Was kommt nach dem arabischen Frühling?

Ein neuer Sammelband ergründet die neue Vielfalt von Protest und Revolte im Nahen Osten und in Nordafrika

Vor zwei Jahren begann der „Arabische Frühling“. Mit ihrem Sammelband Arabellions unternehmen die Herausgeberinnen Annette Jünemann und Anja Zorob nun den Versuch einer ersten Zwischenbilanz. Als die Massenproteste in Tunesien und Ägypten die autoritären Herrscher in extrem kurzer Zeit hinwegfegten, schien eine neue Epoche einzusetzen, da die erfolgreichen Protestbewegungen rasch auch auf andere Länder wie Libyen, Syrien, Bahrain, Jemen und weitere Regionen übergriffen. In dem Buch attestiert der Politikwissenschaftler Martin Beck diesen Prozessen – vielleicht etwas zu vorschnell – gar eine „welthistorische Bedeutung“. Auf jeden Fall kamen die Rebellionen selbst für journalistische und wissenschaftliche Experten völlig überraschend und erschütterten die These vom „arabischen Exzeptionalismus“, der eben keine politischen Reformen, sondern unerschütterliche Stabilität verhieß.

Aber die optimistische Vorstellung, dass sich in einigen arabischen Staaten nun eine Demokratisierung mit Sogwirkung auf die gesamte Region vollziehe, weicht mittlerweile einer skeptischeren Haltung. Spätestens mit dem blutigen Bürgerkrieg in Syrien macht sich Ernüchterung breit, zumal die sozialen und politischen Konflikte auch religiös aufgeladen werden, etwa in Ägypten. Dabei standen, wie Annette Jünemann und Anja Zorob ausführen, religiöse Fragen bei den Aufständischen anfangs keineswegs im Vordergrund. Vielmehr artikulierte sich im „Arabischen Frühling“ sozialer und politischer Protest.

Der Sammelband eruiert Ursachen und Voraussetzungen dieser Rebellionen mittels mehrerer Länderanalysen (Ägypten, Tunesien, Libyen, Syrien). Die Autoren untersuchen länderspezifische Protest- und Verlaufsformen und fragen nach übergreifenden Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Revolten. Darüber hinaus befassen sie sich mit machttektonischen Verschiebungen in der Region, etwa der neuen Lage Israels und Irans. Auch geht es um sozial- und politikwissenschaftliche Erklärungsansätze für die „Arabellionen“. Und schließlich gilt das Interesse den sozialstrukturellen Veränderungen, etwa im Hinblick auf die Rolle der gebildeten Mittelschichten, die als die neuen politisch treibenden Kräfte in der arabischen Welt angesehen werden.

Lebensläufe ohne Perspektive

Im Allgemeinen gilt der dramatische demografische Wandel in der Region als krisenverschärfendes Moment. Die Einwohnerzahl des Nahen Ostens hat sich seit 1970 fast verdreifacht, über 40 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, die 20- bis 35-Jährigen machen etwa 30 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Obwohl diese Menschen besser qualifiziert sind als frühere Generationen, enden viele Lebensläufe in der Erwerbslosigkeit. Selbst für Hochqualifizierte bietet der Arbeitsmarkt kaum Chancen.

Die Proteste wurden zudem durch die neuen Kommunikationstechnologien begünstigt. Der Unmut über die Mächtigen existiert zwar schon länger, aber seit Twitter und Facebook können die Menschen ihre Gefühle und Interessen mit Gleichgesinnten teilen, sich solidarisieren und ihre Handlungsweisen rasch organisieren. Nicht von ungefähr prangerten alle Proteste vor allem die Verletzung der menschlichen Würde an, aber auch fehlende Freiheit und soziale Ungerechtigkeit.

Aus politisch-ökonomischer Sicht zeigte sich im Arabischen Frühling die Krise des autoritären Sozialvertrags, der lange Zeit die Beziehungen zwischen der Bevölkerung und den Herrschaftssystemen geregelt hatte. Politische Loyalität war verknüpft mit einem Mindestmaß an sozialer Sicherheit. Diesen Sozialvertrag konnten die herrschenden Eliten nicht mehr einhalten. Die Protestbewegungen kritisierten ferner die scharfen staatlichen Repressionen gegen Oppositionelle, die grassierende Arbeitslosigkeit und die zunehmend ungerechtere Einkommensverteilung, die mit skandalöser Korruption einherging.

