Wie wir unsere Zukunft verspielen

Immer mehr Menschen in Deutschland haben den größten Teil ihres Lebens bereits hinter sich. Sie haben kein Interesse mehr an dem, was später kommt. Das macht die Minderheit der Jungen zur Geisel einer unverantwortlichen Vetomehrheit

Wer es als einigermaßen junger Mensch wagt, seine Meinung öffentlich kundzutun, dem schallt es entgegen: Jammert doch nicht, euch geht es doch gut! Und es stimmt ja auch: Meine Generation ist in materiellem Wohlstand aufgewachsen. Ich musste nie hungern, hatte immer ein Dach über dem Kopf und Internet seit ich 15 bin. Sogar der Arbeitsmarkt scheint es inzwischen ganz gut mit uns zu meinen, denn trotz Bankenkollaps, Währungskrise und „Generation Praktikum“ ist die Jugendarbeitslosigkeit hierzulande bei Weitem nicht so gravierend wie bei unseren europäischen Nachbarn. Geht es uns also einfach nur zu gut?

Nein, wir jammern nicht. Dennoch erben wir keine schöne heile Welt. Wir spüren die Probleme nur noch nicht, die sich zwar unter der Oberfläche, dafür aber umso massiver zusammenballen. Die auf Kurzatmigkeit geeichte Politik vernachlässigt die Zukunft und verwaltet den Stillstand, auf dass sich die Gegenwart verlängere.

Deutschland ist ein Land, das längst vergangene Stadtschlösser wieder aufbaut und gleichzeitig Jugendclubs schließt. Das über Nacht zig-milliardenschwere Rentenpakete schnürt, aber Förderprogramme für Kitas aussetzt, weil angeblich die Kassen leer sind. Das Kupferkabel in die Erde legt, während Unternehmen anderswo mit Satelliten, mit Ballons in der Stratosphäre und mit Drohnen ein weltumspannendes WLAN-Netz errichten. Dessen Schüler Latein und Altgriechisch lernen müssen, nicht aber Programmieren und Informatik. Kurzum: Deutschland ist ein Land, das in die Vergangenheit flüchtet statt von der Zukunft zu träumen.

Der Jugend gehört die Zukunft? Sicherlich. Doch den Alten gehört alles andere: die Wählerstimmen, das Geld, die Firmen, die Parteien, die Häuser, die Zeit. Sie machen die Gesetze, sie sind der größte Konsumfaktor, sie entscheiden über das Schicksal unseres Landes. Sie haben mehr Vergangenheit hinter sich als Zukunft vor sich. Sie stimmen für die Vergangenheit, allenfalls noch für ihre Gegenwart, nicht aber für die Zukunft – eine Zukunft, die ihnen selbst egal sein kann.

Schon heute sitzen die Grauhaarigen an den Hebeln der Macht

Demografie und Demokratie sind zwei Seiten einer Medaille. Wenn das Wahlvolk älter wird, verändert das die systematischen Handlungslogiken einer Gesellschaft: ihrer Politik, ihrer Wirtschaft, ihrer Kultur. Deutschland hat die älteste Bevölkerung der Welt, gleich hinter Japan. Bereits heute ist die Hälfte aller Deutschen älter als 46,3 Jahre. Im Jahr 2000 lag die Lebensmitte noch bei vergleichsweise frischen 39,9 Jahren. Und die Alten werden immer zahlreicher, weil wir länger leben und weniger Kinder zur Welt bringen. Im Jahr 2030 wird ein Drittel der Deutschen seinen 65. Geburtstag hinter sich haben. Ohne die Alten wird dann erst recht kein Staat mehr zu machen sein. Selbst wenn die Geburtenraten unverhofft nach oben schnellen würden, ließe sich dieser Trend nicht mehr umkehren, da sich die fehlenden Geburten der vergangenen drei Jahrzehnte nicht einfach „nachholen“ lassen.

Dabei sitzen bereits heute die Grauhaarigen an den Hebeln der Macht. Die Alten von heute leben nicht nur länger als früher, sie verbringen diese gewonnenen Lebensjahre in aller Regel auch in guter Gesundheit und materieller Sicherheit. Die Babyboomer sind die größte und wohlhabendste Generation aller Zeiten und bestimmen Politik, Wirtschaft und Kultur.

