Höchste Zeit für ein realistisches Russland-Bild

Moskau ist nicht mehr bereit, die bestehende Landkarte Europas zu akzeptieren. Gewalt wird in Osteuropa wieder zum Mittel der politischen Auseinandersetzung. Jetzt müssen wir neu klären, worin unsere Ziele, Mittel und Möglichkeiten liegen

Der scheinbar plötzlich ausgebrochene Konflikt zwischen Moskau, Kiew und dem Westen hat eine gewisse Ratlosigkeit verursacht. Diese veranlasste zahlreiche Politiker und Kommentatoren, sich in historische Analogien zu flüchten. In Deutschland warnten Vertreter der Bundesregierung vor einer „Spaltung Europas“ oder einem „neuen Kalten Krieg“, und die Vereinigten Staaten bezichtigten Moskau der „Großmachtpolitik“ nach dem Muster des 19. Jahrhunderts. Die Linkspartei hingegen bekundete Verständnis für Moskaus traditionelle „Einflusssphären“ und beschuldigte den Westen, diese nicht zu respektieren und damit die Krise eigentlich verursacht zu haben. Tatsächlich tragen solche historischen Abziehbilder wenig zu einem tieferen Verständnis der Auseinandersetzung bei. Hilfreicher ist der Versuch, den russischen Staat der Gegenwart, sein Verhältnis zum Westen sowie sein Führungspersonal zu verstehen. Dazu muss mit einigen Mythen aufgeräumt werden, die den unvoreingenommenen Blick nach Osten trüben.

Seit der Periode der Perestroika ging und geht die europäische Politik davon aus, dass sich die postsowjetischen Staaten auf dem Weg der Annäherung und Verflechtung mit dem Westen befinden. Trotz zahlreicher Probleme und Rückschläge hat auch der Kreml diesen Weg der Konvergenz nicht verlassen, lautet die bis vor kurzem gängige Prämisse. Diese stand hinter der Entscheidung, Moskau in die G7-Gruppe aufzunehmen, oder hinter dem Anliegen Berlins, Russland eine privilegierte „Modernisierungspartnerschaft“ anzubieten. Letztlich gründete diese Ostpolitik auf der Annahme, dass Michail Gorbatschows Vision einer Zivilisierung der russischen Politik und Gesellschaft unumkehrbar sei und dass seine Nachfolger trotz unterschiedlicher Akzente grundsätzlich bereit seien, nach Innen und Außen rechtliche Regeln und gewaltfreie Konfliktlösungen zu akzeptieren.

Dies war (und ist) eine attraktive, weil bequeme Sicht auf unsere Beziehungen zu Russland. Sie erlaubte den politischen Eliten des Westens, im russischen Gegenüber sich selbst zu sehen und anzunehmen, politische Entscheidungen würden in Moskau nach ähnlichen Prämissen und in einem vergleichbaren Referenzsystem getroffen. Obwohl Experten diese Einschätzung bereits seit Jahren hinterfragen, bedurfte es erst der Annexion der Krim, um sie als Illusion zu entlarven. Erschrocken stellen wir jetzt fest: Wir sind gar keine Partner, sondern Gegner. Wie lässt sich diese Entwicklung erklären? In zeithistorischer Perspektive zeigt sich, dass sich der Weg Russlands nach 1989 deutlich von dem anderer osteuropäischer Staaten unterscheidet.

Ein Schlüssel zum Verständnis der Moskauer Außenpolitik liegt in der Analyse der innenpolitischen Entwicklungen. Dabei verdienen drei Aspekte besondere Aufmerksamkeit: die politische Verfassung, die unterbliebenen Reformen der neunziger Jahre und der Moskauer Blick auf den postsowjetischen Raum. Hier lassen sich konkrete Wegmarken benennen, an denen sich die politische Führung Russlands bereits vor Jahren gegen eine Fortsetzung von Liberalisierung, Pluralisierung und Verrechtlichung der russischen Gesellschaft entschieden hat.

Männernetzwerke und informelle Zirkel

Wie die anderen Staaten Osteuropas stand Russland um 1990 vor der Herausforderung, sich eine neue politische Verfassung zu geben. Michail Gorbatschow stieß mit der Zerstörung des kommunistischen Machtmonopols eine Pluralisierung an. Der Generalsekretär und seine Reformmannschaft experimentierten in der UdSSR seit Ende der achtziger Jahre mit Parlamentarisierung und Präsidialsystem, ohne sich für eine der beiden Varianten zu entscheiden. Die historischen Hürden waren beträchtlich: Nach Jahrzehnten der Gewaltherrschaft musste es schwer fallen, juristischen Normen Geltung zu verschaffen und unabhängige Institutionen aufzubauen. Die Attraktivität und der Wohlstand eines freiheitlichen Systems wirkten aber als starker Anreiz für zivilen Wandel. Doch bereits Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin gab zu den liberalen Reformen nur noch Lippenbekenntnisse ab. Mit dem Sturm auf das Weiße Haus 1993 und dem Krieg gegen das abtrünnige Tschetschenien 1994 machte er Gewalt wieder zum Mittel der politischen Auseinandersetzung. Auch blieb der Versuch, Parlament und Gerichte mit Eigenleben zu füllen, bestenfalls halbherzig. An ihre Stelle trat ein Geflecht von Männernetzwerken und informellen Zirkeln, in denen wichtige Entscheidungen auf der Basis von persönlichen Interessen und Loyalitäten getroffen wurden.

