstaunlich treu geblieben. Ihre Bilanz sieht gar nicht so schlecht aus. Und das Büchlein hält auch heute noch einige wichtige Ratschläge bereit.

Wir sind bereit hat fünf Kapitel. Mit ihnen wollte die SPD Zeichen setzen, genauer: fünf „sichere Zeichen dafür, dass die Dinge wieder in Bewegung kommen, dass es in Deutschland wieder aufwärts geht“. Die SPD versprach, mit „Mut“, „Solidarität“, „Vernunft“, „Weltoffenheit“ und „Neugier“ ans Werk zu gehen – die rote Broschüre strotzte nur so vor Zuversicht, Überzeugung und Tatkraft. Es sind genau diese Zeichen, von denen die SPD heute ruhig etwas mehr ausstrahlen könnte.

1. Mut: „Wer nichts wagt, kann nichts gewinnen. Jetzt sind wir alle gefragt. Ein bisschen weniger Sicherheitsdenken, ein bisschen mehr Offenheit für das Neue, ein bisschen mehr Bewegung. Es wird Härten geben, und manche von uns werden Opfer bringen müssen. Gerade in schwierigen Zeiten nützt Resignation am wenigsten. Im Gegenteil: Gefragt ist entschlossenes Handeln. Wir warten nicht ab und gucken zu, wir trauen uns was. Wir sind bereit. So einfach ist das.“ (Seite 23)
Mit einem Satz wird Oskar Lafontaine immer Recht behalten: Nur wer von sich selbst überzeugt ist, kann auch andere überzeugen. So einfach ist das. Im Jahr 1998 schien es, als wäre der SPD dieses Mantra in Fleisch und Blut übergegangen. Tatsächlich legte die Regierung in ihren ersten Monaten ein enormes Tempo vor. Manches ging allerdings in die falsche Richtung. Denn zunächst wurde so manches ungeliebte Reförmchen der Kohl-Regierung zurückgenommen: bei der Rente, beim Kündigungsschutz und bei der Krankenversicherung. Andere Reformen missglückten, man denke nur an die 620-DM-Jobs. Viel Mut gehörte zu diesen Reformen nicht. Den hätte es wohl gebraucht, um Manches so zu belassen, wie es war. Doch die Lernprozesse, die dazu notwendig gewesen wären, musste diese Regierung erst noch durchmachen. Wirklichen Mut brachte sie erst im Jahr 2003 mit der ambitionierten Agenda 2010 auf. Dieses Reformprogramm enthielt die Härten, die das rote Büchlein versprochen hatte. Die Anstrengungen haben sich gelohnt: Der Bundeshaushalt ist mittlerweile fast ausgeglichen, die Wirtschaft wächst wie lange nicht, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren so viele Menschen erwerbstätig, und Deutschland ist weiterhin Exportweltmeister.

Viel Bewegung brachte die Sozialdemokratie in ihrer Regierungszeit vor allem in zwei Gebiete, die 1998 noch gar nicht richtig auf dem Radarschirm auftauchten: in die Bildungs- und in die Familienpolitik. Zu Beginn sah es so aus, als wollte Rot-Grün die alten Mechanismen einfach nur verschärft fortsetzen, also schlicht mehr Geld verteilen. Zügig erhöhte man das Kindergeld um ein Drittel, ebenso den Etat für das Bildungs- und Forschungsministerium. Doch Schritt für Schritt kamen strukturelle Änderungen hinzu, die Deutschland langfristig verändern werden. Aus der Elternzeit wurde das Elterngeld entwickelt. Ab dem Jahr 2004 begann der Bund, sich massiv in den Ausbau der Kindertagesstätten einzumischen. Auch mit dem Ganztagsschulprogramm griff der Bund in Länderkompetenzen ein – und sorgte ganz nebenbei dafür, dass alte Debatten um Gesamtschulen und Gymnasien in den Hintergrund traten und von einer Diskussion um Qualität und Charakter von Schulen abgelöst wurden. Die SPD beschritt politisches Neuland und schuf einen Rahmen, den sich keine Partei mehr zu ändern trauen wird. Beinahe unbemerkt sicherte sich die SPD mit dieser Politik eine neue Unterstützergruppe: die der (jungen) Frauen. Sie halten der SPD auch in diesen schwierigen Zeiten bislang noch die Stange – und hoffen, dass die Partei zurückfindet zu dem mutigen Vorwärtsdrang, der sie bei ihrem Regierungsantritt kennzeichnete.

