Die Zukunft des Europäischen Sozialmodells

Die meisten Staaten Europas bekennen sich zu gemeinsamen Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit. Doch dem eigenen Anspruch werden etliche Länder kaum gerecht. An welchen Prinzipien und Vorbildern muss sich die Erneuerung orientieren?

Das europäische Sozialsystem wird oft als das Juwel in der Krone betrachtet – vielleicht als das wichtigste Merkmal, das die besondere Qualität der Gesellschaften Europas ausmacht. Im Mai 2003 verfassten zwei der bedeutendsten Intellektuellen des Kontinents, Jürgen Habermas und Jacques Derrida, einen öffentlichen Brief über die Zukunft Europas nach dem Krieg im Irak. Darin spielten die wohlfahrtsstaatlichen „Garantien sozialer Sicherheit“, „das Vertrauen der Europäer in die zivilisierende Macht des Staates“ und dessen Fähigkeit „‚Marktversagen‘ zu korrigieren“, eine wichtige Rolle. Die meisten anderen Beobachter würden zustimmen, wenigstens sofern sie dem Projekt der Europäischen Union wohlwollend gegenüberstehen. Das „Europäische Sozialmodell“ (ESM) ist zu einem fundamentalen Bestandteil dessen geworden, wofür Europa steht.

Gibt man im Internet bei Google „ESM“ ein, erscheinen 11.200.000 Einträge! Eine solche Verbreitung des Begriffs spiegelt womöglich die Tatsache wider, dass das ESM, wie vieles andere rund um die Europäische Union, im Kern umstritten ist. Die Idee ist zwar von zentraler Bedeutung, aber sie scheint doch flüchtig, sobald wir versuchen, sie genauer zu beschreiben. Abgesehen davon zeigt sich, dass viele außereuropäische Staaten das angeblich so spezifisch Europäische durchaus teilen.

Das ESM ist in Wirklichkeit nicht ausschließlich europäisch, es ist nicht ausschließlich sozial – und es ist im Übrigen auch kein Modell. Wenn das ESM bedeutet, effektive sozialstaatliche Institutionen zu besitzen und Ungleichheiten zu begrenzen, dann sind einige Industriestaaten außerhalb Europas europäischer als manches europäische Land. Australien und Kanada zum Beispiel übertreffen auf diesem Gebiet Portugal und Griechenland – von den meisten neuen Mitgliedern der jüngst erweiterten EU ganz zu schweigen. Ausschließlich sozial ist das ESM wiederum deshalb nicht, weil es – wie auch immer man es definiert – in fundamentaler Weise auf wirtschaftlichem Wohlergehen und auf Umverteilung basiert. Und ein einheitliches Modell ist es schließlich nicht, weil zwischen den europäischen Ländern große Unterschiede hinsichtlich ihrer Sozialsysteme, ihrer Ungleichheitsverhältnisse und so weiter bestehen.

Ein einheitliches Konzept gibt es nicht

Demzufolge machen viele verschiedene Definitionen des ESM die Runde, denen allen freilich der Bezug auf den Sozialstaat gemeinsam ist. Daraus sollten wir vermutlich den Schluss ziehen, dass das ESM kein einheitliches Konzept darstellt, sondern ein Gemisch von Werten, Errungenschaften und Hoffnungen, die hinsichtlich ihrer Form und des Grades ihrer Verwirklichung in den einzelnen europäischen Staaten unterschiedlich ausfallen. Meine eigene Liste würde so aussehen:

  • Ein entwickelter und interventionsfähiger Staat, gemessen am Steueranteil des Bruttosozialprodukts.
  • Ein robustes Sozialsystem, das effektiven Schutz bietet – zu einem nicht unbeträchtlichen Grad für alle Bürger, vor allem aber für die am meisten Bedürftigen.
  • Die Begrenzung oder Eindämmung wirtschaftlicher und anderer Formen von Ungleichheit.
  • Eine Schlüsselrolle bei der Bewahrung dieser Institutionen spielen die so genannten Sozialpartner, die Gewerkschaften und andere Organisationen, die die Rechte der Arbeitnehmer vertreten.
  • Und: Jede der genannten Eigenschaften des ESM muss so wirken, dass sie zur Ausweitung von Wohlstand und zur Schaffung von Arbeitsplätzen beiträgt.

