Genosse Pirat

Seit über zwölf Jahren bin ich Sozialdemokrat. Und im letzten Sommer trat ich als "Doppelagent" den Piraten bei. Ich wollte wissen, was sie anders, was sie besser machen. Am Ende meines Seitensprungs habe ich die SPD wieder lieben gelernt

Mein erstes Mal mit den Piraten hatte ich im Herbst 2010 beim „Government 2.0 Camp“ in der Bertelsmann Stiftung. Dort erklärte der Programmierer Friedrich Lindenberg die sagenumwobene Demokratie-Software „Liquid Feedback“, und ich war augenblicklich fasziniert. Ein paar Tage darauf saß ich mit Piraten-Mitgründer Florian Bischof in seinem Friedrichshainer Stammcafé Intimes und wir redeten: darüber, wie das Internet unsere Demokratie revolutionieren könnte; natürlich darüber, warum unser analoges Urheberrecht einer Generalüberholung bedarf; aber vor allem darüber, was die Piraten anders und besser machen wollen.

Damals konnte man auf Zeit Online ausführlich lesen, warum die Piraten auf jeden Fall zum Kentern verurteilt seien. Auch anderen Presseberichten war zu entnehmen, wie chaotisch, nazi-unterwandert, frauenfeindlich und ahnungslos dieser Haufen resozialisierungsbedürftiger Nerds sei. Doch alle Piraten, denen ich über den Weg lief, hielt ich für intelligente und vernünftige Menschen, die ich gerne in der SPD gesehen hätte.

Zwei Jahre später stand ich vor der Pflugstraße 9a in Berlin-Mitte. Hinter dem Schaufenster twittert und bloggt die Bundeszentrale der Piraten. In meinem Kopf gingen die Gedanken hin und her: Soll ich das wirklich tun? Will ich der SPD wirklich untreu werden? Der Partei, mit der ich seit über zwölf Jahren alle Höhen und Tiefen durchgestanden habe?

Kurz nach meinem 16. Geburtstag war ich der SPD beigetreten – zu einer Zeit, als Rot-Grün frisch in die Regierungsverantwortung gewählt worden war. Solange ich lebte, hatte Helmut Kohl regiert. Einen anderen Kanzler kannte ich gar nicht. Dass sich etwas ändern würde, sich überhaupt etwas ändern ließe, wagte ich nicht zu hoffen. Bis zum 27. September 1998. Dieser Tag war für mich der Beginn einer neuen politischen Zeitrechnung.

Als ich mein rotes Parteibuch überreicht bekam, war das für mich das Ticket zum Kampf für eine bessere Welt. Ich war jung und voller Ideale. Ich wurde das, was man abfällig einen „Partei­soldaten“ nennt: Ich opferte meine Wochenenden für Partei­tage, Seminare und Konferenzen, hatte bald ein halbes Dutzend Parteiämter vom Ortsverein bis zum Landesverband gesammelt, wurde Zeitungsausträger für das SPD-Lokalblatt, verteilte rote Kondome vor dem Schulhof, organisierte ein „Sommerfest der Toleranz“ am Asylbewerberheim und half beim SPD-Kinderzeltlager in den Schulferien. Weder Hitze, Kälte noch Regen konnten uns abhalten, auf dem Marktplatz unsere Flugblätter unters hoffnungslos desinteressierte Volk zu bringen.

Der Anfang vom Ende meines Marsches durch die Institutionen war ein für sich genommen unscheinbares Ereignis bei einem Juso-Bundeskongress. Der Juso-Landesverband Nordrhein-Westfalen reichte einen Antrag ein mit der Forderung, „saubere Kohlekraftwerke“ zu subventionieren. Als glühender Anhänger der Energiewende konnte ich nicht lautlos dasitzen. In einer spontanen Gegenrede begründete ich, warum Kohlekraftwerke zwangsläufig immer klimaschädliche Abgase produzieren und das Festhalten an der Kohle den Ausbau der erneuerbaren Energien blockiert. Der Vertreter der NRW-Jusos brachte kein einziges inhaltliches Gegen­argument. Stattdessen fragte er, was der bayerischen Delegation einfalle, diesen Antrag abzulehnen. Dabei hatte ich nicht als Vertreter meines Landesverbands gesprochen, sondern als Mensch mit einer eigenen Meinung und – wie ich fand – guten Argumenten. Meine Delegationsleiterin pfiff mich zurück: In Zukunft möge ich individuelle Redebeiträge bitte vorher absprechen. Anträge aus Nordrhein-Westfalen sollte man generell nicht ablehnen, weil man auf die Stimmen des mitgliederstärksten Landesverbands zur Sicherung der Mehrheit für die eigenen Anträge angewiesen sei.

