Wedding ist wie ein Gefängnis

Nach 47 Jahren Einwanderung steht fest: Die deutsche Integrationspolitik ist die Geschichte eines Scheiterns. In den Krisengebieten der großen Städte stehen die nachwachsenden "Deutschländer" auf verlorenem Posten. Wie geht es weiter?

Für Fatih ist der Multikulti-Entertainer Kaya Yanar ein "Verräter". In seiner Comedy-Show "Was guckst du?!" mache der sich regelmäßig über die hier lebenden Türken lustig, wenn er beispielsweise den Disco-Türsteher Hakan mimt. Dabei sei Yanar doch selbst ein Türke, sagt der 18-Jährige über seinen erfolgreichen Landsmann. Der ironische Blick des Fernsehmoderators auf die Goldketten tragenden Machos der dritten Immigrantengeneration und ihre coolen Sprüche ist Fatih völlig fremd. Er geht selten in die Disko, ist derzeit ohne Freundin und trägt keine Markenkleidung. Das kostet alles Geld, erklärt er lapidar. Als er vor zwei Jahren die Schule verließ, hoffte Fatih, nun einen Job zu finden. Genaue Berufsvorstellungen hatte er damals nicht. Er wollte schnell Geld verdienen, so wie es seine Eltern auch gewollt hatten. Geklappt hat das allerdings bisher nicht. Fatihs Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sind praktisch Null. Er hat es nur bis zur 7. Hauptschulklasse geschafft. Er gehört zu den 26 Prozent ausländischer Schulabgänger in Berlin ohne Abschluss.


Die Bildungssituation von Jugendlichen ausländischer Herkunft hat sich verschlechtert. Und das nicht erst seit der PISA-Studie, als die vermeintlich schlechten Leistungen von Migrantenkindern für das Debakel herhalten mussten. Migrationsforscher sehen es differenzierter. Sie beobachten seit längerem, dass der Anteil ausländischer Schüler an Realschulen und Gymnasien - verglichen mit dem Trend zu höheren Abschlüssen in den achtziger Jahren - stagniert. Nur jeder zehnte von ihnen erreicht die Hochschulreife, aber jeder vierte Deutsche macht Abitur. Zwei Drittel der deutschen Schulabgänger erzielen einen mittleren oder höheren Abschluss, bei den Ausländern ist es nur ein Drittel. Für die meisten bleibt die Hauptschule der einzige Bildungsweg. Eine Sackgasse, denn selbst hier erzielen knapp 20 Prozent der Schulabgänger keinen Abschluss. "In den Ländern Berlin, Bayern, Bremen und Hessen ist das Risiko des Schulversagens für ausländische Jugendliche besonders hoch", steht in einem Bericht der Bundesausländerbeauftragten aus dem vergangenen Jahr zu lesen.

"Warum sollte ich mich bewerben?"

Solche Selektionsprozesse wirken sich später auf die berufliche Qualifizierung aus. Laut einer aktuelleren Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung liegt der Anteil junger Ausländer ohne Berufsabschluss bei 32,7 Prozent. Die Quote der Ungelernten beträgt bei türkischen Jugendlichen sogar 39,7 Prozent. Der Trend auf dem Ausbildungsmarkt ist seit geraumer Zeit rückläufig. 1998 war die Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher mit rund 38 Prozent innerhalb von vier Jahren auf den Stand von 1990 zurückgefallen. In Berlin haben im Jahr 2000 nur 5,4 Prozent der jungen Ausländer einen Ausbildungsplatz bekommen. Durch die verschärfte Situation auf dem Ausbildungsmarkt haben Migranten selbst dann erhebliche Probleme, einen Beruf zu erlernen, wenn sie gute Zeugnisse vorweisen können.

"Warum sollte ich mich bewerben, ich habe ja eh keinen Abschluss", sagt Apo. Der schlaksige junge Araber mit dem lockigen Haar springt ständig vom Stuhl auf. Er müsse sich immer bewegen, das sei in der Schule auch so gewesen. Die Lehrer bescheinigten ihm Konzentrationsschwierigkeiten beim Lernen. Hinzu kamen die langen Fehlzeiten, zweimal musste er die 9. Klasse wiederholen. "Klar, die Eltern haben Stress gemacht", sagt Apo, "aber irgendwann haben sie nachgegeben". Die Schule war ihm damals nicht wichtig, er hing lieber mit Kumpels wie Fatih zusammen. Mit ihnen trifft er sich heute noch. Zum Karten und Billard spielen.


