Was von Hessen übrig bleibt

Wolfgang Schroeder versammelt lehrreiche Studien über schmerzliche Lernprozesse

In vielen Bundesländern und bundesweit ist das etablierte Parteiensystem ins Wanken geraten, verlässliche Gewissheiten und traditionelle Erbhöfe scheint es für die Parteien nicht mehr zu geben. Das musste die CSU in Bayern schmerzlich erfahren, die CDU in einigen Landesverbänden, und nun auch die SPD nach ihrem erneuten Desaster in Hessen, für das in der Öffentlichkeit – je nach politischer Option – vorrangig Andrea Ypsilanti oder vier vom Gewissen gepeinigte Abweichler geprügelt werden. Zu Unrecht.


Die Ursachen für die gegenwärtigen Transformationsprozesse liegen tiefer und die Probebohrungen des Kasseler Politikwissenschaftlers Wolfgang Schroeder zu einem mutmaßlichen Wandlungsprozess vom Vier- zum Fünf-Parteien-System verdienen Aufmerksamkeit, zumal in Hessen die Landesparteien bereits wiederholt Motoren für den dynamischen Wandel des gesamten Parteiensystems waren – man denke nur an das erste Bündnis zwischen SPD und den Grünen im Jahr 1985. Dieser Wandlungsprozess erfordert von allen Parteien beim Kampf um die Macht strategische Neuorientierungen, die sich freilich an der Parteibasis nur sehr allmählich durchsetzen lassen – zumal, wenn an die Stelle nüchterner politischer Überlegungen das „Gewissen“ und persönliche Eitelkeiten treten.

Aufgrund von Berührungsängsten gegenüber zunächst ungeliebten politischen Koalitionskombinationen wurden aus „Gewissensgründen“ gute Chancen für bildungs- und energiepolitisch auch bundesweit wirksame Weichenstellungen vertan. Wer hier starre ideologische Fixierungen am ehesten überwindet, kann machtpolitisch daraus politisches Kapital schlagen, während sich andere in der Kunst von unfruchtbaren politischen Selbstblockaden üben. Die SPD tut sich hier traditionell besonders schwer, während sich etwa die FDP und die Grünen deutlich flexibler und lernfähiger zeigen und selbst der stramm konservative hessische „Kampfverband“ CDU eine Koalition mit den Grünen nicht ausschloss. Das illustrieren die Studien in diesem Buch.

Unter den 16 Einzelstudien des Bandes verdienen jene besondere Beachtung, die sich mit dem Wandel des Wahlverhaltens befassen. Eike Henning hat die Landtagswahlen 2003 und 2008 sowie die Ergebnisse der Bundestagswahlen 2005 untersucht und diagnostiziert zunächst eine beachtliche Wählerfluktuation. Im Jahr 2005 hat sich ein Drittel der Wählerinnen und Wähler anders entschieden als im Jahr 2002. Etwa die Hälfte der Wähler treffen ihre Wahlentscheidung erst knapp vor dem Wahltag beziehungsweise erst in der Wahlkabine. Wähler der CDU legen sich bereits sehr früh fest, sehr spät erst die der Linkspartei. Etwa ein Drittel der Wahlbürger verfügt über keine gewachsene Parteibindung.

Diskutiert doch lieber pragmatisch!

Von dieser wachsenden Instabilität ist besonders die SPD betroffen. Während sie um das Jahr 1969 den Anschluss an Angestellte, Beamte und kirchengebundene Wähler gewann und zu einer „Catch-All-Party“ avancierte, hat sie den sozialkulturellen Wandel der achtziger Jahre verschlafen, der häufig mit den Begriffen „Tertiarisierung“ (Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft) und „Individualisierung“ beschrieben wird. Weiterhin verliert sie den Anschluss an Gruppen des armen alten sowie des bildungsgeprägten neuen Prekariats. Hier wildert neben der bei Wahlen bedeutungslosen Rechten vor allem die Linkspartei. In dieser Modernisierungskrise hat die SPD ihre Integrationskraft verloren, sowohl für die Traditionalisten als auch für die neuen Dienstleister, die keine blinde Parteiloyalität kennen. In diesen sozialen Milieus vollzog sich der Aufstieg der Grünen und gegenwärtig der Aufstieg der Linkspartei.

Offen bleibt bei den Aufsätzen, welchen Gewinn die bundesrepublikanische Gesellschaft und Politik aus diesem sich abzeichnenden Wandel von einem Vier- zum Fünf-Parteien-System ziehen kann. Dabei liegt dieser auf der Hand: Die politischen Optionen erweitern sich erheblich; er sollte pragmatisch und nicht ideologisch diskutiert werden!
Umgekehrt ist der Wandel für die Demokratie nicht folgenlos – dies macht etwa der Beitrag von Konrad Schacht zur vermeintlichen CDU-Hochburg Frankfurt deutlich. Hier koaliert seit geraumer Zeit die CDU mit den Grünen, die in Frankfurt den eigentlichen politisch-ideologischen Gegenpol zur CDU darstellen. „Die Wähler bleiben bei Wahlen mehr und mehr zuhause, weil sie ihre Erwartungen und Wertpositionen nicht mehr in den politischen Entscheidungen ihrer Eliten wiederfinden, die in exekutiven Zwängen agieren.“ Dies führe zu einer weiteren Wählerabwanderung zu Flügelparteien sowie zu einer Delegitimierung des Regierungshandelns.

Die Studien dieses Bandes über die Parteien von links bis rechts sind solide empirisch fundiert; freilich können und wollen sie keine Prognosen treffen, in welche Richtung sich die Parteienlandschaft künftig bewegt. Sehr wohl aber untersuchen sie frühere schmerzliche Lernprozesse in verschiedenen politischen Lagern, die für die bundesrepublikanische Entwicklung paradigmatisch und folgenreich wurden.

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