Die Erfahrung, dass machtpolitisches Taktieren wichtiger sein kann als der Streit der Argumente, prägte die gesamte Schröder-Ära. Die SPD war eine Partei, die Gerechtigkeit wollte und die Kapitalsteuern senkte; die Freiheit wollte und bürgerliche Freiheiten beschnitt; die Solidarität wollte und die Riester-Rente erfand. Als der Basta-Kanzler die Parteibasis links liegen ließ, stauten sich Frustration und Ohnmacht immer stärker an. Viele meiner Freunde traten wieder aus, oder wurden – so wie später ich selbst – zu Karteileichen.

Visionen und Wodka Mate im „Ritter Butzke“

Als ob ich von der Frau, die ich liebte, betrogen worden wäre, so fühlte ich mich von der Partei, in die ich alle meine Hoffnung gesetzt hatte, bitter enttäuscht. Doch wie man im Privatleben seine Freundin mit all ihren Macken und Fehlern liebt und ihr treu sein will, so stand ich zur SPD, wo ich mich trotz allem zuhause und aufgehoben fühlte. Sie war eben meine Partei.

Dann kamen die Piraten. Sie waren jung, voller Tatendrang und irgendwie anders und neu. Sie wollten mehr Demokratie wagen, eine Republik zum Mitmachen, den gläsernen Staat statt den gläsernen Bürger. Jeder kann online einen Antrag stellen, diskutieren und abstimmen lassen. Das war eine völlig neue Qualität, Demokratie zu denken. Wir Jusos mussten gegen Schröders Agenda 2010 noch mit Unterschriftenlisten ankämpfen – und wurden als linksromantische Traumtänzer denunziert, die der eigenen Regierung den Dolch in den Rücken stoßen. Und jetzt soll die Politik nicht von einer Kommission verhandelt werden, sondern selbstgemacht von Menschen wie dir und mir?

Je mehr ich mich mit der piratigen Idee der flüssigen Demokratie beschäftigte, umso mehr war ich begeistert – und überzeugt: Das ist keine Chaotentruppe verirrter Mittelschichtszöglinge mit Gratismentalitätskomplex. Dieses Experiment einer radikal quergedachten Demokratie ist zu spannend, als dass ich länger nur auf der Bank sitzen und zuschauen kann.

Wie so viele andere projizierte auch ich in diese Partei hinein, was ich von ihr denken wollte: Cool, endlich mal ein paar Leute, die den Laden aufmischen, die sich nicht in mühseligen Flügelkämpfen abarbeiten, die noch den Mut zu großen Visionen haben, die mit Wodka Mate im Ritter Butzke ihre Wahlparty feiern und nicht bei schlechtem Wein und fadem Licht in der Parteizentrale.

Ich hätte es besser wissen müssen. Die SPD hat damals fünf Jahre gebraucht, um mich zu frustrieren. Die Piraten schafften es in fünf Monaten.

Es fing an mit meinem Besuch der Crew „Konrad Zuse“ in der Gaudystraße. Der Stammtisch fand im Wohnzimmer des Käpt’n (quasi der Ortsvereinsvorsitzende) statt, einem beleibten IT-Berater mit geschätzten zehn Fernbedienungen auf dem Tisch. Es wurden ständig IT-Fachbegriffe hin- und hergeworfen, und als ich es wagte, mich nach der Bedeutung eines Kürzels zu erkundigen, blickte der Käpt’n mich miesepetrig an und wiederholte das Kürzel laut, als ob dies mein Verständnis desselben verbessern würde, beließ mich aber in meiner Unwissenheit. Später maß ich mir die Behauptung an, in einem Parteivorstand sollte eine Mindestquote von Frauen vertreten sein, woraufhin ich belehrt wurde: „Frauen zeichnen sich durch nichts aus, außer dass sie Kinder kriegen und einmal im Monat bluten.“ Ich guckte konsterniert.

Es blieb nicht das einzige Mal, wo ich mich nicht allzu willkommen fühlte. Bei einem der wöchentlichen „Kennenlerntreffen“ in der Kinski-Bar hockten die Piraten in Grüppchen zusammen und interessierten sich nicht die Bohne für neue Gesichter. Statt einer Begrüßung wurde ich von einem der Organisatoren grundlos angepöbelt. Seitdem gehe ich nicht mehr hin. Als ich mich via Twitter nach einem Treffen des Umwelt-Arbeitskreises erkundigte, bekam ich vorgehalten, dass neoliberale Spione der Versicherungs- und Tabaklobby (von denen ich einer sei) nicht willkommen seien. Bei einer Sitzung der AG 60+ in München, dem für die Rentenpolitik zuständigen Seniorentreff der Piraten, hatte ich es schwer auszureden, ohne gegen dröhnende Zwischenrufe („Das ist ein scheiß Argument!“) oder diffuse Verschwörungstheorien („Wir haben hier die Kopie von einem Fax, das beweist, dass die Rentenversicherung etwas zu verbergen hat ...“) ankämpfen zu müssen.