2. Solidarität: „In Zukunft wird es nicht die Regel sein, dass man sein Leben lang in ein und demselben Beruf arbeitet ...Vorübergehende Arbeitslosigkeit wird kein Grund zur Resignation sein ... Soziale Sicherheit muss dabei erhalten bleiben. Aber nicht, um sich auszuruhen ... Soziale Sicherheit bietet Chancen, und wir wollen jeden ermuntern, sie auch zu nutzen. Wo der Staat Hilfe anbietet, darf er auch Anforderungen stellen. Hilfe muss immer zuerst Hilfe zur Selbsthilfe sein. Das soziale Netz ... wird zum Trampolin.“ (Seite 33)

Das war ein Versprechen, das mancher Sozialdemokrat 1998 vielleicht geflissentlich überhört hat. Aber diese Passage klingt wie eine Ankündigung der späteren Arbeitsmarktreformen. Die Verbesserung des Betreuungsverhältnisses besonders für jugendliche Arbeitslose ist wohl, neben der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die eigentliche Revolution gewesen. Kamen vor den Arbeitsmarktreformen im Arbeitsamt etwa 800 Arbeitslose auf einen Betreuer, so sind es heute um die 100. Eine Zahl, bei der man sich schon eher vorstellen kann, dass Menschen intensiv und individuell beraten werden, damit sie neue Arbeit finden. Dieses neue Trampolin hat immerhin erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg dazu geführt, dass am Ende eines Aufschwungs in Deutschland deutlich mehr Menschen Arbeit haben als zu Beginn: Nach dem New-Economy-Boom waren im Jahr 2001 noch 3,8 Millionen arbeitslos, heute sind es nur noch gut 3 Millionen, Tendenz fallend.

Noch einen weiteren Schritt ist die SPD mit ihren Reformen gegangen: Sie hat die Arbeitslosigkeit zur Sache aller gemacht und damit Solidarität auf mehr Schultern verteilt. Die einfache Erkenntnis: Arbeitslosigkeit, vor allem lang andauernde, ist ein Grundübel der Gesellschaft und sollte von allen gemeinsam bekämpft werden. Es ist deshalb nur konsequent, dass die Langzeitarbeitslosigkeit über Steuern und nicht nur von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern über die Sozialversicherung finanziert wird. Dieses neue Prinzip führte zu einer Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags von 6,5 auf bald nur noch 3 Prozent. Die Halbierung des Beitragssatzes stärkte gleichzeitig die Innovationskraft der Unternehmen und die Nettolöhne der Arbeitnehmer.

Mit diesen Reformen näherte sich die SPD ihren skandinavischen Vorbildern, die den Sozialstaat viel stärker über Steuern als über Abgaben finanzieren, stärker an, als sie selbst wahrhaben wollte. Außerdem war sie in ihrem Regierungshandeln dem Hamburger Programm vom Herbst 2007 sogar schon einen Schritt voraus. Die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Innovationskraft der SPD müsse sich an ihrer Fähigkeit erweisen, ökonomische Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit, soziale Sicherheit und politische Teilhabe zu einer produktiven Synthese zu führen, schrieb Gerhard Schröder kurz nach seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten im Frühjahr 1998. Es sieht so aus, als hätte er sein Versprechen gehalten.

