Wie Polen ins europäische Abseits geriet

Seit Anbruch der neuen Ära Kaczynski hat sich Polen von Deutschland abgewendet. Warschau setzte auf den engen Schulterschluss mit London und populistische Triumphe überall in Europa. Jetzt sind die Briten in der EU kein Faktor mehr, und die Welle des Populismus ist gebrochen. Wird Polen seinen Kollisionskurs im Alleingang fortsetzen?

Wenn es einen wichtigen strategischen Wandel der polnischen Politik seit dem Amtsantritt der PiS-Regierung gibt, dann besteht er in der Neubewertung der Rolle Deutschlands. Als der neue Außenminister Witold Waszczykowski dem Parlament im Januar 2016 sein Programm präsentierte, standen zum ersten Mal seit 1989 nicht die Beziehungen zu Deutschland ganz oben auf der Liste. An die Stelle Deutschlands trat Großbritannien. Diese Verschiebung der Allianzen war bemerkenswert, weil die Pflege enger politischer Beziehungen zu Deutschland über viele Jahre hinweg der wichtigste Eckpfeiler polnischer Außenpolitik war.

In dieser Zeit hatte Polen stets angestrebt, Bestandteil des Kerns der EU zu werden. Auch als Nichtmitglied der Eurozone versuchte Warschau, die Beziehungen zu Berlin und Paris so eng wie möglich zu gestalten. Im Hinblick auf Deutschland beruhte diese Politik auf der Überzeugung, Deutschlands Macht müsse zu Europas gemeinsamem Vorteil genutzt werden. Um sicherzustellen, dass Deutschland in der EU tief verankert bleibe, sei die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Berlin trotz gewisser Interessenunterschiede der beste Weg.

Die neue Regierung denunzierte diesen Kurs als eine „Politik auf den Knien“. Polen im Mainstream der EU zu verankern, werde das Land nicht voranbringen. Während die erste Kaczynski-Regierung (2005 bis 2007) den „Kampf um die Erinnerung“ (gegen einen angeblichen deutschen Geschichtsrevisionismus) führte, stehen diesmal andere Themen im Mittelpunkt: Die Flüchtlingsfrage hat die „Gedächtnispolitik“ als wichtigste Kritik an Berlin ersetzt. Die PiS beschreibt Deutschland als Quelle der europäischen Flüchtlingskrise. Obendrein wolle Berlin dem Rest der EU seine katastrophale Politik aufzwingen und versuche, Polen und anderen mittelosteuropäischen Ländern das – mutmaßlich gescheiterte – Modell der multikulturellen Gesellschaft aufzuzwingen. Die hohe Aufmerksamkeit für die Flüchtlingsfrage in der polnischen Debatte bot günstige Gelegenheiten für verbale Angriffe gegen Brüssel und Berlin.

In der bemerkenswerten Verschiebung der Allianzen Polens in Europa spiegelt sich der Ehrgeiz der neuen Regierung wider, den Integrationsprozess in eine deutlich veränderte Richtung zu lenken. Die politische Nähe zu London hatte mit der Mitgliedschaft von PiS und Tories in der gleichen europäischen Parteifamilie zu tun, aber noch mehr mit ihrer gemeinsamen Vision von Europa. Die PiS hat stets das britische Beharren auf den Primat der Nationalstaaten in der EU geteilt, ebenso lehnten beide die gemeinsame Währung sowie den Atlantizismus ab. Auch in der Skepsis gegenüber eigenen Verteidigungsambitionen der EU sowie in der Betonung des Binnenmarktes als Schlüsselpfeiler der EU-Integration (im Gegensatz zu politischen Begründungen) war man sich einig.

Mit dem Brexit zerbröselte die PIS-Strategie

Die britische Herangehensweise an Europa gefiel der PiS trotz einiger wichtiger Interessenkonflikte. Diese betrafen Londons Ehrgeiz, den EU-Haushalt zurückzufahren und die britische Überzeugung, dass Arbeitsmigration und soziale Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien begrenzt werden müssten. Auf der Suche nach einer alternativen Politik und Verbündeten gab die PiS auch einen anderen traditionellen polnischen Vorbehalt gegenüber Großbritannien auf: Während Polen seine EU-Mitgliedschaft nicht zuletzt sicherheitspolitisch begriff, war die britische Haltung zur Integration immer wirtschaftlich begründet. Polen und Mittelosteuropa haben auf dem außenpolitischen Radar der Briten niemals einen herausragenden Platz eingenommen. In diesem Licht wird klar, was die polnische Wendung in Richtung Großbritannien angetrieben hat: der Ehrgeiz, gemeinsam mit den Briten die Machtbalance und den Integrationsmodus Europas im Sinne des PiS-Konzepts der „Vereinigung souveräner Staaten“ zu verschieben.