Bei der SPD würde man ein Neumitglied auf Händen tragen. Bei den Piraten begegnete ich dagegen einer gehörigen Portion gehässiger Eitelkeit. Wenn mit dem neuen Politikstil ein peinlicher und aufgeblasener Jargon gemeint ist, wenn die Piraten überall protzen und andere als Deppen hinstellen, wenn Misstrauen und Missgunst als gewöhnliche Ausdrucksformen gelten, dann ist das nicht die unkonventionelle Bereicherung der konventionellen Politik, die ich mir wünsche. Nicht, dass es unter Piraten keine fähigen und freundlichen Menschen geben würde; die gibt es natürlich. Die Piraten haben viele tolle und engagierte Leute, die Ahnung von Politik haben. Aber sie haben noch viel mehr Mitglieder, die nur glauben, dass sie Ahnung haben.

Intransparenz und Schienbeintreten

Bald merkte ich, dass es auch mit der internetbasierten Mitmachkultur nicht so einfach ist. Als ich einem Piraten meine Mithilfe für einen Programmantrag zum Thema Lobbyismus anbot, und der so tat, als würde er meine Unterstützung gut finden, entdeckte ich seinen Antrag ein paar Tage später im Liquid Feedback – ohne mich überhaupt nur darauf hinzuweisen. Ich unterstellte nichts Böses und nahm mir ein paar Stunden Zeit, um eine Reihe detaillierter Änderungsvorschläge auf die Diskussionsplattform zu stellen, und bat um Rückmeldung. Die kam nie. Die schöne Idee, Anträge im Netz zu beraten, kann in der Praxis nicht klappen, wenn Kritik einfach ignoriert wird. Am Ende fand der grottige Text die Mehrheit der schwarmintelligenten Basis im Liquid Feedback, was aber keine weitere Rolle spielt, weil der Parteitag einen konkurrierenden Antrag verabschiedete, der allerdings weniger Transparenz verlangte als die einschlägigen Konzepte der SPD. Übrigens: Wenn die Piraten der SPD selbstherrlich vorwerfen, nicht transparent zu sein (Steinbrück!), sollten sie lieber mal vor der eigenen Haustüre kehren. So hüllt etwa der Berliner Abgeordnete Alexander Morlang seine Nebeneinkünfte in beredtes Schweigen und kanzelt Kritiker via Twitter als „Dolchstößer“ und „Messerstecher“ ab.

Es nervt, wie sich manche Piraten als Allesversteher und coole Freibeuter aufspielen und jeden, der nicht ihrer Meinung ist, als Nichtsversteher und Deppen hinstellen. Und das pauschale Schienbeintreten gegen andere Parteien ist bei den Piraten mindestens genauso schlimm wie anderswo auch. Die Piraten feiern sich als die einzigen Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit, obwohl sie selbst als unvorbelastete Oppositionspartei mit diesem Anspruch in der Praxis regelmäßig scheitern – sei es, wenn sie eine Obergrenze für ausufernde Managergehälter ablehnen, wenn sie die verkorkste Zuschussrente loben, wenn sie ihre schützende Hand über kriminelle Steuerflüchtlinge halten oder wenn Parteichef Bernd Schlömer zur Steuerpolitik nur sagt, dass die relevanten Gremien zu gegebener Zeit die Position der Piraten klären würden.

Auf dem Bundesparteitag in Bochum erlebte ich laufend Momente, wo selbst einem abgehärteten Parteitagsgänger die Spucke wegbleibt und es einem nur durch den Kopf geht: „Hä?“ Wenn es elf Vorschläge zur Tagesordnung gibt, wovon beispielsweise Vorschlag Nummer 7 eine Kombination aus den Vorschlägen 1, 2, 3, 4 und 6 ist – hä? Wenn ein Antrag fast einstimmig abgenickt wird, dann jemandem ein Kritikpunkt auffällt, woraufhin der Antrag noch einmal abgestimmt und fast einstimmig abgelehnt wird, getreu der Devise: „Wir stimmen so oft ab, bis das Ergebnis stimmt“ – hä? Wenn ein anderer Antrag binnen 30 Sekunden fast einstimmig durchgewunken wird, ohne irgendeine Debatte dazu, ja selbst ohne dass der Antragsteller seinen Antrag überhaupt vorgestellt hätte – hä?