Die libysche Revolution wird von Wolfram Lacher im Buch als „Sonderweg“ beschrieben. Denn anders als in den Nachbarländern brach das libysche Regime völlig zusammen: Zwischen der Staatsführung, der Armee und den Sicherheitsapparaten des Gaddafi-Regimes und jenen der Übergangsregierung gibt es keinerlei institutionelle Kontinuität. Vielmehr bildeten sich zahlreiche neue Machtzentren heraus, die teilweise auf den Stammesstrukturen beruhen. Die Libyer stehen somit vor ganz anderen, komplexeren Herausforderungen als ihre Nachbarn, weil sie ihren Staat völlig neu erfinden müssen.

Für Israel wird vieles anders

Israel und Palästina wiederum wurden, so Stephan Stetter, von der Arabellion „kalt erwischt“. Vor allem Israel befürchtet nun wachsende nationalistische, antiisraelische Tendenzen in den Nachbarstaaten sowie die Schwächung alter Verbündeter im arabischen Lager, etwa des jordanischen Königs Abdullah II. bin al-Hussein. Auch die Beseitigung des ägyptischen Mubarak-Regimes brachte das verhandlungsunwillige Israel um einen verlässlichen Partner.

Der Iran hingegen feierte 2011 die Umbrüche in den nordafrikanischen Staaten als natürliche Fortsetzung der iranischen Revolution von 1979. Teheran erhoffte sich dadurch eine eigene Aufwertung sowie das Ende der eigenen politischen Isolation. Henner Fürtig weist diese Annahme allerdings zurück und argumentiert, die iranische Republik profitiere wohl eher unverhofft von den Unruhen und Umstürzen. Schließlich sei die arabische Außenpolitik insgesamt selbstbewusster geworden und lasse sich nicht mehr so leicht extern dirigieren wie früher, weder vom Westen noch vom Iran. Der Iran sei insofern weder ein Leidtragender noch ein Nutznießer der Arabellionen.

Viele Autoren halten es für sehr unwahrscheinlich, dass der „Arabische Frühling“ in mehr oder minder konsolidierte Demokratien münden wird. Dies werden auch die ökonomischen und politischen „Renten“ verhindern, die im Nahen Osten eine wichtige Rolle spielen und mit denen soziale Konflikte befriedet werden (oder wurden). Viele existierende undemokratische Gewalten, die keineswegs kollabiert, sondern nur vorübergehend auf Tauchstation gegangen sind, werden ihre Beharrungskräfte beweisen. Martin Beck und Simone Hüser vermuten, dass sich dadurch „Hybridregime“ etablieren werden. Die reichen Golfstaaten werden ihre finanziellen Ressourcen zur Depolitisierung nutzen. Auf der anderen Seite werden sich die neuen semidemokratischen politischen Eliten eine erheblich anspruchsvollere Legitimationsgrundlage als die gestürzten Machthaber schaffen müssen, wenn sie nicht das gleiche Schicksal erleiden wollen wie diese. Die neuen Regime stehen wahrlich vor Herkulesaufgaben, erst recht, weil sie nur teilweise „rentenbasierte Loyalität“ herstellen können.

Zum Abschluss des Bandes thematisiert Annette Jünemann die „Geschlechterdemokratie für die Arabische Welt“. Leider diskutiert sie vorrangig und überwiegend aus westlicher Perspektive theoretische Modelle. Die konkreten, neuen sozialen und politischen Handlungsspielräume von Frauen, die im Zuge des Arabischen Frühlings durchaus vorhanden waren und sind, bleiben empirisch leider unterbelichtet.

Annette Jünemann und Anja Zorob (Hrsg.), Arabellions: Zur Vielfalt von Protest und Revolte im Nahen Osten und Nordafrika, Wiesbaden: Springer VS 2013, 337 Seiten, 34,99 Euro

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