Dem ESM liegt eine Anzahl zentraler Werte zugrunde: die gleichmäßige Verteilung von Risiken über die gesamte Gesellschaft; die Eindämmung von Ungleichheiten, welche anderenfalls die gesellschaftliche Solidarität bedrohen würden; der Schutz der Schwächsten durch aktive soziale Intervention; die Kultivierung von Konsultation statt Konfrontation in der Industrie; schließlich die Gewährung eines umfassenden Bestandes von sozialen und wirtschaftlichen Bürgerrechten für die Bevölkerung insgesamt.

Vergangenheit und Zukunft

So gut wie alle, Unterstützer und Gegner gleichermaßen, sind sich heute darin einig, dass das ESM gegenwärtig unter hohem Druck steht – oder sogar zu scheitern droht. Der Niedergang des Keynesianismus im Westen und der Zusammenbruch des Sowjetkommunismus sind mehr oder weniger auf dieselben Trends zurückzuführen: auf die Intensivierung der Globalisierung, auf den Aufstieg einer weltweiten Informationsgesellschaft, auf das Schrumpfen der Industrie (und ihren Transfer in weniger entwickelte Länder). Hinzu kommt der Aufstieg neuer Formen von Individualismus und Verbrauchermacht. Diese Veränderungen sind nicht bloß vorübergehend; ihr Einfluss wird sich weiter fortsetzen.

Entscheidend ist darüber hinaus jedoch die Einsicht, dass die heutigen Probleme des ESM ihre Ursachen nicht bloß in den Veränderungen der globalen Umwelt haben. Einige der Kernprobleme sind hausgemacht oder mit den Veränderungen auf der Welt insgesamt bestenfalls lose verbunden. Zu diesen Problemen gehören demografische Veränderungen, besonders das Altern der Bevölkerung, das damit verbundene Problem der Renten und der rapide Geburtenrückgang. Zu ihnen gehören Veränderungen der Familienstrukturen, nämlich viel mehr Alleinerziehendenfamilien als früher sowie mehr Frauen und Kinder in Armut. Zu ihnen gehören schließlich hohe Erwerbslosenraten, an denen zum Teil unreformierte Arbeitsmärkte schuld sind. Es gibt daher gute Gründe für den Schluss, dass die Haltbarkeit des Europäischen Sozialmodells im Laufe der vergangenen Jahre immer zweifelhafter geworden ist.

Europäische Variationen

Aber: Einige Staaten der EU haben sich erheblich besser geschlagen als andere. Eine Minderheit von Ländern, ganz besonders die nordischen Staaten (einschließlich der Nicht-EU-Mitglieder Norwegen und Island), dazu die Niederlande, Österreich und Großbritannien weisen vergleichsweise gute Bilanzen auf. Die nordischen Länder besitzen zugleich die am weitesten entwickelten Formen des ESM und die höchsten Erwerbsquoten. Bemerkenswert ist, dass die Länder mit der günstigsten Wohlstandsentwicklung zugleich diejenigen Länder sind, die die energischste Reformpolitik betrieben haben: im Hinblick auf den Sozialstaat und das Rentensystem, die Bildung, den Arbeitsmarkt sowie den vermehrten Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie.

Anderswo in Europa sieht das Bild ungünstiger aus. In Deutschland und Italien sind die Wachstumsraten niedrig und die Erwerbslosenquoten hoch. Frankreich hat in der jüngeren Vergangenheit zwar mehr Wachstum erwirtschaftet, weist aber eine hohe Arbeitslosigkeit einschließlich Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit auf. In diesen Ländern schafft die Verbindung von ausgeprägter Regulierung der Arbeitsmärkte und starkem Gewerkschaftseinfluss Insider-Outsider-Arbeitsmärkte. Das heißt: Wer einen unbefristeten Job hat, kann gut zurechtkommen – wer aber draußen ist, dem ergeht es erheblich schlechter.

Für die neuen Mitgliedsstaaten der EU hat das ESM gegenwärtig nur geringe Bedeutung. Die Erweiterung der EU auf 25 Mitglieder hat innerhalb Europas sowohl die nationalen wie die regionalen Ungleichheiten verschärft. Das Pro-Kopf-Einkommen in den weniger entwickelten Ländern liegt bei weniger als der Hälfte des EU-Durchschnitts; in einigen der reicheren Länder hingegen beträgt es bis zu 140 Prozent des durchschnittlichen Wertes. Dennoch ist die Zukunft des ESM für die neuen Mitgliedsländer eine hochgradig wichtige Frage, weil sie im Zuge ihres Aufholprozesses die eigenen Reformbemühungen verstärken und neue Sozialsysteme aufbauen müssen.