Angesichts eines von populistischen und antieuropäischen Tendenzen aufgewühlten Kontinents glaubte die PiS, der Frust über „Brüssel“ und die Wut auf die europäischen Eliten würden unweigerlich eine Dynamik zugunsten der Reform der EU-Verträge auslösen. Zwei weitere Faktoren schienen diese Annahme zu bestätigen:

Erstens sah es zunächst so aus, als könnte David Camerons Entscheidung für ein Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft einen Raum für Verhandlungen zwischen der EU und London über Reformen europäischer Institutionen und europäischer Politik eröffnen. Diese würden dann wiederum die britischen Wähler überzeugen, in der EU zu bleiben. Daraufhin unterstützte Polen die im Februar 2016 erreichten Vereinbarungen, da sie als Vorbote einer breiteren EU-Reform angesehen werden konnten – trotz der Zugeständnisse, die zum Nachteil polnischer (und anderer europäischer) Bürger Großbritannien gemacht worden waren.

Zweitens hat die Flüchtlingskrise einen großen Konflikt zwischen Deutschland und den mittelosteuropäischen Ländern ausgelöst, in dem es um die Grundprinzipien der EU-Integration geht. Dass der Widerstand von drei Visegrad-Staaten gegen die Aufnahme von Flüchtlingen im September 2016 mit qualifizierter Mehrheit überstimmt wurde, bedeutete für die PiS und andere Regierungen der Region die Überschreitung einer roten Linie. Zugleich warf das Thema die Frage auf, in welchem Maße Brüssel oder Berlin das Recht und die Macht besäßen, in Identität und Sozialmodelle von Mitgliedsstaaten einzugreifen. Die Entscheidung festigte die Entschlossenheit des Visegrad-Blocks, ein solches Szenario zu verhindern. Für Warschau wurde die Visegrad-Gruppe zum zweiten entscheidenden Bündnispartner, um Deutschlands Gewicht auszugleichen und die Warschauer Idee einer EU souveräner Nationalstaaten voranzutreiben.

Es kam anders. Brexit und die neue Debatte um die Zukunft der EU haben die Grundlagen ihrer Strategie zerbröseln lassen. Mit dem Brexit wurde auch Camerons Deal vom Februar 2016 hinfällig. Das schwächt das Lager der „Renationalisierer“. Für Warschau hat sich die Wette auf Großbritannien als Hauptverbündeter innerhalb der EU damit als kurzsichtige Strategie erwiesen. Zugleich hat Londons Abschied eine Reformdebatte innerhalb der EU ausgelöst, die Warschau zuwiderläuft. Statt um ein „Zurück zu den Wurzeln!“ (die EU als Binnenmarkt) oder um „Mehr Rechte für die Nationalstaaten!“ lauteten die Slogans auf einmal „Differenzierte Integration!“ und „Wiederbelebung der deutsch-französischen Achse!“. Verstärkt wurden diese Stimmen mit dem Sieg Emmanuel Macrons. Die erwartete Dynamik für ein umfassendes Umkrempeln des institutionellen Aufbaus der EU ist auch deshalb ausgeblieben, weil die Anti-Establishment-Welle in Österreich, den Niederlanden und Frankreich jedenfalls vorerst zum Erliegen gekommen ist.

Warschaus Forderungen blieben vage

Dass es Warschau letztlich nicht gelang, die Debatte um die Zukunft der EU zu prägen, war ein Ergebnis dieser politischen Fehlkalkulationen. Es folgte aber auch aus dem Wesen der polnischen Vorschläge und Vorgehensweisen selbst. Einerseits forderte Polen – als einziges Land der EU überhaupt – lautstark eine EU-Vertragsreform, andererseits aber tat es sich schwer, eine klare Vorstellung über den Zeithorizont des Vorhabens zu entwickeln und konkrete Reformideen vorzulegen. Während Parteiführer Kaczynski offensiv für die Idee eines Vertragsumbaus als angemessene Antwort auf den Brexit warb, schlugen polnische Regierungsvertreter viel gemäßigtere Töne an: Ihnen zufolge ist eine Vertragsreform lediglich „kein Tabu“ und der Zeithorizont dafür völlig unbestimmt.

