Warschau

Deutschland braucht ein Gesellschaftswunder

Vor der Bundestagswahl verleitete die Annahme, Schwarz-Gelb werde die Republik marktradikal umkrempeln, linke Politiker von Steinmeier bis Gysi zu Kassandra-Rufen. Heute löst dieselbe These Jubelstürme in den führenden angelsächsischen Meinungsblättern aus. Was den Bundesbürgern als Horrorszenario vorgeführt werden sollte, vor dem sie nur das Treibhaus linker Versprechen bewahren könne, ist etwa für den Economist der längst ersehnte Befreiungsschlag, mit dem die Kanzlerin des „Durchregierens“ aus dem maroden Deutschland ab sofort eine Führungskraft Europas zaubern werde. In der Koalition mit den Liberalen vollzieht sich der Rechtsruck und Deutschland gerät auf den Weg in den Abgrund – oder in eine helllichte Zukunft. Je nach Blickwinkel eben.


 Falsch liegt allerdings, wer meint, die Wiederkehr des einstigen bürgerlichen Lagers ans Steuer der Macht mache die eigentliche Bedeutung der Septemberwahl aus. Denn es ist allzu offensichtlich, dass von einem liberal-konservativen Gesellschaftsentwurf keine Rede sein kann. Wie aufregend die neue Regierung für die deutsche Öffentlichkeit auch immer sein mag: Von außen betrachtet ist klar, dass der Eiertanz um Steuersenkungen, das Herummanipulieren am Atomausstieg oder die millimeterweite Auflockerung des Kündigungsschutzes die Republik nicht über Nacht verändern werden. Während die Christdemokraten die alt-sozialdemokratische Seele à la Rüttgers in sich entdeckt haben, will Westerwelles Ein-Punkt-Partei („Entlasten!“) vor allem die kurzfristigen Interessen des Mittelstandes wahren, statt sich um Zukunftsthemen zu kümmern. In der Summe ist also eher das verpönte „Weiter so“ zu erwarten als der Aufbruch zu neuen Ufern. Keine Experimente!


Neuer Gesellschaftsentwurf, Aufbruch, Wende – das alles mag sowieso unangemessen klingen in unpathetischen Zeiten, in denen der Geist des Pragmatismus herrscht und schon ein bloßes „Wir haben die Kraft“ (wozu?) mit Wahlerfolgen belohnt wird. Gleichwohl wäre es nicht nur wegen der objektiven Sachlage, sondern auch aufgrund einer wohlbekannten Gesetzmäßigkeit der deutschen Geschichte gerade jetzt an der Zeit, über das Grundsätzliche nachzudenken. Alle 20 Jahre – erinnern wir uns an 1949, 1969 und 1989 – musste sich die Republik neu erfinden. Dies war stets eine Erneuerung der Gesellschaft und der Demokratie – sehr wohl im Sinne Hannah Arendts, die darin das Lebenselixier ihres republikanischen Ideals sah. Im Jahr 1949 stand die Eingliederung Deutschlands in die westliche Gemeinschaft auf der Agenda, 20 Jahre später die gesellschaftliche Demokratisierung und nach der Revolution 1989/90 die nationale Selbstbesinnung und die Rolle des vereinigten Deutschlands in Europa.


Nun sind wieder zwei Jahrzehnte vergangen, und das Land steht vor ähnlich großen Herausforderungen wie vor 20 oder 40 Jahren. Nicht nur ist der Neoliberalismus gescheitert, wie die Linken (nicht nur in der Linkspartei)  schadenfreudig, aber eben auch vergeblich – siehe ihre miserablen Wahlergebnisse – beteuern. Auch das Modell der deutschen Aufstiegsgesellschaft ist an sein Ende gelangt. Die enormen Fortschrittsschübe, die als „Fahrstuhleffekt“ die unteren Schichten der Gesellschaft in die Mitte emporhievten, wird es künftig nicht mehr geben, warnen kluge Intellektuelle von links wie rechts. War nicht aber das eingelöste Versprechen sozialen Aufstiegs das Fundament, auf dem die Nachkriegsrepublik errichtet wurde? Wenn sich die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ als Illusion entpuppt, wenn soziale Spannungen zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, Teilhabenden und Ausgeschlossenen, Einheimischen und Einwanderern immer ausgeprägter werden, was bleibt dann von der deutschen Sozialnation? Nicht von ungefähr prägen Stichworte wie Entsolidarisierung und soziale Kluft, Exklusion und Prekariat die gesellschaftliche Debatte.

