Warum die Ökologie kein grünes Thema mehr ist

Katastrophen, Benzinpreise, Energieknappheit: Wir stecken mitten im ökologischen Ernstfall. Deshalb gehört das Thema ins Zentrum aller Debatten über Wirtschaft und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert - und ist bei den Grünen schlecht aufgehoben

Jetzt ist die Zeit für die Umwelt! Wir bekommen es mit einem doppelten Schock zu tun – mit dem Schock, dass der Klimawandel keine entfernte Möglichkeit mehr ist, sondern bereits eingetreten; und mit dem Energieschock der gestiegenen Preise für Öl und Gas sowie neuer Formen geopolitischer Instabilität. Die Europäische Union ist im Hinblick auf die Bewältigung ökologischer Fragen weltweit führend. Aber es ist uns noch nicht gelungen, die ökologische Agenda umfassend mit den Fragen der sozialen Gerechtigkeit zu verbinden. Einstweilen werden die beiden Themen behandelt, als hätten sie nichts miteinander zu tun.

Ein technologisches Gebiet, auf dem Europa die Welt anführen könnte, ist die weitere ökologische Modernisierung. Es ist gut möglich, dass die Entwicklung neuer ökologischer Technologien – und genauso wichtig: neuer Lebensstile – gerade nicht zum weiteren Rückgang der europäischen Wettbewerbsfähigkeit beitragen würde. Stattdessen könnte genau dies die Erneuerung Europas vorantreiben. Die Informationstechnologie hat in den vergangenen dreißig Jahren unsere Ökonomien und unser Leben verwandelt. Könnte es auf dem Gebiet der Umwelt und der Energie eine Schlüsselentdeckung oder eine Anzahl von Entdeckungen geben, die unser Leben im Verlauf der nächsten dreißig Jahre ebenso sehr verändern wird? „Menschen beschäftigen sich nur mit solchen Problemen, die sie lösen können“, hat Karl Marx einmal gesagt. Für das 21. Jahrhundert erscheint das kein besonders passendes Motto zu sein, aber wenigstens für einige der Umweltfragen könnte es sehr wohl zutreffen. In dem Maße, wie die Versorgung mit fossilen Brennstoffen schwieriger wird und die Erscheinungen des Klimawandels immer handfester zu Buche schlagen, wird der Innovationsdruck jedenfalls mit aller Macht einsetzen.

Im Februar 2006 hat die schwedische Regierung ihre Absicht verkündet, Schweden bis 2020 zur ersten modernen Ökonomie der Welt zu machen, die sich vollständig aus ihrer Abhängigkeit vom Erdöl befreit. Wie Japan reagierte Schweden in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts rigoros auf den Anstieg der Ölpreise. Heute stammt buchstäblich der gesamte Strom in Schweden aus nichtfossilen Quellen (zu denen gegenwärtig auch die Kernenergie gehört). Für den Verbrauch fossiler Brennstoffe sind in Schweden hauptsächlich Kraftfahrzeuge verantwortlich. Das Land hat seine Abhängigkeit vom Erdöl von 77 Prozent im Jahr 1970 auf 32 Prozent 2003 gesenkt. Im selben Jahr stammten 26 Prozent der gesamten verbrauchten Energie aus erneuerbaren Quellen – verglichen mit durchschnittlich nur 6 Prozent in den Ländern der EU-15. Schweden eifert Brasilien nach und will innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeit die meisten Autos auf Biokraftstoffe umstellen.

Als die Preise noch im Keller waren

Als in den späten neunziger Jahren die Lissabon-Strategie entwickelt wurde, waren die Weltmarktpreise für Energie sehr niedrig. Die meisten Staaten der Europäischen Union besaßen sogar überschüssige Kapazitäten. Die Energiepreise zogen um das Jahr 2000 an, also mehr oder weniger zu der Zeit, als die Lissabon-Strategie veröffentlicht wurde. Die Preise von Öl und Gas stehen, so wie es immer gewesen ist, im Zusammenhang mit der geopolitischen Sicherheitslage – aber das Wesen der Sicherheitszonen hat sich verändert. Russland und Zentralasien sind in dem Maße immer mehr ins Zentrum getreten, in dem Staaten versuchten, ihre Abhängigkeit von Energie aus dem Mittleren Osten zu verringern. Die Ölfelder der Nordsee, in den vergangenen Jahren wichtige Quellen von Öl und Gas, sind weitgehend erschöpft.

