Wandel durch Umdenken - warum wir eine neue Ostpolitik brauchen

Deutschland steht vor den Trümmern seiner seit 1991 betriebenen Ostpolitik. Diese folgte dem mutmaßlich bewährten Prinzip "Wandel durch Annäherung" und basierte auf der Prämisse der Reziprozität in den Beziehungen zu Russland: Vertiefte Verflechtung werde Moskau zu moderater Politik verpflichten. Diese Hoffnung hat sich als Wunschdenken erwiesen

Der russische Einmarsch in die Ukraine markiert eine Zäsur in der Geschichte Europas. Die langen Jahrzehnte des Friedens – unterbrochen nur vom Krieg in Jugoslawien – sind vorbei. In Osteuropa herrscht Krieg. Darum ist es Zeit, Bilanz zu ziehen und die Ostpolitik neu zu denken. Dazu ist es notwendig, das Scheitern deutscher und europäischer Strategien einzugestehen. Denn zu lange war die Ostpolitik Berlins und Brüssels von Denkfehlern und Illusionen, von eigenen Wünschen und Fehleinschätzungen geprägt. Wohl auf kaum einem anderen Politikfeld wurden Warnsignale und gefährliche Entwicklungen so beharrlich ignoriert wie in den Beziehungen zu Russland. Das muss sich ändern.

Die deutsche Ostpolitik hat alle ihre Ziele verfehlt

Das Scheitern der Ostpolitik ist offensichtlich und dramatisch. Von der Besetzung der Krim im Frühjahr über den von Moskau angestifteten wilden Krieg im Donbass bis zum Einmarsch regulärer russischer Einheiten reicht die Kette strategischer Triumphe des Kreml, die zugleich Niederlagen der Ukraine, aber auch des Westens und besonders Deutschlands sind. Denn keine andere westliche Regierung pflegt so enge Beziehungen mit Moskau. Doch ohne Erfolg: Ihre Ziele – Frieden, Sicherheit, Stabilität und Ausgleich in Europa – hat die deutsche Ostpolitik verfehlt. Sie steht vor einem Trümmerhaufen. Es ist Zeit, neue Wege aufzuzeigen.

Zweimal hat die deutsche Ostpolitik auf die Idee eines „Wandels durch Annäherung“ gesetzt, zuerst in den siebziger Jahren und dann in den zweieinhalb Jahrzehnten nach der Einheit Deutschlands. Primärer Adressat deutscher Ostpolitik war stets Moskau. Im Kalten Krieg mit der Sowjetunion als Hegemonialmacht war das unausweichlich. Doch seit dem Ende der neunziger Jahre war die enge Beziehung zu Russland eine strategische, wirtschafts- und energiepolitische Entscheidung Berlins, an der sämtliche Regierungen festhielten. Der Blick zurück zeigt jedoch, dass diese Politik auf falschen Annahmen beruhte.

Der beschworene Wandel durch Annäherung blieb gleich zweimal aus. Im späten Kalten Krieg verschlechterte sich die Menschenrechtslage. Die détente verhinderte weder den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan noch das Kriegsrecht in Polen. In den achtziger Jahren blieben von der Ostpolitik der kurze Draht Bonns zu Moskau, das einträgliche Sowjetuniongeschäft sowie das Gefühl größerer Erwartungssicherheit für die Westdeutschen. Einen tatsächlichen Wandel der Moskauer Politik brachte erst Michail Gorbatschow. Zum Ende des Kalten Krieges hat die Bonner Politik nicht maßgeblich beigetragen. Es war die Entscheidung des Kreml, eine Auseinandersetzung zu beenden, die er weder gewinnen noch finanzieren konnte.

Putins Kriege wurden ignoriert und verdrängt

Nach 1991 hat sich das souveräne Deutschland entschlossen, seine Beziehungen zu Russland weiter zu vertiefen. Wiederum wurde die Idee eines Wandels durch Annäherung bemüht, um eine Verflechtung zu rechtfertigen, die von den Verbündeten oft beargwöhnt wurde. Die Kontinuität deutscher Ostpolitik sollte Europa helfen, den Risikofaktor Russland zu beherrschen. Selbst als sich seit Ende der neunziger Jahre abzeichnete, dass der Aufbau eines Rechtsstaates in Moskau nicht weiterverfolgt wurde, hielt Berlin an der privilegierten Beziehung zum Kreml fest und baute sie sogar noch weiter aus. Die North Stream Pipeline – gegen den Protest Polens verwirklicht – steht für eine deutsche Außenpolitik, die wenig Rücksicht auf Warschau, Riga oder Tallinn nahm. Mit der überstürzten „Energiewende“ vergrößerte sich die Abhängigkeit von Russland nochmals – und das, obwohl der Kreml in der Ukraine mehrfach bewiesen hat, dass er Gas sehr wohl als politische Waffe einsetzt. Gute Geschäfte und vermeintliche Versorgungssicherheit hatten gegenüber den Bedenken unserer Nachbarn Priorität.