Das mediale Zerrbild, in dem mittellose Trümmerfrauen gegen wohlstandsverzogene Teenager in Szene gesetzt werden, könnte trügerischer nicht sein. Die materielle Situation der großen Mehrheit der Alten ist besser als die Talkshows über Altersarmut glauben machen. Alle Vermögens-, Armuts- und Einkommensstatistiken zeigen: Die Alten sind die am reichlichsten ausgestattete Altersgruppe. Altersarmut ist zum Glück beinahe ausgerottet: Lediglich 2,6 Prozent der Deutschen über 65 Jahren sind auf die staatliche Grundsicherung angewiesen. Zum Vergleich: 18 Prozent aller Kinder unter drei Jahren müssen von Sozialhilfe leben. Und das Risiko, als junger Mensch in Armut aufzuwachsen, ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Kinderarmut ist zu einem wesentlich gravierenderen Problem geworden als Altersarmut. Diesem Thema widmet sich aber keine Talkshow.

Es geht hier nicht darum, Alte gegen Junge auszuspielen. Wir haben Altersarmut heute erfolgreich besiegt, beinahe zumindest. Klar: Jedes einzelne Schicksal einer verarmten Witwe, die vielleicht drei oder sogar mehr Kinder großgezogen und jahrzehntelang Entbehrungen auf sich genommen hat, ist ein Schicksal zu viel. Aber so schlimm solche Schicksale auch sind, sie dürfen den Blick aufs Gesamte nicht verstellen. Denn heute ist es wahrscheinlicher, ein armes Kind zu treffen, als einen armen Rentner.

In einer Demokratie übersetzt sich Masse in Macht. Die Mitte der Gesellschaft – das sind die Babyboomer, die jetzt in Rente gehen. Sie sind zur wichtigsten Zielgruppe der großen Parteien geworden. Mehr als ein Drittel aller Wähler ist über sechzig Jahre alt, und im Jahr 2030 dürfte ihr Anteil auf mindestens 43 Prozent geklettert sein. Bei der Bundestagswahl 2013 hatte die junge Generation so wenig Gewicht wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Hätte eine Partei sämtliche Wähler unter 21 mobilisiert, hätte das nicht einmal für die Fünf-Prozent-Hürde gereicht. Hätte sie dagegen alle Wähler über 70 auf ihre Seite gebracht, entspräche dies bereits mehr als einem Fünftel aller Stimmen. Politik gegen die Alten ist eine Anleitung zum politischen Selbstmord.

»Ohne die Omis kannst du keine Wahl gewinnen«, sagt der SPD-Abgeordnete

Ein befreundeter SPD-Abgeordneter aus Brandenburg verriet mir kürzlich das Geheimnis seines Erfolgs: „Ich gehe nur auf Termine, wo mindestens zwei Omis sind. Ohne die Omis kannst du keine Wahl gewinnen.“ Fast jeden Samstag postet er auf Facebook ein Bild von sich beim Kaffeekränzchen im Altenheim – dabei ist er erst knapp über dreißig Jahre alt. Junge können es nur nach oben schaffen, wenn die Alten es ihnen gönnen.

Noch grauhaariger als die Wählerschaft sind die Parteien, in denen die Lebenswelt der Jungen gar nicht mehr vorkommt. Die Hälfte aller SPD- und Unions-Mitglieder ist über 60 Jahre alt. Auch die Gewerkschaften sind nicht etwa in der Hand der Arbeiter – sondern der Rentner. Jedes dritte Mitglied der IG Metall beispielsweise ist gar nicht mehr erwerbstätig.

Die Solidarität der Generationen sei doch ungebrochen, wird oftmals eingewandt, denn die Großeltern kümmerten sich doch innig um ihre Enkel. Und auch die Eltern wollen doch nur das Beste für ihre Kinder! Stimmt: für ihre Enkel und ihre Kinder. Die sollen es gut haben, auf die besten Schulen gehen, ins Ausland gehen, Klavier spielen, tolle Praktika absolvieren und sich einen klasse Job ergattern. Die Kinder anderer Leute allerdings mögen die eigenen Kinder dabei gefälligst nicht behelligen. Die Solidarität der Generationen ist eine dynastische: Sie gilt nur der eigenen Familie – obwohl gerade diejenigen Kinder am meisten die Solidarität der Gesellschaft brauchen, deren eigene Eltern sich selbst am wenigsten leisten können.

Auch wenn das Paradigma des eigensüchtigen Homo oeconomicus schon immer falsch war und auch für die Alten nicht stimmt: Alte und Junge haben mehrheitlich unterschiedliche Werte und Wünsche, Prioritäten und Interessen. Das ist normal, aber das führt auch zu ganz normalen Konflikten.