Bereits vor der Machtübernahme Wladimir Putins war die institutionelle Ordnung Russlands somit nicht mehr als eine leere Hülle, die der Gesellschaft politische Teilhabe und dem Ausland Demokratie vorgaukelte. Der eigentliche Kern der politischen Ordnung wird seit der Jahrtausendwende durch Begriffe wie „Machtvertikale“ oder „souveräne Demokratie“ verschleiert. Tatsächlich hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Abhängigkeit von einzelnen Personen ständig erhöht, und Institutionen wie die Duma haben endgültig ihre Bedeutung verloren. Wahlen, wo sie noch stattfanden, dienten nur mehr zur Akklamation vorher getroffener Entscheidungen; Politik wurde durch Personenkult und die Vergötzung der Staatsmacht ersetzt. In Russland entscheidet heute der Zugang zum Machthaber über die politische oder wirtschaftliche Zukunft des Einzelnen.

Ein politisches System der Gesetzlosigkeit

Diese Entwicklung wurde möglich, weil es Russland in den neunziger Jahren versäumte, die sowjetischen Sicherheitsapparate aufzulösen oder zu reformieren. Nach dem gescheiterten Putsch von 1991 fielen diese Apparate in eine kurze Schockstarre. Doch bereits Jelzin stützte sich wieder auf die „Machtministerien“. In den zugehörigen Sicherheitsdiensten blieb Gewalt stets eine politische Option der Innen- wie der Außenpolitik. So trug der Status quo in Polizei und Geheimdiensten mit dazu bei, dass das Recht in Russland keine Geltung erlangen konnte. Der Versuch, einen Rechtsstaat aufzubauen, wurde in den neunziger Jahren schließlich aufgegeben. Dadurch sind nicht nur in der Politik, sondern auch in der Ökonomie Gefolgschaft und informelle Praktiken wichtiger geworden als abstrakte Normen und Gesetze.

Die Schutzlosigkeit vor dem Staat prägt das postsowjetische Russland ebenso, wie es die UdSSR prägte. Diese fundamentale Erfahrung betrifft jeden russischen Staatsbürger – vom Obdachlosen bis zum Oligarchen – und auch ausländische Unternehmen, die in Russland investieren. Und dieser Zustand russischer Rechtlosigkeit betrifft auch das Verhältnis zum Westen: So hat ein politisches System, das im Inneren von Gesetzlosigkeit geprägt ist, kaum Anlass, sich in seinen Außenbeziehungen am Völkerrecht zu orientieren – es sei denn, der Normenbruch zöge Konsequenzen nach sich. Bei den Kriegen in Tschetschenien oder Georgien hat die Moskauer Führung allerdings gelernt, dass der Westen nicht in der Lage ist, seinen eigenen Werten Geltung zu verschaffen.

Schließlich muss man begreifen, wie grundsätzlich sich das außenpolitische Denken in Europa und Russland voneinander unterscheidet. Während in Europa nach 1989 das Wilsonsche Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker auf demokratischer Grundlage als Norm akzeptiert wurde, denken Putin und die herrschende Elite Moskaus in Kategorien, die der Großraumlehre Carl Schmitts von 1939 ähneln. Die entscheidende Weichenstellung für dieses Denken fand wiederum in den neunziger Jahren statt: Nach dem Umbruch in Osteuropa und dem Zusammenbruch der UdSSR begann die Moskauer Führung Mitte der neunziger Jahre von den postsowjetischen Staaten als „nahem Ausland“ zu sprechen. Diese Terminologie implizierte, es handele sich hier um einen Raum, den Russland als seine exklusive Einflusssphäre beanspruchen könne, womit – ganz im Schmittschen Sinne – ein Interventionsverbot für fremde Mächte einherginge.