Um an seiner Ostpolitik festhalten zu können, hat Berlin die Kriege in Tschetschenien und Georgien ebenso ignoriert wie den autoritären Umbau Russlands. Die „Modernisierungspartnerschaft“ wurde fortgeführt, obwohl „Wandel durch Annäherung“ bereits zur Fiktion geworden war. Warnungen aus Polen oder dem Baltikum wurden als Unkenrufe abgetan. Nur halbherzig trat Berlin auch dem Werben Moskaus um eine „Achse“ entgegen – dabei war das Ziel, Deutschland zu neutralisieren und dem Westen zu entfremden, nicht neu. Es handelte sich um die Neuauflage einer sowjetischen Strategie.

Durch die Fortsetzung der Ostpolitik gerieten Deutschland und Europa in die Position der Schwäche, in der wir uns nun gegenüber Moskau befinden. Und wie Ende der siebziger Jahre zeigt sich 2014, dass die deutsche Ostpolitik nicht krisenfest ist. Sie beruht auf einer Prämisse, die keiner Überprüfung standhält: der Reziprozität in den Beziehungen zu Russland. Die Bundesregierung ging davon aus, dass die ökonomische Verflechtung Moskau zu einer moderaten Politik verpflichten würde. Dabei wiesen sowohl die autoritäre Entwicklung im Inneren als auch die Außenpolitik Russlands im letzten Jahrzehnt darauf hin, dass eine Konfrontation mit dem Westen bevorsteht. In der Ukraine-Krise zeigte sich, wie gering der Einfluss Berlins ist. Die wechselseitigen Verflechtungen haben den Kreml nicht an einer militärischen Expansion gehindert. Und die privilegierten Beziehungen zwischen Berlin und Moskau haben die europäische Stabilität nicht erhalten, sondern untergraben. Sie ließen den Westen gespalten und schwach erscheinen und beschränkten seine Handlungsmöglichkeiten.

Die europäische Reaktion auf die russische Aggression zeigt, dass der Ernst der Lage noch nicht erkannt wurde. Viel spricht dafür, dass die Bedrohung weitaus größer ist als im späten Kalten Krieg. Mit seinem Kampf für „Neurussland“ und dem Anspruch, in einer vage definierten „russischen Welt“ militärisch einzugreifen, positioniert sich der Kreml offen als revanchistische Macht. Russland ist dabei, die europäische Friedensordnung auszuhebeln. Erstmals steht wieder die Integrität und Souveränität der europäischen Staaten – unserer Verbündeten – auf dem Spiel. Doch das Auswärtige Amt verteidigt reflexhaft eine Politik, die mitverantwortlich für die gegenwärtige Lage ist. In Wirklichkeit ist es notwendig, auf zahlreichen Ebenen umzusteuern, sich der Komplexität Osteuropas zu stellen und unsere Ziele in der Region neu zu formulieren. Schließlich sind Freiheit, Recht und Stabilität in Europa Deutschlands primäres Interesse. Und Osteuropa ist mehr als nur ein Absatzmarkt für die deutsche und europäische Industrie: Hier wird die Zukunft des Kontinents entschieden.

Um einen Anstoß zum Nachdenken und zur Veränderung zu geben, habe ich folgende sieben Thesen zur Ostpolitik formuliert:

Erstens: Ostpolitik ist nicht Russlandpolitik. Unsere Verbündeten sind Deutschlands Partner in Osteuropa: Polen und das Baltikum. Hier wurde Berlins Nähe zu Moskau seit jeher skeptisch gesehen. Ihre Befürchtungen haben sich zu großen Teilen bewahrheitet. In der Krise gilt nun, dass ihre Sicherheit unsere Sicherheit ist. Berlin muss bereit sein, ihnen diplomatischen Beistand und im Rahmen der Nato militärischen Schutz zu bieten – auch wenn das teuer und unpopulär ist. Ansonsten riskieren wir nicht nur weitere Enttäuschung und Verärgerung in der Region, sondern die Stabilität Europas. Die deutschen Sonderbeziehungen mit Moskau sollten durch eine engere Partnerschaft mit unseren Verbündeten in der Region ersetzt werden.