Das ideologisch unverdächtige Max-Planck-Institut für demografische Forschung konnte mittels einer methodisch sorgfältigen Befragung von 14 000 Menschen nachweisen, dass die politischen Präferenzen eines Bürgers immer zukunftsfeindlicher werden, je älter er wird. Dass beispielsweise ein 65-Jähriger eine Erhöhung des Kindergelds befürwortet, ist um 85 Prozent weniger wahrscheinlich als bei einem 20-Jährigen. Die Zustimmung zu flexibleren Arbeitszeiten für Eltern schrumpft um 50 Prozent. Und auch die Befürwortung öffentlicher Kinderbetreuung nimmt ab dem sechzigsten Lebensjahr drastisch ab. Zugleich sprechen sich die Alten für mehr Staatsausgaben aus, wenn sie davon profitieren – zulasten der mittleren Generation. Alte sind wesentlich häufiger als Junge gegen die Erhöhung des Rentenalters und gegen die Kürzung der Rentenbezüge, stattdessen aber für Steuererhöhungen zur Finanzierung der Rente und für mehr gesetzliche finanzielle Unterhaltspflichten der Kinder gegenüber ihren Eltern.

Die Alten gehen gegen Windräder auf die Straße, die Jungen für den Frieden

Den meisten Alten ist einerlei, wie es jungen Eltern, Teenagern und Studierenden geht, wenn es sich dabei nicht gerade um ihren eigenen Nachwuchs handelt. Wenn die Verteilung knapper Ressourcen zur Debatte steht, denken sie vor allem an sich selbst.

In einer großangelegten Untersuchung zu den Bürgerprotesten in Deutschland aus dem Jahr 2013 stellte das Institut für Demokratieforschung an der Universität Göttingen fest, dass „ganz besonders Vorruheständler, Rentner, Pensionäre“ zu den Protestierern gehören. Beispielsweise sind von den Anti-Energiewende-Demonstranten, die gegen Windräder oder Stromleitungen auf die Straße und vor die Gerichte gehen, 80 Prozent über 45 Jahre alt. „Junge bilden die Ausnahme.“ Die Forscher erwarten, dass sich bald „Hunderttausende hochmotivierter und rüstiger Rentner in den öffentlichen Widerspruch begeben.“

Das Wissenschaftszentrum Berlin nahm den Protest gegen das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ näher in Augenschein und bestätigt das Bild: Die meisten Bahnhofsgegner waren entweder im späten Berufsleben, im Vorruhestand oder in Rente. Jugendliche waren dagegen kaum anzutreffen; im Vergleich dazu fiel der Anteil Jugendlicher bei Anti-Kriegs-Demonstrationen wesentlich höher aus. Mit anderen Worten: Die Alten gehen gegen Bahnhöfe und Windräder auf die Straße, die Jungen für den Frieden.

Diese Unausgewogenheit schlägt sich auch bei Volksentscheiden nieder. Für die Schweiz haben Giuliano Bonoli, Professor für Sozialpolitik an der Universität Lausanne, und Silja Häusermann, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Zürich, das Abstimmungsverhalten bei 22 Volksentscheiden zu Arbeitsmarktpolitik, Rentenpolitik und Familienpolitik untersucht und in fast allen Fällen das Lebensalter als prägenden Faktor identifiziert. So votierten die Alten signifikant häufiger gegen Arbeitszeitverkürzungen, gegen Reformen in der Rentenversicherung und gegen Entlastungen für Familien. Bei einer Volksabstimmung im März 2013 über die Förderung öffentlicher Kinderbetreuung (den so genannten Familienartikel) beispielsweise stimmten die jüngeren Schweizer mehrheitlich dafür, aber die älteren mehrheitlich dagegen. Die Alten wollten demzufolge nicht, dass der Staat jungen Familien mehr öffentliche Kinderbetreuung bietet. Das ist genau das Ergebnis, das das Max-Planck-Institut prognostiziert hatte.

Bei einer Volksabstimmung in Österreich im Januar 2013 über die Wehrpflicht stimmten 63 Prozent der Unter-30-Jährigen für die Abschaffung, aber 71 Prozent der Über-60-Jährigen für die Beibehaltung. Damit ist die Abschaffung der Wehrpflicht am Veto der Alten gescheitert. Wer gibt den Alten das Recht, eine Minderheit zu Zwangsdiensten zu verpflichten?