Die polnischen Forderungen blieben vage: Kaczynski und einige andere PiS-Führer forderten, in „allen wichtigen Fragen“ habe das Einstimmigkeitsprinzip zu gelten. Die einzige konkrete Vorstellung dazu, wie man „die Herrschaft über das EU-Projekt den wirklichen politischen – demokratischen und nationalen – Gemeinschaften zurückgeben“ könne, war jedoch die Einführung eines „Rote-Karte-Mechanismus“ für die nationalen Parlamente. Dass die EU „die Entscheidungen der souveränen Staaten und nationalen Parlamente respektieren“ solle, ist der wiederkehrende Refrain aller Ideen der PiS zur Zukunft Europas. Alles in allem blieb die polnische „Initiative zur Erneuerung der EU“ stark auf Institutionen und Verfahren ausgerichtet. Die meisten anderen Mitgliedsstaaten betonten einen pragmatischeren Ansatz, um das Vertrauen der Bürger mit möglichst schnellen politischen Lösungen zurückzugewinnen.

Polens Ideen für institutionelle Reformen werden von den anderen Visegrad-Staaten nur lauwarm unterstützt. Während die V4-Gruppe in der Flüchtlingspolitik laut und mit einer Stimme spricht, ist sie in Fragen institutioneller Erneuerung viel weniger einig. Tschechien und die Slowakei lehnten die Idee einer Vertragsreform ab, und nicht einmal Ungarn war begeistert. Daher blieben die gemeinsamen Erklärungen zur Zukunft Europas wenig ehrgeizig. Die von den Visegrad-Staaten propagierte Idee einer „Union des Vertrauens und Handelns“ unterstreicht die Bedeutung des Binnenmarktes, die Nichtdiskriminierung von EU-Staaten außerhalb der Eurozone und den Schutz der EU-Außengrenzen.

Polens Reaktion auf die Idee der „differenzierten Integration“ war offen negativ. Außenministerin Waszczykowski erklärte, dies sei „ein Rezept für Misserfolg, Streit und Trennung“. Solche Vorschläge deuteten auf „hegemonistische“ Lösungen hin, bei denen Länder zurückgelassen würden, die nicht in dieses System passten. Interessanterweise aber waren dieselben Vertreter Polens viel weniger kritisch gegenüber solch einem Ansatz gewesen, bevor nach dem EU-Gipfel in Malta im Februar 2017 die Debatte über ein „flexibles Europa“ begann. Tatsächlich hatte seinerzeit gerade Warschau behauptet, die EU könne nicht nach dem Prinzip one size fits all funktionieren. Stattdessen müsse den Mitgliedern erlaubt sein, die Tiefe ihrer Integration individuell zu bestimmen; Staaten, die sich an bestimmten Formen der Integration nicht beteiligen wollten, dürften keine negativen Folgen zu gewärtigen haben.

Gemeinsame Sicherheit – künftig ohne Polen?

Polens Werben für flexible Opt-out-Mechanismen hat ein strukturelles Dilemma der polnischen Europapolitik zum Vorschein gebracht: Warschau will vom Binnenmarkt und vom Kohäsionsfonds profitieren, ist aber zugleich nicht bereit, sich an denjenigen Integrationsvorhaben zu beteiligen, die höchstwahrscheinlich die Fundamente wirklicher Solidarität und Zusammenarbeit innerhalb der EU legen (Euro, Einwanderung, Verteidigung, Sozialpolitik). Der Brexit verstärkt dieses Dilemma: Ohne Großbritannien werden die Möglichkeiten der EU-Mitglieder außerhalb der Eurozone, auf die Richtung der Integration Einfluss zu nehmen, ziemlich begrenzt. Polens Position, die EU sei „keine Union mit nur einer Währung“, wird einen schweren Stand haben. Vor diesem Hintergrund hat die Diskussion über einen Beitritt zur Eurozone in Polen erneut Fahrt aufgenommen. Allerdings beschränkt sich diese Debatte bislang auf die wissenschaftliche und wirtschaftliche Sphäre; nur die liberale Oppositionspartei Nowoczesna tritt offen für den Beitritt ein.