Ein neues Zeitalter bricht an

Lange stand die Gesellschaftskritik in Deutschland vor allem im Zeichen der Deregulierung, Liberalisierung und des Abbaus sozialstaatlicher Aufgaben. Angela Merkels Rede auf dem Leipziger Parteitag 2003 war möglicherweise der Höhepunkt dieses Diskurses. Manche ihrer damaligen Vorschläge würden Deutschland tatsächlich gut tun; mit seiner Kritik hat der Economist gewiss nicht ganz Unrecht. Jedoch steht inzwischen außer Frage, dass der Markt nicht alle Probleme löst. Und selbst wenn das Gefeilsche um Mindestlöhne oder Freibeträge einen anderen Eindruck hinterlässt – die heutigen Herausforderungen sind nicht allein mit Finanzspritzen zu bewältigen. Viel mehr steht auf der Tagesordnung: die Transformation der Gesellschaft und ihrer Institutionen, um den sich seit langem abzeichnenden Realitäten gerecht werden zu können. „Ein neues Zeitalter bricht an, bei dem nicht der Markt, sondern die Gesellschaft im Vordergrund steht“, bemerkte kürzlich der Soziologe Heinz Bude in einem Interview mit dem Tagesspiegel. Es geht tatsächlich nicht nur um neue soziale Ungleichheiten, sondern auch um die Bildungsfrage und eine ökologische Transformation der Gesellschaft, für die Claus Leggewie und Harald Welzer in ihrem neuen Buch Das Ende der Welt, wie wir sie kannten werben.


Das wachsende Gefühl sozialer Ungerechtigkeit, das in Umfragen immer wieder ermittelt wird, kann nur als Verdruss an der Unfähigkeit der Politik interpretiert werden, diesen neuen Herausforderungen zu begegnen. Um noch einmal Heinz Bude zu bemühen: „Die Formen der Koordinierung politischer Fragen kommen immer noch aus der Nachkriegszeit, mit den Formen sozialer Desintegration, wie sie heute um sich greifen, sind sie überhaupt nicht mehr in Einklang zu bringen.“ Braucht das Deutschland des 21. Jahrhunderts ein Gesellschaftswunder, nachdem das Wirtschaftswunder seinen Weg in die Geschichtsbücher gefunden hat? Kein Zweifel: Im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts steht die Bundesrepublik vor Aufgaben, die ohne Experimente nicht zu bewältigen sind.


Deswegen ist das Schlüsselergebnis dieser Wahl nicht der vermeintliche Rechtsruck, sondern die Tatsache, dass das Nachdenken über das Grundsätzliche nun vermutlich auf die lange Bank geschoben wird. Wirklich einschneidend ist die katastrophale Niederlage der Sozialdemokratie. Sie ist die eigentliche Zäsur dieses Jahres (ein Nachruf auf die andere der beiden „großen Volksparteien“ kann aber bereits vorbereitet werden). Noch schwerer wiegt, was sich hinter dem mickrigen Wahlergebnis verbirgt: die Unfähigkeit der Sozialdemokratie, die Gesellschaft neu zu definieren und ein wertebasiertes politisches Projekt zu entwickeln, das den verunsicherten Schichten der Gesellschaft Orientierung gibt. Welche andere Partei wäre mehr dazu berufen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen?

Wie brauchbar ist die SPD noch?

Es war falsch zu glauben, die Wirtschafts- und Finanzkrise werde automatisch linke Parteien an die Macht bringen. Die Gesellschaftskrise, die sich in Deutschland seit Jahren abzeichnet, ist aber für die SPD der eigentliche Test zum Beweis ihrer Brauchbarkeit – so wie vor mehr als 100 Jahren, als sie unter August Bebel und Eduard Bernstein die Weichen für einen neuen Gesellschaftsentwurf stellte. Diese Mammutaufgabe steht nach wie vor an, und es wäre töricht zu glauben, sie wäre mit einem Schwenk hin zu den Sozialgestrigen und Status-quo-Wächtern zu machen. Ob die Aufgabe gelingt, wird nicht nur über die Zukunft der SPD entscheiden, sondern auch darüber, ob sich die bundesrepublikanische Erfolgsstory in den kommenden 20 Jahren fortsetzt.

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