Bei der Mitgliederbefragung des CDU-Landesverbands Berlin zur „Ehe für alle“ sprachen sich im Juli 2015 fast zwei Drittel der Über-60-Jährigen gegen die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare aus, während mehr als zwei Drittel der Unter-30-Jährigen dafür votierten. Angesichts der Altersstruktur der Partei heißt das: Die Mehrheit der Mitglieder ist dagegen. Und so drückten die Alten der Partei ihre altertümlichen Wertvorstellungen aus dem letzten Jahrtausend auf, nur weil ihnen Gott oder das Bauchgefühl der Kanzlerin geflüstert hat, dass gleichgeschlechtliche Liebe irgendwie nicht ganz koscher sein kann. Selbst in den konservativen Vereinigten Staaten dürfen Schwule seit 2015 mit staatlichem Siegel heiraten. Kaum zu glauben, dass Texas einmal liberaler sein würde als Deutschland.

Kinderlärm ist Zukunftsmusik? Das war einmal

Die Blockadehaltung macht auch vor der Bildungspolitik nicht Halt. Laut Umfragen im Rahmen der Pisa-Untersuchungen beklagen die Schulleitungen als das zweitgrößte Problem, dass Veränderungen gegen den Widerstand der Lehrer nur schwer durchsetzbar sind (als größtes Problem sahen sie die mangelnde individuelle Förderung der Schüler an). In einem Land, in dem jeder zweite Lehrer über 50 ist, können wir wohl noch lange auf die Bildungsrevolution warten. Die Leidtragenden sind unsere Kinder, die wir zu Opfern der Schulen von gestern machen.

Wenn künftig auch auf Bundesebene per Volksentscheid abgestimmt werden soll, wird die Alten-Lobby die Themen dekretieren, die Politik vor sich hertreiben und die Jungen unterjochen. Die Interessen von Minderheiten – und damit in einer alternden Gesellschaft auch der Jungen – werden in einer Referendumsrepublik der Greise leicht untergebuttert.

Kinderlärm ist Zukunftsmusik? Das war einmal. Angesichts von sich häufenden Klagen gegen die „unzumutbare Lärmbelästigung“ durch Kindergeschrei (so Leonhard Kuckart, stellvertretender Vorsitzender der Senioren-Union), mit denen ältere Herrschaften den Bau von Spielplätzen und Kitas verhinderten oder gar per Gerichtsurteil die Schließung erwirkten, hat die Bundesregierung es inzwischen zum Gesetz machen müssen, dass spielende Kinder auch in Wohngebieten ausdrücklich zulässig sind. Für zu viele Alte waren fröhliche Kinder zu viel der Lebensfreude. Sollen die Kinder doch zu Hause bleiben, wo sie hingehören!

Ein Gesundheits-Check für Autofahrer über 70? Ein Tabuthema, an das sich kein Politiker heranwagen kann, ohne öffentlich gelyncht zu werden. Dabei sind es die überforderten Alten, nicht die übermütigen Jungen, die das größte Risiko auf der Straße darstellen. Über-80-Jährige verursachen dreimal so häufig Unfälle wie der Durchschnittsfahrer, Über-75-Jährige fast doppelt so häufig. Die sonst gern zu Unrecht verdächtigten Fahranfänger der 18- bis 24-Jährigen folgen erst an dritter Stelle. Menschen sterben, weil die Alten sich nichts vorschreiben lassen wollen und sich an ihr Auto klammern, bis dass der Tod sie scheide. Politiker, die das Thema auch nur anzusprechen wagen, landen auf dem Scheiterhaufen. Noch immer sind Menschenleben weniger wert als die freie Fahrt für freie Senioren.

Die Alten wollen den Jugendlichen sogar vorschreiben, wie sie sich zu kleiden haben: Die Mehrheit der älteren Bürger will Hotpants und andere freizügige Kleidung an Schulen verbieten, die Mehrheit der Jungen ist verständlicherweise gegen ein solches Verbot. Adenauer wäre stolz gewesen.