Eine der vielen Ambivalenzen des Begriffs der „Nachhaltigkeit“ ist die Frage, ob er sich auch auf Fragen der geopolitischen Sicherheit bezieht oder nicht. Nachhaltigkeit kann in der Ära der globalen Ökonomie nicht gleichgesetzt werden mit Unabhängigkeit oder gar Autarkie. Geopolitische Sicherheit ist zusammen mit dem Klimawandel auf der Liste der dringlichen Themen ganz nach oben gerückt. Für beides Antworten zu finden wird groß dimensionierte Investitionen ebenso erfordern wie Erfindungsreichtum und Bürgerbeteiligung – plus effektive internationale Zusammenarbeit. Die Liste der Fragen, um die es dabei geht, ist lang. Um die Abhängigkeit vom Mittleren Osten zu verringern, müssen Öl und Gas über lange Strecken transportiert werden können – durch Regionen, die genauso instabil sind wie der Mittlere Osten. In vielen europäischen Staaten altern die Raffinerien und Kraftwerke, und die Atomkraftwerke erreichen das Ende ihrer Laufzeit. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Versorgungsnetzen in der EU sind nicht gut ausgebaut. Es gibt nur wenige Mechanismen, um Investitionen und Infrastruktur zu koordinieren oder – angesichts neuer Risiken wie dem Terrorismus – Sicherheit zu organisieren. Buchstäblich alle diese Themen sind auch für den Klimawandel bedeutsam. Die Herausforderung, den Klimawandel ernsthaft anzunehmen, wird zwingend zu einem Zeitpunkt, da ein großer Teil der Kraftwerke in Europa ohnehin der Erneuerung bedarf. Zwar bedeutet dieser Umstand sicherlich eine Chance, zugleich aber kommen auf jedes einzelne Land schwierige Fragen im Hinblick auf Kosten und Prioritäten zu.

Für ein europaweites Stromnetz

Der Energiemarkt in Europa ist im Rahmen der politischen Strategie der Europäischen Union inzwischen umfassend liberalisiert und privatisiert worden. Jedoch gibt es im Grunde keinen gemeinsamen Markt, sondern nur eine Anzahl von bilateralen Abkommen – ein Überbleibsel aus der Zeit, als Energie billig und reichhaltig vorhanden war. Der Handel ist begrenzt, und jedes Land betreibt seine eigene Vorratshaltung. Innerhalb der EU würde größere Vernetzung zugleich die Energiesicherheit verbessern und die Kosten senken. Stromversorgung funktioniert als Netzwerksystem. Es wäre daher sinnvoll, dieses Netzwerksystem europaweit zu betreiben. Jede neue Investition in eine Energiequelle würde Europa insgesamt zugute kommen. Strom lässt sich nicht lagern, Gas dagegen durchaus. Die Idee der Lagerung von Gas auf europäischer Ebene verdient ernsthafte Erwägung. Anders als Öl ist Gas eine regionale Energiequelle, weshalb sich die Frage der Energiesicherheit hier ebenfalls auf der regionalen Ebene stellt. Maßnahmen in diese Richtung brauchen nicht zu bedeuten, dass die Mitgliedsstaaten der EU weitere Kompetenzen aufgeben müssen; sie könnten vielmehr intergouvernemental zwischen den Regierungen geregelt werden.

Die Strategie der nachhaltigen Entwicklung verbindet sehr zu Recht Energiefragen und Klimawandel. Sie erhebt sogar den Anspruch, einen Fahrplan für beides durchzusetzen. Die EU ist der führende Akteur gewesen, als es darum ging, Unterstützung für das Kyoto-Protokoll zu organisieren. Sie ist zugleich Pionier auf dem Gebiet des regionalen Emissionshandels als Mittel zur Einhaltung der Kyoto-Ziele. Im Hinblick auf den Klimawandel legt der Fahrplan kurz-, mittel- und langfristige Ziele fest. Die kurzfristigeren Ziele betreffen, über Kyoto hinaus, abrechenbare Energievorgaben: 12 Prozent des privaten Energieverbrauchs und 21 Prozent des Stroms in der EU sollen bis 2010 aus erneuerbaren Quellen stammen. Die allgemeine Energieeffizienz soll sich um 2,5 Prozent pro Jahr verbessern, im staatlichen Sektor sogar um 3,5 Prozent. Die EU beansprucht damit für die zweite Stufe des internationalen Klimaregimes eine Führungsrolle hinsichtlich der Aushandlung von Vereinbarungen.

Windräder sind nicht genug

Wie könnte das Emissionshandelssystem der EU vertieft werden? Die gegenwärtige Ordnung ist nur bis zum Jahr 2008 gültig, Verhandlungen über eine Verlängerung bis 2012 sind eingeleitet. Doch selbst der spätere Termin ist zu zeitnah, um den Planungsnotwendigkeiten von Unternehmen bei ihren Investitionen sowie ihrer Forschung und Entwicklung zu genügen. Der Bezugsrahmen für die Zeit nach 2012 bedarf bereits jetzt der gründlichen Erörterung. Auf diese Weise können potenzielle Investoren die voraussichtlichen Kohlenstoffkosten neuer Energieprogramme schon heute einkalkulieren.