Wenn das energiepolitische Wahlprogramm den Ausbau „generativer“ Energien (im Unterschied zu „regenerativen“ Energien) fordert und die wunderliche Wortneuschöpfung mit dem Argument gerechtfertigt wird, das seltsame Adjektiv stehe ja auch schon im Grundsatzprogramm (was eher noch bizarrer ist) – hä? Wenn in einer basisdemokratischen Partei die Debatte zu den wirtschaftspolitischen Grundsätzen (!) nach gerade mal fünfzehn Rednern abgewürgt wird, weil man ja zu wenig Zeit zum Diskutieren hätte – hä? Wenn die europapolitischen Grundsätze das Wort „Euro“ nicht enthalten – hä? Wenn Änderungsanträge zu Beschlussvorlagen nicht erlaubt sind, sondern ich einen Antrag nur abnicken oder aber in Bausch und Bogen ablehnen kann, quasi nach dem Motto „friss oder stirb“ – hä? Wenn auf einem basisdemokratischen Parteitag die Hälfte der 2 000 Teilnehmenden aus nur zwei Bundesländern kommt, was schwerlich basisdemokratisch genannt werden kann – hä? Wenn die angebliche Internetpartei die Grundsatzdebatte über die Zukunft ihrer Demokratiesoftware Liquid Feedback auf unbestimmt vertagt – hä?

Was ist von den Ideen und Idealen der Anfangszeit geblieben? Was ist mit dem neuen Politikstil, den die Piraten so inbrünstig einforderten?

Basisdemokratie ist leichter gesagt als getan. Was bei einer Kleinstpartei mit ein paar hundert Aktiven noch klappte, funktioniert bei einer Partei mit 30 000 Mitgliedern nur mehr schlecht als recht – und wird mit jedem weiteren Wachstum noch schwieriger. Außerdem wird genauso getreten, an Stühlen gesägt und um Posten und Pfründe geschachert, auch hinter verschlossenen Türen. Seit Dezember gibt es sogar den ersten offiziellen Flügel, das „Frankfurter Kollegium“, ein Karrierenetzwerk im Kampf gegen den gegnerischen Flügel. Und im Januar kündigte der Bundesvorstand nach einer nicht-öffentlichen Sitzung an, er werde künftig unabhängiger von Parteibeschlüssen Stellung nehmen, auch wenn das Kritik an der Basis provoziere. Es ist völlig illusorisch zu glauben, Piraten seien die besseren Menschen.

Gefangen im Professionalisierungsdilemma

Einerseits schnauzen die Piraten jeden an, der die gleiche Messlatte wie bei anderen Parteien auch an sie anlegt, weil sie ja ganz anders seien. Andererseits behaupten sie aber, sie hätten ja gar nicht totale Transparenz gefordert und auch sonst nie behauptet, so anders, neu und revolutionär zu sein. Was denn nun? Die Piraten müssen sich professionalisieren, um überhaupt zu gemeinsamen Positionen zu finden und diese im politischen Alltag verhandeln zu können. Aber mit dieser Professionalisierung schmeißen sie eben auch viel von dem Charme und der Kultur über Bord, die sie gerade ausmacht. Gefangen im Dilemma.

Die Piraten sind ein Real-Life-Experiment mit offenem Ausgang. Ob sie gekommen sind, um zu bleiben, weiß niemand so genau. Aber allein dass sie immer noch da sind und sich felsenfest behaupten, ist Beweis genug, dass wir die Piraten brauchen, weil sie vorher gefehlt haben.

Die Piraten haben durch ihre bloße Existenz viel verändert. Ihre größte Stärke besteht in den Schwächen der anderen Parteien, denen sie ungeschminkt den Spiegel vorhalten. Die SPD kann von den Piraten lernen – aber genauso umgekehrt. Denn einige Strukturen bei dieser alten Volks­partei sind ja nicht grundlos so, wie sie sind.

Obwohl man bei den Genossen immer wieder Aufklärungsarbeit leisten muss, wenn es um Dinge wie „dieses Internet“ geht, obwohl mir immer noch die Enttäuschung über manche Fehler der Regierungsjahre in den Knochen sitzt, und obwohl immer wieder Sachen passieren, die man hart kritisieren kann und darf: Ich spüre in der SPD, dass die Menschen freundlicher und ver­trauensvoller miteinander umgehen, und ich spüre deren Empörung und Energie, wenn es um den Kampf gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung geht.

Während meines Flirts mit den Piraten habe ich viel gelernt. Vor allem aber habe ich die SPD schätzen gelernt – trotz all ihrer Macken und Mängel. Parteien bestehen nun einmal aus Menschen, und kein Mensch ist perfekt. Komme, was da wolle: Ich bin und bleibe Sozialdemokrat.

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