Die Sehnsucht nach Beständigkeit in einer Welt, die sich immer schneller dreht, hat den modernen Empörungseifer hervorgebracht und den einstigen Fortschrittseifer verdrängt. Weil zu viele nicht mehr neugierig sind, sondern gerne alles so beibehalten wollen, wie sie es kennen, steht unsere Gesellschaft still. „Nichts ist ungünstiger und unangenehmer für den Bewegungscharakter einer Gesellschaft als die Herrschaft gebildeter Rentiers“, schreibt Heinz Bude, Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. „In gewisser Weise kann man sich manchmal unsere Gesellschaft als ein Aggregat aus Rentnern vorstellen, in der die Sucht nach Sicherheit alles Leben zum Erliegen gebracht hat“, meint auch Reimer Gronemeyer, Professor für Soziologie an der Universität Gießen. „Es ist ein panischer Egoismus, in den sie sich eingemauert haben. In gut gesicherten Positionen, in abbezahlten Immobilien, mit Lebensversicherung und Pensionsanspruch starren sie auf ihren Garten mit Feuchtbiotop und haben Angst.“

Laut Umfragen aus dem Jahr 2015 sind die Deutschen zufrieden mit dem, wie es ist, und sie wollen, dass das auch so bleibt. Ihre größten Ängste: die Kosten der Griechenland-Krise, Terror und Flüchtlinge. Ihr größter Wunsch: Steuersenkungen. Zukunftsprojekte wie Energiewende, Infrastrukturpaket oder Bildungsreform müssen hinten anstehen. Die Bundesregierung unter Angela Merkel wird vermutlich fast die Hälfte ihrer selbst gesetzten Nachhaltigkeitsziele verfehlen, so erklären es ihr die eigenen Monitoring-Berichte; stören tut es niemanden. Es geht uns ja so gut heute, wen kümmert da schon die Zukunft? Wir fühlen uns wohl in unserem bequemen Heim und schotten uns ab gegen das unbequeme Draußen: gegen Griechenland und Globalisierung, gegen Flüchtlinge und Freihandel.

»Früher war alles besser«, lautet das Leitmotiv der rechten Altenpartei AfD

Gerade die Massenaufmärsche der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ und der unheimliche Erfolg der so genannten Alternative für Deutschland beruhen genau auf der Idee, dass früher alles besser war: D-Mark, weniger Ausländer, weniger Europa, mehr Ruhe und Ordnung, überschaubar und sicher. Deshalb wählten wir Deutschen eine rechte Altenpartei ins Europaparlament, in fünf Landtage und beinahe in den Bundestag, deswegen ist sie heute in den Umfragen die drittstärkste Kraft. Ihre Ideologie ist immer noch da und viel tiefer in der bürgerlichen Mitte verankert, als viele das wahrhaben wollen.

Wenn nichts mehr sicher ist und selbst unerschütterlich geglaubte Wertvorstellungen plötzlich zur Disposition stehen, fühlen sich die Menschen sogar dort bedroht, wo es gar keine Bedrohung gibt – wie in Sachsen, wo zehntausende meist ältere Männer gegen den Islam auf die Straße gingen, obwohl es dort gar keine Muslime gibt. Und die Menschen klammern sich umso mehr an die verschollene Vergangenheit. „Wer bei Pegida mitmarschierte, stand dem Renteneintritt näher als dem Schulabschluss“, konstatiert der Journalist Sebastian Christ. „Was im Jahr 2015 stattfindet, ist ein 1968 mit umgekehrten Vorzeichen. Nicht die Studenten gehen auf die Straße, sondern Menschen, die kurz vor der Rente stehen oder schon längst nicht mehr erwerbstätig sind. Sie formulieren keine optimistischen Zukunftsvisionen von ‚Love and Peace‘, sondern schreien ihren Hass und ihren Frust in den Himmel.“

Gerne wird jungen Menschen eine Anfälligkeit für rechtsextreme oder rechtspopuläre Ideologien unterstellt. Aber sieht man einmal von der speziellen Gruppe der jungen Männer mit niedriger Bildung und niedrigem Einkommen ab, ist die junge Generation liberaler, toleranter und weltoffener als die alte. „Jugendliche in Deutschland legen mit Bezug auf Muslime einen offeneren und demokratischeren Umgang mit Vielfalt und Diversität an den Tag als Erwachsene“, stellt das Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin fest. Beispielsweise sprechen sich mehr als 70 Prozent der 16- bis 25-Jährigen gegen Einschränkungen beim Bau von Moscheen oder beim Tragen des Kopftuchs an Schulen aus – im Gegensatz zu den Alten, die mehrheitlich nach Verboten rufen. Außerdem spielt nationale Symbolik unter jungen Menschen eine weniger große Rolle als bei älteren: Den Jugendlichen ist es vergleichsweise weniger wichtig, als Deutsche wahrgenommen zu werden, bei der Nationalhymne kommen bei ihnen weniger positive Gefühle auf, und für sie ist es weniger wichtig, ob ein Mensch deutsche Vorfahren hat oder nicht, um als Deutscher gelten zu können.