Prestige nur durch Stärke und Rücksichtslosigkeit

Aus der Perspektive des Kremls hat der Westen bereits mit der Aufnahme der baltischen Staaten in die Nato gegen diese Raumordnung verstoßen. Die „orange Revolution“ in der Ukraine im Jahr 2004 wurde von Moskau als weitere Grenzüberschreitung der Vereinigten Staaten und der EU wahrgenommen – ebenso wie der erneute antiautoritäre Umsturz in Kiew vor wenigen Wochen. Überhaupt vermutet Moskau hinter Bürgerbewegungen und Opposition zu Hause wie im „nahen Ausland“ stets den Westen. Auf solche „Interventionen fremder Mächte“ nicht zu reagieren, wäre für den Machthaber und seinen inneren Zirkel ein Zeichen eigener Schwäche. Denn geprägt wurden sie von einer Welt, in der nur Stärke und Rücksichtslosigkeit Prestige einbringen. Und da Moskau glaubt, keine schwerwiegenden Strafen fürchten zu müssen, hat es sich dafür entschieden, der eigenen Vorstellung eines russisch dominierten Raumes im „nahen Ausland“ militärisch Geltung zu verschaffen. Es ist anzunehmen, dass die russische Führung auch über die Ukraine hinaus bereit ist, ihre Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen.

Diejenigen, die in den Jahren der Perestroika und des friedlichen Wandels in Europa groß geworden sind, haben sich gewünscht, dass Russland den Weg der Liberalisierung seiner politischen Ordnung weiter verfolgt. In der historischen Analyse erkennen wir jedoch, dass das schon seit langem nicht mehr der Fall ist. Gorbatschow und seine Mitstreiter waren eine historische Ausnahme. Es ist höchste Zeit, dass Berlin und Brüssel sich mit dem Russland beschäftigen, das uns tatsächlich gegenübertritt, statt mit einem Land, wie wir es gerne sehen würden. Denn Moskau ist nicht länger bereit, die postsowjetische Landkarte Europas zu akzeptieren. Jetzt kommt es darauf an, Strategien zur Eindämmung von Konflikten und Szenarien zur Stabilisierung der europäischen Ordnung zu entwickeln. Dazu gehört die Einsicht, dass es zur Verständigung eines Partners bedarf, der sich überhaupt verständigen will. Wo eine Annäherung nicht möglich ist und die andere Seite auf Expansion setzt, bleibt schließlich nur die Rückkehr zum Prinzip der Eindämmung.

Klare Botschaft oder hilfloses Reagieren?

Deutschland und die Europäische Union sollten die hier skizzierten Realitäten im Verhältnis zu Moskau akzeptieren und ihre Politik danach ausrichten. Dazu bedarf es einer Neudefinition der Grundpfeiler deutscher und europäischer Ostpolitik. An die Stelle eines optimistischen Szenarios sollte ein realistischer Blick auf die Region treten – einschließlich der Gewissheit, dass sich das Krim-Szenario wiederholen kann. Auch pessimistische Prognosen müssen ernstgenommen und Gegenstrategien entwickelt werden. Osteuropa und besonders der postsowjetische Raum werden weiterhin eine Sphäre sein, in der Gewalt ein Mittel der politischen Auseinandersetzung ist. Dies müssen wir berücksichtigen, auch wenn wir es nicht begrüßen und selbst auf Verständigung und Dialog setzen.

Die Staaten Osteuropas nehmen Deutschland als Schutz- und Ordnungsmacht wahr. Deshalb sollten wir eine gründliche Debatte darüber beginnen, worin in diesem Raum eigentlich unsere Ziele, unsere Mittel und unsere Möglichkeiten bestehen. Nur mit einer klaren – und entsprechend klar kommunizierten – Agenda werden Brüssel und Berlin zukünftig etwas erreichen können. Anderenfalls bleibt uns nur das mehr oder weniger hilflose Reagieren, wie wir es aus vergangenen Krisen von Tschetschenien bis Georgien kennen. Das darf nicht der Leitfaden für die Zukunft sein – schließlich geht es um die Sicherheit Europas.

Für einen solchen Realismus ist es von zentraler Bedeutung, das Niveau der Debatte über Osteuropa zu heben. Zu Wort kommen müssen Experten, nicht Lobbyisten. Die Kreml-Mythen vom „faschistischen Putsch“ in der Ukraine, von Russland als Opfer westlicher Politik und von der Bedrohung der ethnischen Russen im postsowjetischen Raum, die auch in der deutschen Öffentlichkeit weit verbreitet sind, können und müssen sachlich widerlegt werden. In den kommenden Monaten wird es daher darum gehen, mit guten Argumenten die Deutungshoheit des Westens herzustellen sowie realistische Perspektiven für eine neue Ostpolitik zu entwickeln, die weitere Annexionen unwahrscheinlicher macht und unsere Sicherheit sowie die unserer Verbündeten erhöht. Zu diesem Zweck wäre es sicherlich hilfreich, wenn Politik und Medien der Osteuropaforschung stärkere Beachtung schenkten.

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