Politische Kontroversen

Unter Sozialstaatsexperten tobt eine heftige Debatte darüber, wie sehr innerhalb der einzelnen Sozialsysteme in Europa „Pfadabhängigkeiten“ existieren, die das Lernen voneinander erschweren. Im Anschluss an die Arbeiten von Gøsta Esping-Andersen herrscht weithin Einvernehmen darüber, dass in Europa drei oder vier Haupttypen von „Wohlfahrtskapitalismus“ bestehen. Diese sind erstens der nordische Typus, der auf hoher Besteuerung und ausgedehnten Berufsmöglichkeiten innerhalb des Sozialstaates selbst beruht; zweitens der zentraleuropäische Typus (Deutschland, Frankreich), basierend hauptsächlich auf einer hohen Belastung des Faktors Arbeit; drittens der angelsächsische Typus, angeblich eine „residuale“ Form von Sozialsystem mit niedrigerer Steuerlast und gezielter ansetzenden Programmen. Der vierte Typus – neben den von Esping-Andersen ursprünglich benannten – ist der mediterrane (Italien, Spanien, Portugal, Griechenland), der ebenfalls eine vergleichsweise niedrige Steuerquote aufweist und in starkem Maße auf innerfamiliäre Unterstützung setzt.

Die jüngste Geschichte Skandinaviens deutet darauf hin, dass es tatsächlich möglich ist, gesunde öffentliche Finanzen, geringe Ungleichheit und hohe Erwerbsquoten zugleich zu verwirklichen. Davon abgesehen jedoch sind die einzelnen „Typen“ nicht sehr klar konturiert. Die nordischen Staaten unterscheiden sich beträchtlich voneinander. Es liegt auch nicht ohne weiteres auf der Hand, dass Deutschland und Frankreich einem gemeinsamen Typus zuzuordnen sind. Von Großbritannien wird behauptet, hier bestehe ein „residualer“ Sozialstaat, aber die Nettosteuerraten sind hier inzwischen genauso hoch wie in Deutschland. In Form des National Health Service besitzt Großbritannien darüber hinaus das am meisten „sozialisierte“ medizinische Versorgungssystem in Europa überhaupt. Der Sozialstaatsforscher Anton Hemerijck hat aus all dem den Schluss gezogen, dass diejenigen Staaten, die am besten mit den sich verändernden Bedingungen zurechtkommen, „Hybridmodelle“ geschaffen und dabei zum Teil die Lösungen anderer Länder übernommen haben.

Lissabon und danach

Anders als andere wichtige Errungenschaften der Europäischen Union wie der Gemeinsame Markt, die Gemeinsame Währung und die Osterweiterung ist das ESM nur in geringem Maße durch die EU selbst geprägt. Den Sozialstaat haben die einzelnen Nationen jeweils für sich geschaffen, er ist nicht durch internationale Kooperation zustande gekommen. Einige der Mitgliedsstaaten mit den am tiefsten verankerten sozialstaatlichen Institutionen sind erst relativ spät der EU beigetreten. Angesichts des großen Einflusses der Mitgliedsstaaten auf ihre jeweilige eigene Sozialpolitik werden auch die meisten echten Veränderungen von den einzelnen Nationen selbst ausgehen müssen.

Es fehlt nicht an Berichten und Analysen dazu, wie schlecht funktionierende Teile Europas wieder auf die Füße kommen können – allgemeiner gesprochen: wie die Staaten der EU wieder an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen würden. Diese Berichte und Analysen gab es schon lange vor der Verkündung der Agenda von Lissabon im Jahr 2000. Hinsichtlich der Maßnahmen, die ergriffen werden sollten, herrscht weitgehende Einigkeit. André Sapirs sechs Forderungen würden viele unterschreiben: Erstens die Dynamisierung des gemeinsamen Marktes; zweitens verstärkte Investitionen in Wissen; drittens verbesserte makroökonomische Politik der Union; viertens die Reform der Konvergenz- und Restrukturierungspolitiken; fünftens effizientere Regulierung; und sechstens die Reform des europäischen Haushalts, nämlich geringere Ausgaben für Landwirtschaft und höhere Investitionen.

