Der Ernst der Lage

EDITORIAL

Viel war in den ersten Wochen nach der Bundestagswahl davon zu hören, nun stehe in Deutschland eine rot-grüne Epoche bevor. Nun ja. Richtig ist, dass einzelne Sozialdemokraten noch immer nicht aufgehört haben, sich an ihrem Triumphgefühlen aus den frühen Morgenstunden des 23. September zu berauschen. Weniger ausgeprägt als diese Hochstimmung ist die Einsicht in die Voraussetzungen des eigenen Erfolgs. Deutlich weniger intensiv fällt daher bislang auch das Nachdenken darüber aus, welche Bedingungen, erfüllt sein müssen, damit die SPD beim nächsten Mal wieder vorn liegen kann.

Es war eine auf den letzten Metern eingesammelte, ganz und gar flüchtige Wählerkoalition des Augenblicks, die Rot-Grün wider die eigenen Erwartungen doch noch als Sieger über die Ziellinie trug. Sechs Wochen vor dem tatsächlichen Wahltermin hätten die Wähler ihren Vertrag mit dieser Koalition entschlossen gekündigt - und sechs Wochen nach jenem Stichtag schon wieder. Strukturelle Mehrheiten sehen anders aus.

Genau deswegen ist es richtig, von der Fähigkeit zur strukturellen Mehrheit zu reden. Denn die besitzt die SPD in der Tat. Die Republik hat sich verändert. In kultureller und mentaler Hinsicht steht die deutsche Gesellschaft tatsächlich nicht mehr im Bann der Christdemokratie. Irgendein Automatismus ergibt sich daraus aber noch lange nicht, erst recht keine tief verwurzelte neue Loyalität. "Strukturelle Mehrheitsfähigkeit" ist zunächst nichts weiter als die Chance zur Festigung und Verstetigung der eigenen Spitzenposition. Ob eine Partei dieses Potential nutzt oder verstolpert, ist eine völlig andere Frage. Keiner vom Himmel gefallenen Ausnahmesituationen kurz vor Ultimo zu bedürfen, um wieder gewählt zu werden - das allein ist das Kriterium für strukturelle Mehrheiten.

Dass dies unter dramatisch schwierigen Rahmenbedingungen umso mühsamer zu erreichen sein wird, ist offensichtlich. Im Herbst 2002 drängt sich zuweilen der Eindruck auf, dass die Einsicht in den ganzen Ernst der deutschen Verhältnisse längst noch nicht weit genug vorgedrungen ist. Während man in der CDU hofft, mit munterer Katastrophenrhetorik zu punkten, hält sich in der SPD hier und da noch immer die Vorstellung, es werde irgendwie alles noch einmal, wie es war. Wird es aber nicht. Als Getriebene des sozialen und ökonomischen Wandels werden die Regierungsparteien sicher scheitern. Nur wenn sich die SPD in Tat und öffentlicher Sprache als hellwache transformative Kraft auf der Höhe ihrer Zeit erweist, wird ihr der Sprung von der strukturellen Mehrheitsfähigkeit 2002 zur strukturellen Mehrheit 2006 gelingen. Ausgeschlossen ist das nicht, aber selbstverständlich noch viel weniger.

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