Zweitens: Ostpolitik bleibt Russlandpolitik. Deutschland hat ein starkes und legitimes Interesse an engen und guten Beziehungen zu Russland. Doch Partnerschaft mit einer revisionistischen Macht ist keine Option. Wie kann es also weitergehen? Kurzfristig ist es ebenso richtig, Gesprächskanäle beizubehalten, als auch weitere gezielte Schritte zur Eindämmung russischer Macht zu unternehmen. Der Primat der Politik über die Wirtschaft muss wieder hergestellt werden. Mittelfristig gilt es, die Abhängigkeit Deutschlands und Europas von russischen Ressourcen stark zu verringern. Grundsätzlich muss Berlin die Grenzen seines Einflusses erkennen und mit dem Russland rechnen, das wir vorfinden – und nicht mit dem, das wir uns wünschen. Wandel durch Annäherung war eine Chimäre: Russland entscheidet sein Schicksal selbst. Europa muss verstehen, dass Moskau für absehbare Zeit kein Partner mehr ist.

Berlin und Washington müssen zusammenrücken

Drittens: Ostpolitik ist Europapolitik. Die Europäische Union ist bisher primär eine Wirtschaftsgemeinschaft. Die Bedrohung durch Russland zwingt sie, auch eine Sicherheitsgemeinschaft zu werden. Dazu muss sie ihre außenpolitische Schlagkraft erhöhen, Handlungsfähigkeit beweisen und eine gemeinsame Ostpolitik formulieren. Zudem muss der Einfluss Russlands in der Union beschnitten werden. Eine erfolgreiche und stabile EU ist von globaler Bedeutung, weil sie die Vorzüge liberaler Ordnungen gegenüber der autoritären Herausforderung demonstriert.

Viertens: Ostpolitik ist transatlantische Politik. Die Vereinigten Staaten sind der Garant der Sicherheit Deutschlands und Europas. Deshalb muss die deutsche Ostpolitik wieder eng mit Washington und der Nato abgestimmt werden. Die Zeit der Sonderwege – wie etwa unter Guido Westerwelle bei der Libyen-Abstimmung des Weltsicherheitsrates – ist vorbei. Berlin sollte darauf drängen, dass die Vereinigten Staaten ihr Engagement in Europa nicht noch weiter reduzieren. Ein westliches Deutschland wird dann auch wieder mehr Gewicht in Washington haben. Wir müssen zur partnership in leadership zurückkehren.

Fünftens: Ostpolitik ist Geopolitik. Deutschland ist Schutzmacht der kleineren Verbündeten in Ostmitteleuropa. Diese Rolle müssen wir akzeptieren und sinnvoll ausfüllen. Seine bisherige Verweigerungshaltung in dieser Frage wird Berlin nicht durchhalten können; wir sollten uns der eigenen Bedeutung entsprechend an der Sicherung der Außengrenzen von Nato und EU beteiligen. Wer glaubt, dass es im postsowjetischen Raum keine „militärischen Lösungen“ gibt, der irrt. Die Gefahr weiterer Kriege wie in der Ukraine kann jedoch durch containment vermindert werden.

Die besondere Verantwortung der SPD

Sechstens: Ostpolitik ist öffentlicher Diskurs. Schon seit längerem wird der Aufbau einer außen- und sicherheitspolitischen Kultur gefordert, die der Bedeutung Berlins gerecht wird. Hier sind Politik, Stiftungen, Wissenschaft, Think Tanks und Zivilgesellschaft gefragt. Der Dialog der politischen Klasse mit Experten muss neu belebt, Ziele müssen neu definiert und der Bevölkerung vermittelt werden. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Osteuropa – seit 1990 beständig beschnitten – muss dringend stärker gefördert werden. Gleichzeitig gilt es, die gezielte Einflussnahme Moskaus auf die öffentliche Meinung wachsam zu dokumentieren und zurückzudrängen. Gepflegt und ausgebaut werden sollte dagegen der Austausch mit der Zivilgesellschaft in Osteuropa – auch und gerade in Russland.

Siebtens: Ostpolitik ist Geschichtspolitik. Politikwissenschaft und Zeitgeschichte sollten mit der kritischen Aufarbeitung von vier Jahrzehnten Ostpolitik beginnen. Vom „Wandel durch Annäherung“ bis zur „Modernisierungspartnerschaft“ sollten wir hinterfragen, wo die Stärken und Schwächen der Ostpolitik lagen und herausarbeiten, woran sie letztlich scheiterte. Hier trägt die SPD eine besondere Verantwortung. Diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird den Diskurs über die Gegenwart beflügeln.

Dies sind nur erste Denkanstöße für eine neue Politik – der Weg zurück ist durch den Krieg in der Ukraine versperrt. Auch eine Waffenruhe in der Ostukraine oder die aggressive Rhetorik des Kreml sollten Berlin nicht dazu verleiten, auf alte Rezepte zurückzugreifen. Die deutschen Sonderbeziehungen zu Russland müssen durch den Aufbau einer tragfähigen Sicherheitsarchitektur für Osteuropa ersetzt werden. Das ist – unabhängig von parteipolitischen Differenzen – eine nationale und europäische Aufgabe.

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