Wir Mauerkinder

Abgeschnitten vom Land ihrer Kindheit, fremd geblieben in einer westdeutschen Welt: Weil sich das Land nicht für ihre Erfahrungen interessiert, ist die Generation der 89er in Deutschland heute nicht zu Hause

Deutschland erstaunt mich immer wieder. Dabei lebe ich schon 11 Jahre in diesem Land. Geboren wurde ich 1976 in der DDR. Mich verwundert, wie in Deutschland über den Krieg debattiert wird. Die Vereinigten Staaten bombardieren Afghanistan und suchen nach den Terroristen, die am 11. September die Anschläge auf das World Trade Center verübt haben. Währenddessen wird in Deutschland darüber diskutiert, wie gegenwärtig die Geschichte des Nationalsozialismus ist und ob sich deutsche Soldaten mit deutschen Waffen an diesem Krieg beteiligen können. "Dürfen wir das?", werden die Hüter des moralischen Gewissens der Nation gefragt - und sollen auch gleich Handlungsanweisungen für die Politik mitliefern.

Mich verblüfft die Frage. Mit dem Einsturz der brennenden New Yorker Zwillingstürme ist die Ordnung einer Welt zerbrochen, in der man entweder für Krieg sein konnte oder dagegen, in jedem Fall aber als Individuum unbeteiligt blieb, weil kriegerische Konflike allenfalls in den Fernsehnachrichten stattfanden. Die Realität von Terrorismus und Krieg ist seit dem 11. September in unseren Alltag eingebrochen. Hilflos stehen wir vor den Trümmern einer zerborstenen Welt. Und weil wir nach Erklärungen suchen, befragen wir unsere Geschichte wie ein Orakel, das an unserer Stelle diese neue Wirklichkeit deuten soll.

Auschwitz ist in diesen Geschichtsdebatten der verbale Schutzschild, mit dem die Deutschen für die hohen moralischen Werte einer schuldigen, aber geläuterten Nation in die Schlacht ziehen. Und Auschwitz ist das Schutzschild, mit dem sich eine Nation die Einsicht dafür verstellt, dass so etwas wie politisch korrektes Denken an der Realität des Krieges vorbeigehen muss.

Siebzig Jahre wie ein Tag

Die Generation der 68er hat sich die Vergangenheitsbewältigung der NS-Zeit als Lebensaufgabe vorgenommen, und davon wird Deutschland heute bestimmt. Ich bin nicht in diesem Land aufgewachsen und daher erstaunt es mich, wenn ich allenthalben auf großflächige Werbung für das geplante Holocaust-Mahnmal stoße, so als könnte dieser Gedächtnisort nicht ohne eine ununterbrochene mediale Vermarktung errichtet werden. Währenddessen erklärt der "Spiegel" in einer 22-teiligen Serie über das Dritte Reich die Vergangenheit zur Gegenwart. Wenn es um die Zeit des Nationalsozialismus geht, werden im Feuilleton historische Ereignisse wie selbstverständlich so verhandelt, als ginge es um die Berichterstattung vom gestrigen Tag. Dabei sind seit Hitlers Machtergreifung inzwischen fast 70 Jahre vergangen. In meinen Kindertagen hat sich der Staat, in dem ich damals lebte, mit einer letzten großen propagandistischen Anstrengung - die bereits den drohenden Zerfall dieses Regimes ankündigte - bemüht, an ein Ereignis zu erinnern, das ebenfalls 70 Jahre zurücklag. Eine unvorstellbar große Zeitspanne war das für mich damals, die zwischen 1987 und der "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" von 1917 lag.

Ich bin immer wieder erstaunt, wenn in Deutschland heute diskutiert wird, als wäre das Dritte Reich der singuläre Fluchtpunkt, von dem aus die Vergangenheit die Gegenwart bestimmt. Als wäre seitdem nichts mehr passiert. Tatsächlich aber tritt vor diesen Geschichtsdebatten die eigentliche Zäsur der vergangenen Jahre in den Hintergrund. Für mich ist der Fall der Mauer das große historische Ereignis, das meine Generation und die meiner Eltern geprägt hat. Der 9. November 1989 hat ein ganzes Land über Nacht verändert, doch welch grundlegende Bedeutung diese Veränderungen für das vereinigte Deutschland haben, das will kaum ein Westdeutscher wahrhaben. Selten wird heute daran erinnert, dass dieses Deutschland erst elf Jahre jung ist und noch immer eine Transformationsgesellschaft. Nicht der Neubeginn von 1989 wird betont, sondern eine angebliche historische Kontinuität. Die vornehmlich altbundesrepublikanischen Deutungseliten verknüpfen den 9. November 1989 und den 3. Oktober 1990 mit ihrem Lieblingsthema, dem Nationalsozialismus, und sorgen so dafür, dass die Ereignisse vom Herbst 1989 nicht als Beginn einer neuen, eigenständigen Epoche betrachtet werden, sondern allein als Folgeerscheinung der deutschen Teilung und als Resultat des Zweiten Weltkrieges.