Zweifellos hat Europa vom Gemeinsamen Markt profitiert. Man schätzt, dass das Bruttosozialprodukt in der EU im Jahr 2002 um 1,8 Prozent höher lag, als es ohne den erreichten Fortschritt ausgefallen wäre. Die Lissabon-Agenda hat sich jedoch als weit schwieriger zu verwirklichen erwiesen. Vom ursprünglichen Anspruch, Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten auf Wissen gegründeten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, ist längst keine Rede mehr.

Den Debatten um das ESM kommt in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zu. Zwar sprechen sowohl die Lissabon-Agenda als auch der Sapir-Report, der Kok-Report und weitere ähnliche Beiträge allesamt vom ESM, von sozialer Exklusion und so weiter. Aber in Wirklichkeit sagen sie über diese Kategorien kaum Konkretes. Was diesen Berichten fehlt, ist die systematische Diskussion der Frage, wie die Innovationen, die sie vorschlagen, mit den Anforderungen der sozialen Gerechtigkeit in Einklang gebracht werden können. Man könnte sogar sagen, dass das Fehlen dieser Gerechtigkeitsdimension – wenigstens teilweise – der Grund dafür ist, dass die Empfehlungen dieser Berichte so schwierig zu verwirklichen gewesen sind.

Welche Lektionen wir lernen müssen

Was zeigen uns nun die europäischen Erfahrungen der vergangenen Jahre darüber, wie sich Wettbewerbsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit miteinander verbinden lassen? Die hier genannten Punkte sind schematisch – jeder einzelne von ihnen ließe sich selbstverständlich weit gründlicher ausarbeiten. Und bekanntlich steckt der Teufel immer im Detail.

1. Es ist richtig, Arbeitsplätze und Wachstum an die erste Stelle zu setzen. Ein hohes Beschäftigungsniveau oberhalb eines anständigen Mindestlohns ist aus mehr als einem Grund wünschenswert. Je größer der Anteil von berufstätigen Menschen, desto mehr Geld steht – ceteris paribus – für soziale Investitionen und sozialen Schutz zur Verfügung. Einen Arbeitsplatz zu besitzen ist zudem der beste Weg heraus aus der Armut. Das Lissabon-Ziel, eine Erwerbsquote von 70 Prozent der potenziell Erwerbsfähigen zu erreichen, ist nicht prinzipiell unrealistisch. Ob es tatsächlich zu mehr Jobs kommt, hängt dabei natürlich von vielen Faktoren ab. Es kann aber kein Zufall sein, dass alle europäischen Länder mit Erwerbsquoten oberhalb von 70 Prozent aktive Arbeitsmarktpolitiken verfolgen. Solche Strategien umfassen die Weiterbildung von Arbeitslosen sowie von Arbeitnehmern, deren Jobs gefährdet sind. Und: In diesen Ländern versucht man aktiv, Arbeitslose und freie Stellen zusammenzubringen. Die effektivsten Sozialstaaten Europas verbinden das Prinzip der Sozialpartnerschaft mit dem universellen Zugang zu Sozialleistungen, die Umschulungen, Weiterbildung und Hilfen zum beruflichen Neuanfang an anderen Orten gewährleisten. Genau das ist die „Flexicurity“ genannte Verbindung aus Flexibilität und Sicherheit.

Auf effiziente Institutionen kommt es an

2. Die Vertreter der rechten Seite des politischen Spektrums behaupten, in einer Welt des immer intensiveren Wettbewerbs könnten nur Niedriglohnökonomien erfolgreich sein. In Wirklichkeit jedoch ist die Beweislast zugunsten des genauen Gegenteils eindeutig. Es gibt keine direkte Beziehung zwischen der Besteuerung (als Anteil am Bruttosozialprodukt) auf der einen und Wirtschaftswachstum sowie neuen Arbeitsplätzen auf der anderen Seite. Zwar besteht vermutlich eine Obergrenze; das zeigt sich am Beispiel Schwedens, das eine Zeitlang die höchsten Steuersätze aller Industrieländer aufwies und dabei zugleich hinsichtlich des Pro-Kopf-Einkommens seiner Einwohner relativ zurückfiel. Doch wichtiger als die Reichweite des Staates ist die Frage, wie effektiv die staatlichen Institutionen funktionieren und welche Art von Wirtschafts- und Sozialpolitik sie betreiben.