3. Vernunft. „Viele junge Menschen machen sich schon heute Gedanken über ihre Altersversorgung. Das ist nicht dumm. Denn auch in diesem Bereich müssen wir uns neue Wege der Finanzierung überlegen. Neben der gesetzlichen Rente auf der Basis von Einkommen und Beiträgen setzen wir auf betriebliche Altersversorgung, auf Beteiligung von Arbeitnehmern am Industrievermögen und auch auf private Vorsorge ... Die Solidarversicherung hat Zukunft. Aber mehr Eigenverantwortung ist gefragt. Auch bei der Altersvorsorge.“ (Seite 50)

Am Anfang der Regierung Schröder stand ein Irrtum, nämlich der Glaube, dass Norbert Blüm doch Recht hatte. In der Opposition hatte es sich die SPD gemütlich eingerichtet. Sie war überzeugt, dass Macht allein reicht, um die Rentenversicherung auf sichere Füße zu stellen. Sie brauchte ein paar Jahre, um vom Irrtum (Rücknahme des „demografischen Faktors“ der Kohl-Regierung) über behutsame Reformen (Erhöhung des Steueranteils an den Rentenauszahlungen auf immerhin ein Drittel) zu echten Strukturveränderungen zu kommen. Mit der „Riester-Rente“ machte die SPD die Menschen mit dem Gedanken vertraut, dass der Staat allein ein gutes Auskommen im Alter nicht wird garantieren können. Und mit dem neu eingeführten „Nachhaltigkeitsfaktor“ und der „Rente mit 67“ versuchte die SPD den neuen solidarischen Ausgleich zwischen den Generationen: der älteren, die in Zukunft immer stärker wächst, und der jüngeren, die von Staatsverschuldung und Rentenbeiträgen nicht erdrosselt werden soll. Es ist mehr Vernunft eingezogen in die politische Debatte in Deutschland. Der SPD kommt das Verdienst zu, dass heute mehr Menschen über scheinbar abstrakte demografische Fragen diskutieren, und dass mehr Menschen verstehen, warum sich eine ältere werdende Gesellschaft mit zu wenigen Kindern nicht an alte Gewohnheiten klammern kann.

4. Weltoffenheit. „Deutschland genießt Ansehen in der Welt. Das dürfen wir nicht verspielen. Wir können selbstbewusst unsere Interessen international vertreten.“ (Seite 66)

Diese Sätze hätte besser auch George W. Bush gelesen. Die Regierung Schröder definierte in der Außenpolitik eine selbstbewusste und aktiv intervenierende Politik. Sie engagierte sich im Kosovo und half, weiter gehende ethnische Säuberungen zu verhindern. Sie engagierte sich im Kampf gegen den Terror, indem sie vor allem in Afghanistan in einen gefährlichen Einsatz einwilligte und indem sie den Friedensprozess im Nahen Osten mit Truppen vor dem Libanon abstützt. Aber sie versagte den Amerikanern die Unterstützung im Fall des Irak-Kriegs, bei dem sie weder Sinn noch Ziel erkennen konnte. Dieses deutsche Selbstbewusstsein wurde um eine eigene – sehr sozialdemokratische – Handschrift ergänzt (die den Deutschen bis heute auch den Vorwurf der Drückebergerei einbringt): Im Kosovo, vor allem aber in Afghanistan, konzentrierten sich die Deutschen neben der militärischen Absicherung immer auch auf Hilfe zur Selbsthilfe – auf die Eröffnung von Schulen, auf den Zugang von Mädchen zum Bildungssystem, auf die Ausbildung von Polizei und Armee. Ein nicht zu unterschätzender Aspekt, wenn die ausländischen Truppen nicht auf Jahrzehnte im Land bleiben sollen.

Aber nicht nur in der Außenpolitik setzte die SPD auf Weltoffenheit. Auch im Inneren stand sie für eine moderne Politik der gesellschaftlichen Öffnung. Manche Entwicklungen schaute sie von unseren Nachbarländern ab, etwa die Einführung der Lebenspartnerschaften, das neue Staatsbürgerschaftsrecht, die Green Card oder das anschließend geschaffene Zuwanderungs- und Integrationsrecht. Unser Land ist heute moderner, das Klima offener geworden. Dass dieses Land gleich zwei schwule Regierungschefs „aushalten“ kann (darunter einen christdemokratischen), hätte sich mancher Konservative vor zehn Jahren sicher nicht träumen lassen.