Das Jugendzentrum in der Reinickendorfer Straße ist für sie so etwas wie ein zweites Zuhause. Im Wedding zählen Freunde neben der Familie zu den wichtigsten Bezugspersonen. Die falschen Freunde zu haben bedeutet Scherereien mit der Polizei, weiß Apo. Und im Kiez liegen die Verführungen auf der Straße. Apos Clique besteht aus Türken der dritten Einwanderergeneration. Das Land ihrer Eltern kennen sie nur als Urlauber. Dort nennt man sie die "Deutschländer". Sie selbst bezeichnen sich als "Berliner türkischer Herkunft". Die Frage nach dem Elternhaus beantworten sie mit einem Standardsatz: Vater Arbeiter, Mutter Hausfrau. Manche Väter sind seit einiger Zeit arbeitslos. Viele Berliner Betriebe mussten nach der Wende schließen oder einen Teil ihrer Belegschaft entlassen. Davon sind vor allem die Berliner Türken betroffen. Überhaupt ist Arbeitslosigkeit ein zentrales Problem der Migranten. Da sie meistens keine Berufsausbildung haben und über schlechte Deutschkenntnisse verfügen, sind sie besonders schwer zu vermitteln. In Zeiten der Rezession ist der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt gnadenlos. Gefragt sind ausschließlich Facharbeiter, qualifizierte Angestellte und Hochschulabsolventen, während der Bedarf an ungelerntem Personal schrumpft. Jetzt rächt es sich, dass Deutschland zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs an Arbeitskräften Millionen von "Gastarbeitern" ins Land holte, wobei die Qualifikation die geringste Rolle spielte. Folglich blieb den meisten von ihnen der berufliche Aufstieg verwehrt. Beispiele erfolgreicher ausländischer Unternehmen gibt es allerdings auch.


Trotzdem, die 47 Jahre Einwanderung sind nicht unbedingt eine Erfolgsstory. Sowohl die Deutschen als auch die Migranten waren der irrigen Meinung, ihr Aufenthalt in Deutschland werde von kurzer Dauer sein. Bis vor kurzem galt noch die sture Losung: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Die "Gäste" fragten sich nicht ganz unberechtigt, warum sie sich denn integrieren sollten, wo sie doch bald in ihre Heimat zurückkehren würden. Doch sie blieben. Und ihre Kinder und Enkel bezahlen heute die Zeche. Sie werden eingeschult, ohne richtig Deutsch sprechen zu können. Und weil sie in Stadtteilen wie Neukölln, Kreuzberg oder Wedding leben, kommen sie in Grundschulklassen, in denen deutsche Schüler kaum anzutreffen sind. Vor allem in den Ballungszentren zeigt sich die Bildung von so genannten "Parallelwelten" besonders deutlich.

Aus der heimelige Mulitikulti-Traum

"Vor zehn Jahren bestand die Hälfte unserer Schüler noch aus Deutschen. Heute haben wir einen Ausländeranteil von etwa 95 Prozent", sagt Joachim Klein, Konrektor der Eberhard-Klein-Oberschule in Kreuzberg. Bildungsbewusste Eltern schicken ihre Kinder nicht auf die integrierte Haupt- und Realschule im berüchtigten Wrangeldreieck. Viele Deutsche sind in andere Stadtteile gezogen. Kreuzberg ist längst nicht mehr der heimelige Hort einer Multikulti-Gesellschaft, wo das Fremde als pittoreske Erscheinung empfunden wird. "Die Politiker haben die Ghettobildung zugelassen, und die Lehrer stehen nun auf verlorenem Posten", sagt der Pädagoge. "Wir kriegen diejenigen, die in den Gesamtschulen nicht untergekommen sind." Fast alle seine Schüler brauchen Förderkurse. Zum regulären vierstündigen Deutschunterricht kommen wöchentlich zwei Stunden "Deutsch als Zielsprache" (DAZ) hinzu. Mag sein, dass sechs Stunden für die Sprachdefizite der Schüler nicht ausreichend seien, gibt Klein zu, aber man könne sich auch zu Tode "dazzen". Der Förderunterricht nütze wenig, wenn die Kinder zu Hause und sobald sie unter sich sind, immer nur Türkisch sprechen. Bei den Lehrern macht sich der Frust breit. Nicht wenige von ihnen vermissen bei ihren Zöglingen den Integrationsdruck. Jugoslawen beispielsweise seien gezwungen, die deutsche Sprache zu erlernen - schon deshalb, weil sie nicht auf eine ähnlich gut organisierte und geschlossene Community zurückgreifen können wie die Türken.