Erfolgreich ist, wer in Menschen investiert

3. Flexible Arbeitsmärkte sind ein grundlegender Bestandteil des politischen Grundmusters in den erfolgreichen Staaten. Das bedeutet kein „Hire and Fire“ nach amerikanischem Muster. Im Zeitalter eines sich beschleunigenden technischen Wandels wird jedoch die „Beschäftigbarkeit“ (employability) der Menschen zu einem Erfordernis ersten Ranges. Flexibilität hat keinen guten Namen, besonders bei einigen Vertretern der politischen Linken. Für sie bedeutet Flexibilität, die Anliegen der Arbeitnehmerschaft zugunsten der Anforderungen des kapitalistischen Wettbewerbs zu opfern. Aber die Art der Arbeitsmarktregulierung ist mindestens so wichtig wie ihr Umfang. Viele Arbeitnehmerrechte können und sollten bestehen bleiben. Dazu gehören Konsultations- und Mitbestimmungsrechte, die Regulierung von Arbeitsbedingungen, Gesetze gegen Diskriminierung und so weiter.

4. Die viel zitierte Wissensökonomie ist mehr als ein Schlagwort ohne Inhalt, allerdings sollte sie eher Wissens- und Dienstleistungsökonomie genannt werden. Im Durchschnitt der 15 „alten“ Staaten der EU arbeiten nur noch 17 Prozent der Erwerbstätigen in der industriellen Fertigung – und dieser Anteil sinkt weiter. Vollbeschäftigung in der Wissensökonomie ist möglich – in einigen der besser funktionierenden europäischen Volkswirtschaften hat man diesen Zustand erreicht. Aber diese Entwicklung hat ihren Preis. Mehr als zwei Drittel der Arbeitsplätze, die in der Wissensökonomie geschaffen werden, erfordern gute Fachkenntnisse.

5. Investitionen in Bildung, der Ausbau von Universitäten sowie die Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologie sind unabdingbare Bestandteile des ESM.

6. Oft wird gesagt, „unsere Gesellschaften werden immer ungleicher“, doch in vieler Hinsicht stimmt diese Behauptung nicht. Wahr ist, dass in vielen Industriegesellschaften die Ungleichheit der Einkommen zugenommen hat, wenngleich es Anzeichen dafür gibt, dass dieser Prozess inzwischen im Abklingen begriffen ist. Wir können und wir müssen die Werte der Gleichheit und der gesellschaftlichen Inklusion aufrechterhalten. Um dies zu tun, müssen wir nicht allesamt Skandinavier werden – zumindest nicht, wenn dies die Inkaufnahme dramatisch erhöhter Steuern bedeuten würde. Die Überlegenheit der skandinavischen Länder in Hinblick auf ihre niedrigen Ungleichheitsraten ist nicht in erster Linie eine Folge von Umverteilung durch Steuern und Sozialtransfers. Die wichtigste Erklärung liefern die massiven Investitionen der Skandinavier in Humanvermögen. Wir müssen drastisch höher in die frühkindliche Bildung und Betreuung investieren, weil über ungeheuer viele Fähigkeiten bereits in diesem Lebensabschnitt entschieden wird. Die Investition in frühkindliche Bildung und Erziehung ist ein Schlüsselelement zur Verminderung von Kinderarmut.

Ökologie und Wachstum

7. Ökologische Fragen müssen weit deutlicher in den Vordergrund treten als in der Vergangenheit. Dies gelingt am besten dann, wenn das Thema unter dem Gesichtspunkt der ökologischen Modernisierung thematisiert wird. Diese Idee entstand in bewusstem Widerspruch zur These der „Grenzen des Wachstums“, die von einer früheren Generation ökologischen Denkens vorgebracht wurde. Ökologische Modernisierung bedeutet, wo immer möglich ökologische Innovationen zu finden, die mit wirtschaftlichem Wachstum vereinbar sind. Dazu können grüne Technologien gehören, ebenso der Griff zu marktbasierten und steuerlichen Anreizen für Konsumenten, Unternehmen und andere Institutionen, in ihrem Handeln umweltfreundlicher zu werden.