Die meisten Initiativen von Staaten der EU im Rahmen der bestehenden Richtlinie über erneuerbare Energien beziehen sich auf die Windenergie. Anderen erneuerbaren Energien sowie ihrer Rolle bei der Erreichung von Emissionszielen muss größere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Saubere Kohle ist eine Möglichkeit von größter Bedeutung, dies umso mehr, als sich die Technologie auf diesem Gebiet rapide entwickelt. Auch Investitionen in Atomenergie wird es voraussichtlich geben – ganz gleich, welche Einwände dagegen erhoben werden. Es lohnt darüber nachzudenken, welche Implikationen dies auf der europäischen Ebene hat. Die Sicherheitsfragen von Atomkraftwerken betreffen nicht nur die Staaten, in denen sich diese Kraftwerke befinden. Es wäre ratsam, eine gesamteuropäische Lizensierung einzuführen, die Sicherheitsstandards und gegenseitige Hilfe im Fall terroristischer Angriffe auf Kraftwerke regelt.

Was Energieinvestitionen besonders macht

Um die Ziele zu erreichen, die sich die EU gesetzt hat, müssen Wege zur Stimulierung der enormen Investitionen gefunden werden, die dafür nötig sind. Die meisten dieser Investitionen werden aus dem privaten Sektor erfolgen müssen. Energieinvestitionen haben einige charakteristische Eigenschaften: Sie sind zumeist langfristig und empfindlich für unvorhersehbare zukünftige Veränderungen – etwa ideologische Umschwünge oder technologischen Wandel. Potenzielle Investoren werden sich nicht engagieren, solange diese Risiken nicht abgedeckt oder zumindest auf ein hinnehmbares Niveau reduziert sind. Das bedeutet, dass neue Formen langfristiger Verträge geschlossen werden müssen, bei denen Investoren und Versicherer zusammenarbeiten – und dies innerhalb eines übergreifenden Regulierungsrahmens, der sowohl auf der Ebene der EU als auch national gesetzt werden muss. Seit der Eröffnung des Gemeinsamen Marktes beschäftigt sich die Wettbewerbspolitik hauptsächlich mit kurzfristigem Marktwettbewerb. Die Politik der EU im Hinblick auf Monopole muss möglicherweise überdacht werden – beispielsweise könnten Fusionen notwendig werden, damit Unternehmen groß genug sind, um die enormen Kosten aufzubringen, die mit Energieinvestitionen einhergehen.

Das Problem der Wettbewerbsfähigkeit bleibt beträchtlich, sowohl im Hinblick auf die liberalisierten Märkte innerhalb Europas als auch im Rahmen des globalen Wettbewerbs. Verschiedene Faktoren könnten die Situation beeinflussen. Einer ist, dass die Regierungen und die Märkte akzeptieren, dass die Preise für Öl und Gas langfristig hoch bleiben. Eine entscheidende Entwicklung besteht darin, dass einzelne Menschen und Gruppen beginnen, Umweltfragen ganz oben auf der Liste der Prioritäten zu platzieren. In Japan etwa sind Bürger und Organisationen heute schon bereit, umweltfreundliche Produkte zu kaufen, selbst wenn sie mehr kosten als andere. Japan hat seine Abhängigkeit von Öl und Gas in den vergangenen 30 Jahren tatsächlich verringert, obgleich die japanische Wirtschaft sich im gleichen Zeitraum verdreifachte. Je mehr sich solches Verhalten entwickelt, desto größer sind die Anreize für Produzenten, darauf zu reagieren – und desto größer ist zugleich die Chance, economies of scale, also Wirtschaftlichkeit durch Masse zu erzielen. Nationalstaatliche Regierungen haben dabei eine tragende Rolle zu spielen, indem sie Gesetze so entwerfen und Steuersysteme so strukturieren, dass sie zu Änderungen des Verhaltens beitragen. Viel kann jedoch zugleich auf der Ebene der EU getan werden, besonders hinsichtlich der Verbesserung der Effizienz auf dem Energiemarkt und der europäischen Vernetzung der Versorgung.