Analphabeten in zwei Sprachen

Sadettin Birkan und Musa Özdemir unterrichten an der Eberhard-Klein-Schule neben den üblichen Fächern Türkisch als Wahlpflichtfach. Ein Viertel der Schüler nimmt das Angebot an. Von bilingualer Sprachkompetenz könne da gar nicht die Rede sein. Leider seien viele ihrer türkischen Schüler in beiden Sprachen Analphabeten, sagen die beiden. Das Sprachniveau auf der deutsch-türkischen Schule in Ankara ist weit aus besser, weiß Birkan aus Erfahrung. Bildungsdefizite seien kein kulturelles, sondern ein soziales Problem, erklärt Musa Özdemir. Das Elternhaus spiele bei der Schulerziehung die entscheidende Rolle. Zu den von ihm betreuten Elternabenden kommen viele türkische Väter und Mütter, aber er müsse jeden einzeln vorher anrufen. Özdemir ist Vertrauenslehrer und sitzt für die PDS in der Bezirksverordnetenversammlung von Kreuzberg-Friedrichshain. Er und viele seiner Kollegen sind der Meinung, dass man die Kreuzberger Schulen mit denen von Friedrichshain vermischen sollte. Nur so könne man der fortschreitenden Ghettobildung entgegen steuern. Außerdem müssten kleinere Klassen gebildet werden, die Kinder mehr Deutschunterricht bekommen.

Nicht nur die Einwanderer müssen lernen

Die Debatte um das neue Zuwanderungsgesetz der rot-grünen Regierung und der PISA-Schock brachten Politiker, Soziologen und Pädagogen auf den Plan. Es wurde diskutiert und polemisiert - über Leitkultur, Begrenzung und Steuerung von Einwanderung, Integrationsdruck, Nachzugsalter bei Kindern. Die Wohlmeinenden forderten Integrationsförderung, Unterricht in der Muttersprache bei den Erst- und Zweitklässlern und dass Personalchefs endlich die interkulturelle Kompetenz junger Migranten anerkennen sollten. Der Meinungen sind es viele. Patentrezepte gibt es jedoch wenige. Dazu wurden die Belange der Ausländer viel zu lange als ein Problem der Ausländer selbst angesehen. Es galt die unausgesprochene Maxime: Die Integrationsleistung hat gefälligst der Ausländer zu erbringen.


Indes wird es in Deutschland weiterhin Einwanderung geben - schon wegen des demografischen Wandels. Doch die kurzfristigen Bedürfnisse der Wirtschaft können nicht der einzige Motor für den Import von "human ressources" sein. Ein Einwanderungsland sollte sich darüber im Klaren sein, was es von den angeworbenen Arbeitskräften erwartet, aber auch darüber, was es ihnen bieten kann - nämlich die Möglichkeit, in der deutschen Gesellschaft anzukommen. Ob es sich bei ihnen nun um indische IT-Spezialisten oder polnische Altenpflegerinnen handelt. Zuwanderung und Integration werden zusehends einen breiteren Raum in der deutschen Innenpolitik einnehmen. Eine geglückte Integration beinhaltet eine sprachliche, soziale und wirtschaftliche Einbeziehung der Ausländer in die deutsche Gesellschaft. Doch die vielen Verlierer in der dritten Immigrantengeneration zeigen allzu deutlich die Schwächen der bisherigen deutschen Integrationspolitik. Sie legen nahe, dass Lernprozesse nicht nur den Ausländern abverlangt werden können.


"Wedding ist wie ein Gefängnis. Du kommst hier nicht raus", sagt Apo. Einen Versuch will er dennoch starten. Er hat vor kurzem einen einjährigen Lehrgang begonnen und wird, wenn alles gut geht, seinen Hauptschulabschluss nachmachen. Er hofft, dass er sich danach überbetrieblich zum Maler oder Elektriker ausbilden lassen kann. Zunächst müsse er jedoch 16 schriftliche Hausarbeiten abliefern, um sein Zeugnis zu bekommen, sagt Apo und rollt dabei mit den Augen. Auch Fatih wird demnächst an einer Fördermaßnahme teilnehmen. Außerdem hat er die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt. Deutsche Freunde hat er zwar keine, aber mit einem deutschen Pass werde man ihn besser behandeln, glaubt Fatih.

Hauptschulabschluss - wenn alles gut geht

Dass die berufliche Qualifizierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine zentrale Voraussetzung für deren Integration ist, darüber sind sich deutsche Politiker und die Interessenverbände der Einwanderer einig. Doch die von den Arbeitsämtern angebotenen Fördermaßnahmen brachten bisher wenig Erfolg. Nur wenige Teilnehmer fanden anschließend eine Arbeit. Der Türkische Bund Berlin-Brandenburg (TBB) hat deshalb verschiedene Modellprojekte gestartet. Sie werden von der Bundesregierung finanziert. Die Palette reicht von Bera- tungsstellen zur Berufsorientierung über Fortbildungsmaßnahmen bis hin zum Bewerbungstraining. Zusätzlich will der TBB die etwa 5.000 türkischen Unternehmer in Berlin stärker in die Ausbildungspflicht nehmen. Doch selbst wenn alle diese Betriebe die Voraussetzungen hierfür erfüllen würden - angesichts der prekären Lage von Jugendlichen wie Fatih und Apo wäre auch diese Initiative nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

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