8. Einwanderung und Integration ist überall in Europa zu einer der heißesten Fragen überhaupt geworden. Das Thema ist viel zu komplex, um hier ausführlich diskutiert werden zu können. Die zentrale Frage lautet: Wird die Mehrheit in multikultureller werdenden Gesellschaften bereit sein, Politiken zugunsten derjenigen zu unterstützen, die neu hinzukommen oder sich kulturell vom Mainstream unterscheiden? Vergleichende Studien lassen die Vermutung zu, dass die Antwort darauf ein vorsichtiges Ja ist, solange bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Zu diesen Voraussetzungen gehört erstens, dass die Einwanderer allen Bildungsschichten angehören müssen – dass sie also nicht überwiegend ohne Qualifikationen sind; zweitens, dass nicht von Anfang an ein Anspruch auf den vollen Zugang zu sämtlichen Sozialleistungen besteht; und drittens, dass konkrete Schritte unternommen werden, damit die Einwanderer die grundlegenden kulturellen Normen der Gesellschaften akzeptieren, in denen sie neu angekommen sind.

Keine falschen Alternativen

9. Die alternde Bevölkerung sollte als Möglichkeit begriffen werden und nicht bloß als ein weiteres „Problem“. Wir wissen, was geschehen muss. Die Lösung der Schwierigkeiten in den meisten Ländern hängt davon ab, ob der politische Wille aufgebracht wird, die nötigen Veränderungen tatsächlich herbeizuführen. Der Staat muss den Menschen Anreize geben, mehr Kinder zu bekommen, und er muss dafür sorgen, dass zeitgemäße Formen sozialstaatlicher Maßnahmen verwirklicht werden. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, das Problem unfinanzierbarer Rentenverpflichtungen zu lösen. Wir müssen ältere Menschen davon überzeugen und dazu motivieren, länger zu arbeiten. Solch ein Ziel ist weit davon entfernt, nur negativ zu sein. Wir müssen sowohl in der Arbeitswelt wie auch sonst gegen die Diskriminierung Älterer kämpfen. Für Menschen über 55 oder sogar über 65 besitzt „Alter“ heute nicht mehr dieselbe be- und verhindernde Wirkung wie einst.

Die Prinzipien der Erneuerung

10. Die fortgesetzte Erneuerung des Staates und seiner öffentlichen Dienstleistungen ist für die Zukunft des ESM genauso wichtig wie die bereits genannten Punkte. Wo immer es nützlich ist, heißen die Leitlinien dabei Dezentralisierung und Diversifizierung. Die Beziehungen der Staaten der EU, die die Verschiebung von Macht zugleich nach oben wie nach unten erleben, sind ein herausragendes Beispiel (aber dennoch nur ein Beispiel) dafür, wie unausweichlich das Regieren und Verwalten auf mehreren Ebenen zugleich bereits heute ist. Öffentliche Dienste sollten sich genauso aufmerksam wie kommerzielle Organisationen nach den Bedürfnissen derer richten, für die sie da sind – und in mancher Hinsicht sogar noch aufmerksamer sein.

Zwar vertreten manche eine andere Auffassung, doch in Wirklichkeit hängt die Zukunft des ESM nicht davon ab, dass wir die Wahl zwischen einem „keynesianistischen Europa“ und einem „deregulierten angelsächsischen Europa“ treffen.

Die meisten Probleme, vor denen das ESM heute steht, betreffen nicht spezifisch einzelne Länder, sondern sie sind strukturell bedingt. In der Ära der Globalisierung lässt sich oft – oder sogar normalerweise – verallgemeinern, um welche Lösungen es gehen muss. Ein zukünftiges ESM wäre, um dies zu wiederholen, nicht das britische Modell. Es wäre nicht das französische Modell und auch nicht das schwedische oder das dänische. Was ich im Folgenden skizziere ist eine Art Idealtyp – eine Liste von Merkmalen, die auf je verschiedene Weise von Ländern im Prozess der Erneuerung realisiert werden könnten. Ein Muster für ein „Erneuertes ESM“ könnte durch die folgenden Grundeigenschaften gekennzeichnet sein:

  • Verschiebung von „negativer“ zu „positiver“ Sozialstaatlichkeit. Als William Beveridge seinen Plan für den britischen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit entwickelte, stellte er sich – wie fast alle anderen auch – den Sozialstaat als Korrektiv vor. Der Sinn seiner Neuerungen bestand darin, die „fünf Übel“ der Unwissenheit, des Elends, der Verwahrlosung, der Untätigkeit und der Krankheit anzugreifen. Keines dieser Übel sollte uns aus dem Blick geraten, aber heute sollten wir viel stärker versuchen, sie ins Positive zu wenden. Mit anderen Worten: Wir sollten Bildung und Lernen fördern, Wohlstand, Wahlmöglichkeiten, aktive soziale und wirtschaftliche Partizipation sowie gesunde Lebensweisen.
  • Solche Ziele setzen Anreize ebenso voraus wie Leistungen, Pflichten ebenso wie Rechte, weil die aktive Beteiligung der Bürger notwendig ist. Die Verbindung von Wohlfahrt und Bürgerschaft kommt nicht nur – in T. H. Marshalls klassischer Formulierung – durch die Ausweitung von Rechten zustande, sondern durch die richtige Mischung von Rechten und Pflichten. Der passive Bezug von Arbeitslosengeld wurde in der Vergangenheit nahezu ausschließlich als Recht definiert – und er hat sich vor allem aus genau diesem Grund als dysfunktional erwiesen. Mit der Einführung aktiver Arbeitsmarktpolitiken wird deutlich gemacht, dass die erwerbsfähigen Arbeitslosen die Pflicht haben, nach Arbeit zu suchen, wenn sie staatliche Hilfe in Anspruch nehmen wollen – und mit Hilfe von Sanktionen wird durchgesetzt, dass sie dieser Pflicht auch wirklich nachkommen.

Keine Sicherheit ohne Risiken

  • Der traditionelle Sozialstaat hat versucht, Risiken vom Individuum auf den Staat oder die Gemeinschaft umzulenken. Sicherheit wurde als Verringerung oder Abwesenheit von Risiken definiert. Tatsächlich jedoch wohnen dem Risiko auch viele positive Aspekte inne. Häufig müssen Menschen Risiken eingehen, um ihr Leben zu verbessern. Ohnehin ist es in einer sich schnell bewegenden Umgebung wichtig, ob Menschen in der Lage sind, sich auf Veränderungen einzustellen und sogar den Wandel aktiv für ihre Zwecke zu nutzen. Diese Aussage trifft auf Arbeitnehmer genauso zu wie auf Unternehmer; sie trifft genauso zu für Menschen, die eine Scheidung oder andere soziale Übergänge erleben, wie für die Welt der Ökonomie. Der kreative Umgang mit Risiken bedeutet jedoch nicht die Abwesenheit von Sicherheit – ganz und gar nicht! Zu wissen, dass Hilfe zur Verfügung stehen wird, wenn die Dinge schief gehen sollten, kann oft die Bedingung dafür sein, dass Menschen überhaupt ein Risiko einzugehen bereit sind. Dies scheint mir ein Teil der Logik des Prinzips der „Flexicurity“ auf dem Gebiet der aktiven Arbeitsmarktpolitik zu sein.
  • Ein Erneuertes ESM muss sich verstärkt auf Gebühren stützen. Öffentliche Dienstleistungen, die für ihre Nutzer kostenlos sind, mögen aus edlen Motiven entworfen worden sein. Sie geraten jedoch leicht in ganz typische Schwierigkeiten. Da sie wenige Mechanismen aufweisen, um die Nachfrage nach ihnen im Zaum zu halten, werden sie von allzu vielen und allzu oft in Anspruch genommen – und leiden dann an „Überfüllung“. So entwickeln sich Zweiklassensysteme: Wer genug Geld hat, entzieht sich. Gebühren, selbst wenn sie vergleichsweise niedrig sind, können nicht nur in dieser Hinsicht helfen, sondern auch ein verantwortungsvolles Nutzerverhalten fördern. Das Gebührenprinzip – Gebühren entrichtet von unmittelbaren Nutzern – wird deshalb für die öffentlichen Dienstleistungen vermutlich eine zunehmende Rolle spielen, von den Renten über die Gesundheit bis hin zum Hochschulstudium.

Was zum erneuerten Sozialmodell gehört

  • Das Erneuerte ESM muss entbürokratisiert werden. Der bestehende Sozialstaat beruhte fast überall darauf, die Bürger als passive Untertanen zu behandeln. Kollektivismus war früher in einer anderen Weise akzeptabel, als dies heute der Fall ist – und sein sollte. Entbürokratisierung heißt, sich Produzenteninteressen entgegenzustellen, für Dezentralisierung und lokale Entscheidungsspielräume einzutreten.