Die Bundesregierung macht Politik für die Babyboomer

Ähnliche Ergebnisse liefert die Umfrage „Willkommenskultur in Deutschland“ im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Während die Alten Probleme in den Schulen, eine Belastung des Sozialstaats und soziale Spannungen als Folge der Zuwanderung fürchten, bleiben die Jungen eher gelassen. Gleichermaßen unzweideutig fällt der „Religionsmonitor 2015“ aus: Demzufolge fühlen sich Jüngere vom Islam im Allgemeinen weder bedroht noch überfremdet, wohingegen zwei Drittel der Älteren glauben, der Islam sei eine Bedrohung und passe nicht in die westliche Welt. Die große Mehrheit der Jüngeren denkt, der Islam gehöre zu Deutschland, während eine gleich große Mehrheit der Älteren genau das Gegenteil glaubt. Es sind also vor allem die Alten, die für rechte Ideologie empfänglich sind – und keineswegs die Jungen.

Kaum hatte die Kanzlerin einen Aufbruch angekündigt – „Wir schaffen das!“ – musste sie den Aufbruch wieder abbrechen. Denn das Volk wollte gar nicht aufbrechen. Die überraschende Sympathiewelle für die Heimatvertriebenen, die am Münchener Bahnhof eintrafen, währte nur solange, bis wir merkten, dass diese Menschen ja hierbleiben wollen. Im Oktober 2015 sagte mehr als die Hälfte der Deutschen, dass sie Angst vor der steigenden Zahl der Flüchtlinge hat. Und als Pegida mal wieder auf die Straße ging, kamen wieder 20 000 Menschen, die Angst hatten vor dem Neuen, vor dem Fremden, vor dem Wandel.

Der demografische Wandel verändert das kulturelle Leitmotiv des Landes. Immer mehr Menschen haben den größeren Teil ihrer Lebenszeit bereits hinter sich gebracht. Sie haben kein Interesse mehr an der Zukunft, sondern richten es sich bequem in der Gegenwart ein und konzentrieren sich auf die Sicherung des erreichten Status quo. Am besten möge alles so bleiben, wie es schon immer war. Die Bundesregierung macht Politik für die Generation der Babyboomer, und die wollen keine Wunder und keine Experimente, sondern ihre Ruhe.

Angela Merkel thront als Garantin des Status quo über einem eingeschlafenen Land. Ihr Wahlversprechen lautet solide Trägheit, und bloß nicht zu viel Reformeifer. Für was steht Angela Merkel? Große Projekte hat sie nicht, geschweige denn eine Vision. Nicht für Deutschland, und erst recht nicht für Europa. Statt „Deutschlands Zukunft gestalten“ wäre „Deutschlands Vergangenheit verwalten“ der passendere Leitspruch für den Koalitionsvertrag gewesen.

Es geht nicht darum, allen Erfolg schlechtzureden, um German Angst oder Miesmacherei. Ebenso wenig droht uns der demografische oder sonst wie herbeigeredete Untergang. Wenn wir uns aber satt und selbstgefällig zurücklehnen und sagen: „Es geht uns doch gut!“, dann verpassen wir es, rechtzeitig die Weichen dafür zu stellen, dass dieses Land wieder zu einer Nation am Puls der Zeit wird. Und dann wird das Erwachen aus der Schönfärberei umso bitterer sein. Die größten Fehler macht man meist dann, wenn es einem gut geht.

Stattdessen bedarf es eines Rucks, zumindest aber vieler kleiner Schritte in die richtige Richtung. Zurzeit allerdings machen wir zu viele Schritte in die falsche Richtung – oder gar keine. Wir surfen auf der Wohlfühlwelle und sonnen uns in der Politik der ruhigen Raute. Wir leben in einem lebens- und liebenswerten Land, doch wir sollten auch alles dafür tun, dass dieses Land auch so lebens- und liebenswert bleibt.

Willy Brandt hat einmal gesagt: „Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie selbst zu gestalten.“ Da bleibt die Frage, wer die Zukunft überhaupt noch gestalten will. Und wer überhaupt noch ein Interesse an der Zukunft hat. «

Dieser Essay beruht auf Wolfgang Gründingers neuem Buch „Alte Säcke Politik: Wie wir unsere Zukunft verspielen“, das soeben im Gütersloher Verlagshaus erschienen ist. Es hat 224 Seiten und kostet 17,99 Euro.

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