5. Neugier. „Moderne Politik machen heißt, auf der Höhe der Zeit zu sein, ohne bewährte Traditionen über den Haufen zu werfen. Wir sind gespannt auf morgen.“ (Seite 83)

So viel Zukunftsoptimismus wie damals war lange nicht in der SPD, weder davor noch danach. Genau dieser fehlt den Sozialdemokraten heute am meisten. Sie haben 1998 angefangen, eine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte von Aufstieg, Möglichkeiten und Zuversicht. Doch inzwischen wissen sie nicht mehr, wie diese Geschichte weitergeht.

Natürlich würde zu einer solchen sozialdemokratischen Erzählung auch Ehrlichkeit zählen. Einige Versprechen konnten nicht gehalten werden („Wir werden keine Sozialleistungen abbauen“); bei einigen Versprechen baute man auf Sand, ohne an die Konsequenzen zu denken („Kohls Fehler korrigieren bei Renten, Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall“). Doch die SPD kann heute, zehn Jahre nach ihrem Regierungsantritt, aufrecht in den Spiegel schauen. Sie hat Deutschland verändert – dauerhaft und zum Besseren.

Selbst wenn sie es selbst manchmal kaum glauben, haben die Sozialdemokraten einen Weg gefunden, ökonomische Vernunft mit sozialer Balance zu verbinden. Eigentlich könnten und müssten sie ihre Geschichte selbstbewusst weitererzählen, denn auf die Sozialdemokratie warten noch etliche Aufgaben. Die Internationalisierung schreitet voran, und immer mehr Staaten wollen eine funktionierende soziale Marktwirtschaft wie wir sie haben. In der Bildungspolitik stehen wir noch immer am Anfang: Die Kindertagesstätten müssen besser werden, und viel zu viele Jugendliche verlassen die Schule ohne Abschluss. Die Familien erwarten zu Recht höhere Einkommen, weshalb weitere Entlastungen bei den Sozialversicherungsabgaben notwendig sind. Es gibt viel zu viel Kinderarmut, obwohl es „geradezu billig“ (Gøsta Esping-Andersen) wäre, diese zu reduzieren. Für all diese Aufgaben braucht es die Sozialdemokratie. Sie hat dafür sogar schon ein Konzept in der Schublade: den vorsorgenden Sozialstaat.

Genau deshalb haben Matthias Platzeck, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier Recht: Gefragt ist in der Tat eine Sozialdemokratie, „die den Wunsch der breiten gesellschaftlichen Mitte nach einer erneuerten Verbindung von marktwirtschaftlicher Dynamik, Demokratie und Zusammenhalt für unsere Zeit erkennt und aktiv verarbeitet.“ Denn in Wirklichkeit weht der Zeitgeist – heute mehr denn je – sozialdemokratisch.

Allzu großer Selbstzweifel ist also fehl am Platz. Vielmehr sollte sich die SPD auf ihr rotes Büchlein von 1998 besinnen, die Angst vor dem (eigenen) Wandel ablegen und mit Courage und Offenheit ein neues Regierungsprogramm entwickeln. Auch dazu enthält das zehn Jahre alte Büchlein einen Tipp: „Wer selbstbewusst ist, kann sich mit jedem an einen Tisch setzen, ohne gleich die Befürchtung zu haben, den Kürzeren zu ziehen. Was wir uns anhören, müssen wir uns nicht gleich zu eigen machen. Und was wir zu sagen haben, muss nicht das einzig Wahre sein. Die meisten Wahrheiten liegen ja irgendwo in der Mitte ... Um diese Mitte herum müssen wir die gesellschaftliche Vernunft organisieren.“ (Seite 51 f.)

Wenn die Sozialdemokraten ihre eigene Regierungsbilanz selbstbewusst annehmen würden, könnten sie voller Stolz sagen: Es hat sich gelohnt. Und wir sind bereit. Für die nächsten zehn Jahre.

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