Auf der Ebene der konkreten politischen Maßnahmen möchte ich 13 Punkte vorschlagen, die zu einem Erneuerten Europäischen Sozialmodell gehören sollten:

1. Die progressive Einkommenssteuer bleibt bestehen. Die Steuerprogression ist ein Mittel, um Ungleichheiten zu begrenzen. Das Einkommen nach Steuern ist in allen Industriestaaten noch immer egalitärer als das Bruttoeinkommen. Jene Staaten, die bei der Einkommenssteuer mittlerweile auf die Flat Tax setzen, sollten mittels Freibeträgen für untere Einkommensgruppen sicherstellen, dass das Nettoergebnis dennoch progressiv ist. Überall führt der Trend weg von Steuern auf Arbeit und hin zur Besteuerung des Konsums – wiederum so weit wie möglich mit progressiven Elementen.
2. Verantwortliche Haushaltspolitik ist ein Leitprinzip der Sozialstaatsfinanzierung – wenngleich in bestimmten Situationen Flexibilität angebracht ist. Dieses Prinzip gilt langfristig und betrifft beispielsweise die Fähigkeit, spätere Rentenverpflichtungen vorauszusehen.
3. Es werden aktive Arbeitsmarktpolitiken angewandt, die auf ein angemessenes Gleichgewicht aus Anreizen und Verpflichtungen setzen. Diese Anreize und Verpflichtungen gelten für ältere Arbeitnehmer genauso wie für andere Altersgruppen.
4. Die Schaffung von Arbeitsplätzen spielt eine zentrale Rolle sowohl im Hinblick darauf, Wachstum zu ermöglichen wie hinsichtlich der Eindämmung von Armut – der beste Ausweg aus der Armut ist ein anständiger Job oberhalb des Mindestlohns.
5. Teilzeitarbeit wird aktiv gefördert und nicht stigmatisiert. Für sie entfallen anteilig genau dieselben sozialen Leistungen wie für Vollzeitarbeit.
6. Die Betonung des Gleichheitsprinzips ist ein roter Faden, der alle Politiken miteinander verbindet: der fundamentale Sinn des Erneuerten ESM besteht gerade darin, wirtschaftliche Dynamik und soziale Gerechtigkeit miteinander zu verbinden. Aufwärtsmobilität ist viel wichtiger, als „die Reichen“ ins Visier zu nehmen, denn die „Reichen“ sind eine winzige Gruppe, die „Armen“ hingegen eine sehr große.
7. Es werden gezielte Strategien eingesetzt, um verfestigte und langfristige Formen von Armut und sozialer Exklusion zu bekämpfen.
8. Besondere Aufmerksamkeit wird denjenigen gewidmet, die in Dienstleistungsberufen auf niedrigem Niveau arbeiten, um so weit wie irgend möglich zu gewährleisten, dass auch für diese Gruppen Aufstiegschancen bestehen. Das bedeutet nicht nur staatliche Vorsorge für Weiterbildung, sondern auch die Zusammenarbeit mit Arbeitgebern, um Arbeitsplätze nach Möglichkeit aufzuwerten.
9. Es werden gezielte Politiken zur besseren Integration ethnischer Minderheiten und Einwanderer angewandt.
10. Das Verhältnis von Sozialleistungen und Gebühren wird so organisiert, dass sich möglichst wenige Wohlhabende für die Flucht aus den Sozialsystemen entscheiden.
11. Der Staat wendet relativ weniger Mittel für die Älteren auf und mehr für die Jungen. Dabei wird der Kinderbetreuung, der frühkindlichen Bildung und der Ermutigung zur Familiengründung besondere Aufmerksamkeit gewidmet.
12. Investitionen in Wissenschaft, in Technologie und Hochschulbildung sind die entscheidenden Einflussgrößen sowohl auf dem Gebiet der Industriepolitik als auch für die Schaffung neuer Arbeitsplätze.
13. Jede Politik wird unter dem Gesichtspunkt ihrer ökologischen Wirkung bewertet. Alle Staaten betrachten ihre Zusagen im Rahmen des Kyoto-Protokolls als verpflichtend. Die Mitgliedsstaaten der EU bekennen sich aktiv zu den kurz- und längerfristigen ökologischen Zielen der Europäischen Kommission.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

Wir danken dem Policy Network (London) für die Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Textes.

zurück zur Ausgabe