Zu den Schlüsselprojekten einer „differenzierten Union“ gehört heute auch die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). In der Vergangenheit war Polens Interesse an der GSVP nicht unbedingt Ausdruck echten Glaubens daran, dass die EU den harten Sicherheitsinteressen Polens in ähnlicher Weise dienen könnte wie die Nato. Vielmehr handelte es sich um eine „Ausgleichsstrategie“, die Polen im politischen Herzen Europas verankern sollte. Da das Land der Eurozone nicht angehört und noch ein „neues“ Mitglied war, nahm es die GSVP als einziges Feld der Integration wahr, auf dem Polen einen echten Beitrag leisten konnte.

Genau hier hat die PiS-Regierung die größte Veränderung bewirkt: Seit 2015 legt Warschau kaum noch Interesse an den Tag, die Bemühungen der EU zur Stärkung der GSVP zu unterstützen. Dabei könnte dies die polnischen Beziehungen gegenüber den Vereinigten Staaten und dem deutsch-französischen Paar ausbalancieren. Polen hat sich nicht nur plötzlich aus dem Vertrag mit Airbus über den Kauf von Armeehubschraubern zurückgezogen (was zu einer starken Verschlechterung des Verhältnisses zu Frankreich führte). Es verweigert auch die weitere Zusammenarbeit im Rahmen des Multi-Role-Tanker-Transport-Projekts unter Schirmherrschaft der Europäischen Verteidigungsagentur. Dabei wollen mehrere EU-Länder gemeinsam Flugzeuge erwerben, um so Kosten zu reduzieren und die Lastenteilung zu verbessern. Auch die Entscheidung, die meisten polnischen Offiziere aus dem Eurokorps abzuziehen (eine militärische Einheit, die nicht formell Teil der GSVP ist, sondern auf deutsch-französischer Initiative basiert) bekräftigt die neue Ausrichtung der polnischen Sicherheitspolitik. Dabei argumentiert Warschau, die Offiziere würden an der Ostflanke der Nato gebraucht. Zudem habe das Eurokorps trotz polnischen Drängens keine Aufgaben im Zusammenhang mit Artikel 5 des Nato-Vertrags trainiert, sondern lediglich GSVP-Missionen zum Zweck des Krisenmanagements.

Politik der fundamentalen Fehlkalkulation

Im Rahmen der GSVP Institutionen und Fähigkeiten zur Planung besserer Verteidigungsfähigkeit zu entwickeln, sieht Warschau ebenfalls skeptisch. Auch hier lautet die polnische Kritik, die europäische Verteidigungsplanung gelte „Petersberg-Aufgaben“, also dem Krisenmanagement, nicht aber harten Sicherheitsbedrohungen im Sinne von Artikel 5. Damit widerspreche die Planung zur EU-Verteidigungsfähigkeit dem parallelen Nato-Prozess. Einige EU-Länder könnten sich eher durch ihre EU- als durch ihre Nato-Verpflichtungen gebunden fühlen, heißt es. Diese Einwände sind nicht neu. Entscheidend ist jedoch, dass der polnische Rückzug aus der GSVP fast zur selben Zeit vollzogen wurde, in der das Projekt in der europäischen Debatte neue Bedeutung erlangt – nicht zuletzt, weil das Bekenntnis der USA zu ihren Bündnispflichten wie nie zuvor in Zweifel steht.

Kurzum: Polens Europapolitik gründet auf fundamentalen Fehlkalkulationen. Die PiS glaubte, die europäische Krise werde einen kritischen Umkipppunkt überschreiten, der die Partei zum Bestandteil eines neuen europäischen Mainstreams gemacht hätte. Dieser neue Mainstream hätte sich der Idee der „immer engeren Union“ widersetzt und die Renationalisierung Europas betrieben. Diese Vision führte zur kurzlebigen Allianz Polens mit Großbritannien sowie zu den Versuchen, die Visegrad-Staaten sowie das übrige Mittelost- und Südosteuropa unter Führung Polens zu konsolidieren, um auf diese Weise ein Gegengewicht zu Deutschland zu bilden. Beide Versuche sind gescheitert, und die neue Achse Macron-Merkel wird die EU-Integration voraussichtlich in einer Weise weiter gestalten, die Polens Vorstellungen widerspricht. Damit gerät die PiS-Regierung erneut auf Kollisionskurs zur EU. Für den zukünftigen Ort Polens in Europa dürfte sich dieser Streit als ebenso wichtig erweisen wie die laufende Auseinandersetzung um Rechtsstaatlichkeit und demokratische Standards.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

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