Warum die Grünen nicht „zuständig“ sind

Die notwendigen umweltpolitischen Konsequenzen gehen natürlich weit über die hier diskutierten Fragen hinaus. Sie betreffen viel mehr als das, was üblicherweise unter „Umwelt“ verstanden wird. Klimawandel, Luftverschmutzung und Energiesicherheit sind jedoch offensichtlich die wichtigsten Themen, weil sie gegenwärtig und potenziell so enorme Folgen haben. Einige entscheidende politische Schlüsse aus der bisherigen Diskussion können folgendermaßen auf den Punkt gebracht werden:

1. Ökologische Fragen, besonders solche im Zusammenhang mit dem Klimawandel, gehören heute ins Zentrum von Theorie und Praxis der Sozialstaatlichkeit. Die Rechte und Pflichten der Bürger können sich nicht mehr nur auf den traditionellen Bezugsrahmen des Sozialstaates beziehen, für den die Umwelt eine Externalität ist. Ein positiver Begriff von Wohlfahrt mit der Betonung des Wandels von Lebensstilen ist der richtige Weg nach vorn: nicht mehr bloßes Risikomanagement nach dem Schadenseintritt, sondern proaktive, vorbeugende Strategien zur Verbesserung der Lebensqualität.

2. Einen übergeordneten Orientierungsrahmen bietet das Prinzip der ökologischen Modernisierung. Es besagt, dass solche Investitionen getätigt werden, die der Umwelt entweder durch technologischen Wandel oder durch steigende Wettbewerbsfähigkeit nützlich sind. Jedoch spielt das Handeln des Staates – auf nationaler wie auf übernationaler Ebene – eine zentrale Rolle. Zu den entscheidenden politischen Aufgaben zählt die Einflussnahme auf die Veränderung von Lebensstilen, die Schaffung günstiger Bedingungen für Forschung und Entwicklung (einschließlich dazu passender Steuersysteme) sowie langfristige Investitionen. Die mittel- und langfristigen Grenzen der ökologischen Modernisierung sind unbekannt, doch zugleich sind sie zu jedem gegebenen Zeitpunkt sichtbar, da Investoren Risiken nur dann eingehen werden, wenn eine klare Aussicht auf angemessene Rendite besteht.

3. Umweltfragen müssen der vermeintlichen „Zuständigkeit“ der grünen Bewegung entzogen werden, weil sie anderenfalls wie die Angelegenheit einer bestimmten Interessengruppe aussehen. Grüne Konzepte und Terminologien sollten grundsätzlich mit Misstrauen betrachtet werden, und zwar ganz besonders dann, wenn sie eine Rückkehr zur „Natur“ propagieren, wenn sie Wissenschaft und Technologie ablehnen oder dem marktwirtschaftlichen Wettbewerbsprinzip feindselig gegenüberstehen.

4. Wir können den Klimawandel nicht mehr bloß als eine zukünftige Möglichkeit betrachten. Wir sollten in dem Bewusstsein handeln, dass er bereits stattfindet und dass sich seine schädlichen Auswirkungen schon mittelfristig verschlimmern werden. Deshalb müssen Maßnahmen gegen bekannte und mögliche Gefahren jetzt ergriffen werden – zum Beispiel der Schutz von Gebieten, die stärker als in der Vergangenheit von Hochwasser oder anderen extremen Wetterbedingungen bedroht sind. Dabei müssen Versicherungs- und Gesundheitsaspekte berücksichtigt werden. Die Europäische Union sollte einen Index möglicher Verletzlichkeiten erstellen und durch nationale und gesamteuropäische Handlungspläne ergänzen, die so schnell wie möglich in die Tat umgesetzt werden müssen.

5. Es bestehen gute Chancen, die bisherige Energiepolitik zu erneuern und zu revidieren – und dies so weit wie möglich innerhalb des Bezugsrahmens der ökologischen Modernisierung. Viele ältere Pläne müssen sowieso durch neue ersetzt werden. Um für die nötigen Investitionen die richtigen Bedingungen zu schaffen, werden Initiativen auf der Ebene der EU ebenso wie in deren Mitgliedsstaaten nötig sein. Die physische Verbindung der europäischen Stromnetze und die Verwirklichung eines gemeinsamen Plans zur Sicherung und Lagerung von Gas sollten dabei eine entscheidende Rolle spielen.

6. Die von der EU benannten Pläne sowohl zur Befriedigung des europäischen Energiebedarfs als auch in Reaktion auf den Klimawandel, sind ehrgeizig, ganz besonders auf lange Sicht. Gegenwärtig fehlen jedoch effektive Instrumente zu ihrer Verwirklichung, und weitaus mehr Arbeit am Detail ist notwendig. Dennoch ist zu fragen, ob selbst die bisherigen Langfristziele überhaupt ehrgeizig genug sind. Einige europäische Länder beabsichtigen, deutlich schneller voranzukommen. Wie erfolgreich sie dabei sind, sollte genau beobachtet werden.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

zurück zur Person