Die Erinnerung an den Aufbruch geht verloren

Auf diese Weise werden die Debatten in das vereinigte Deutschland hinüber gerettet, die bereits seit 1968 den Diskurs der Bundesrepublik bestimmt haben. Was dabei übertönt wird und verloren geht, ist die Erfahrung des 9. November 1989, die die Bürger der DDR verbindet und die sie in das vereinigte Deutschland mitgebracht haben. Der 9. November steht zugleich für den Zusammenbruch eines politischen Systems und den Aufbruch in die Freiheit. Er steht für die Möglichkeit der Veränderung der politischen Verhältnisse und für den individuellen Neuanfang.

Ich war 13 im Herbst 1989 und habe diesen Aufbruch vor allem als neu gewonnene Reisefreiheit erlebt. Aufgewachsen bin ich direkt an der innerdeutschen Grenze, im Sperrgebiet der DDR. Mit der Grenzöffnung verbinde ich deshalb ganz unmittelbar die Erfahrung, dass der Grenzzaun verschwand, der mir bis dahin den Blick und den Weg ins nahegelegene Niedersachsen versperrte. Der Weg in die Freiheit war für mich vor allem das Reisen über die Grenzen Deutschlands hinaus. In der Fremde bin ich immer "die Ostdeutsche" und werde gefragt, wie es war, in der DDR zu leben. Noch nie wurde ich außerhalb Deutschlands mit Fragen zum Nationalsozialismus konfrontiert. Ich habe nicht die Erfahrung gemacht, im Ausland der deutschen Schuld und der besonderen historischen Verantwortung zu begegnen - entweder weil ich zu jung bin oder weil ich aus der ehemaligen DDR komme. Für mich tritt der Nationalsozialismus, von dem mir nur meine Großeltern erzählen können, die damals selbst noch Kinder waren, hinter meine individuelle Erfahrung des 9. November 1989 zurück. Das bedeutet nicht, dass ich die Geschichte der Jahre von 1933 bis 1945 vergesse. Auschwitz ist gegenwärtig in meinem Denken, jedoch ohne mein Handeln zu lähmen. Ich blicke auf Auschwitz mit dem gleichen Schrecken wie die jüngere Generation, die ich in Großbritannien, Spanien oder Polen kennengelernt habe.

Kein Platz für den konsequenten Neuanfang

Es ist der Aufbruch vom Herbst 1989, der mein politisches Denken und Handeln prägt. Doch ich lebe in einem Land, in dem diese Erfahrung des Aufbruchs und des konsequenten Neuanfangs keinen Platz hat. Meiner Generation, den heute 20- bis 35-Jährigen, die in der DDR geboren und aufgewachsen sind, fehlt es an Möglichkeiten, sich mit diesem Staat zu identifizieren. Im Unterschied zu ihren Eltern ist die Generation der 89er zu spät geboren, um unter dem System der DDR zu leiden oder sich schuldhaft zu verstricken. Die Bitterkeit und die Weinerlichkeit der Elterngeneration teilen die 89er nicht. Sie sind nicht nur abgeschnitten vom Land ihrer Kindheit, sondern auch von der Generation ihrer Eltern. Skeptisch ist die Generation der 89er gegenüber den historischen Großerzählungen, die in diesem neuen Staat wichtig sind. Mit dem Umbruch von 1989, als ein System von einem völlig anderen abgelöst wurde, hat diese Generation erlebt, dass Ideologien und historische Wahrheiten immer abhängig sind von den politisch Herrschenden, die sie erzählen.

Nach Amerika auswandern oder PDS wählen

Was die 89er als Generation verbindet, die Aufbrucherfahrung vom Herbst 1989, finden sie nicht wieder in diesem vereinigten Deutschland. Stattdessen müssen sie sich einpassen in das politische Gefüge eines bestehenden Systems. Nirgends gibt es ein Bekenntnis zum Aufbruch, nicht einmal in Berlin, das sich noch immer nicht als Hauptstadt fühlen will. An die Ideen vom 9. November wird allerhöchstens in den ewig gleichen Diskussionsrunden erinnert, wo die früheren Bürgerrechtler wie Tanzbären vorgeführt werden und mit weinerlicher Stimme den Ausverkauf ihrer untergegangenen Bewegung beklagen, ohne neue Visionen für die Zukunft anbieten zu können.

Einige aus der Generation der 89er entscheiden sich dafür, Deutschland zu verlassen, um zu leben, wo sie das Lebensgefühl des konsequenten Neubeginns vorfinden. Viele der Ostdeutschen, die weggehen, zieht es nach Amerika. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten bietet einen Raum der Hoffnung, in dem die Kraft des Aufbruchs ihren Platz hat. Andere aus meiner Generation verhalten sich heute so wie vor ihnen schon ihre Eltern in der DDR. Ihre Selbstverwirklichung suchen sie im Rückzug ins Private, in der Nische der Kleinfamilie. Politik ist vielen zu fremd und scheinbar zu verlogen, als dass sie sich darin zurechtfinden und selbst politisch aktiv werden wollten. Und gewählt wird von dieser Generation immer öfter die PDS, die als einzige der Parteien verspricht, etwas von den ostdeutschen Interessen und dem non-BRD-konformen Lebensgefühl der Mauerkinder in die etablierte westdeutsche Parteienlandschaft hinein zu bringen. Die Generation der 89er fühlt sich heute fremd in Deutschland.

zurück zur Person