Von Jagel nach Jalalabad

Auf ihre "Response Force" und die europäischen Frontabschnittskommandos sollte die Nato umstandslos verzichten. Doch der Abschied vom Denken des Kalten Krieges fällt dem atlantischen Verteidigungsbündnis noch immer schwer

Kurz hinter Owschlag auf der A7 Richtung Dänemark kann man noch erkennen, wie der Dritte Weltkrieg gedacht war. Da verwandelt sich, wenn man genau hinsieht, über dreieinhalb Kilometer die Autobahn zum Nato-Flugplatz, schnurgeradeaus, keine Büsche, keine Brücken. Beim Rastplatz Lottorf endet an einem diskreten Tor der Rollweg von den Sheltern der 40 Bundeswehr-Tornados in Jagel zu dieser perfekten Reservestartbahn. Der Fliegerhorst Jagel wäre ein Vorrangziel für die erste Welle eines Angriffs des Warschauer Paktes gewesen. Damals kalkulierten die Planer des atlantischen Bündnisses mit hohen Verlusten und bereiteten alles für die Verteidigung vor.

Das war die alte Nato, das wahrscheinlich schlagkräftigste Militärbündnis aller Zeiten, und manche würden heute hinzufügen: der Sieger des Kalten Krieges. Nun ist der Sowjetkommunismus untergegangen, der Warschauer Pakt hat sich aufgelöst, Russlands desolate Streitkräfte stellen auf absehbare Zeit keine Bedrohung dar, aber die Nato existiert weiter, wenn auch voller Selbstzweifel.

Ihre Existenzgrundlage ist dreifach angefochten: erstens durch den Ausfall des alten Supergegners; zweitens durch die Eigenmächtigkeit des größten Nato-Partners Amerika, seine Soldaten weltweit auch ohne den Segen der Bündnisgremien einzusetzen; und drittens durch die Bedrohung einer totalitären islamistischen Weltbewegung, die mit militärischen Mitteln kaum einzudämmen sein dürfte. Alle anderen Sicherheitsgefahren, die inzwischen in den einschlägigen Strategiedokumenten der Vereinigten Staaten, der Nato, der EU und vieler Einzelstaaten zum Katechismus der neuen Weltordnung gehören – Proliferation von ABC-Waffen und Raketentechnik, Regionalkonflikte, failed states, Organisierte Kriminalität, Ressourcenkonflikte, Armuts- und Klimamigration – mögen alles Mögliche begründen, aber kein Militärbündnis wie die Nato.

Ideologie und Selbstaufopferung

Die neue Islamismus-Gefahr bemisst sich nicht nach der Anzahl von Panzerdivisionen oder Bomberstaffeln. Deshalb taucht oft die Vokabel „Asymmetrie“ auf, weil es offenkundig nur geringer materieller Mittel bedarf, um islamische Länder zu destabilisieren und die Gesellschaften des Westens zu terrorisieren. Ideologie und Selbstaufopferung heißen die Waffen dieses organisierten Djihadismus zwischen Maghreb und Jalalabad.

Angesichts des rapiden Wandels in der Welt verändert sich die Nato seit 1990 erstaunlich langsam. Grandios erfolgreich ist das Bündnis vor allem da, wo es nicht um militärische Hardware, sondern um die politische Software geht. Wie ein Notar registriert die transatlantische Staatengemeinschaft ein ehemaliges kommunistisches Land nach dem anderen als neues Mitglied im Club „Demokratie und Marktwirtschaft“: Polen, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien, Tschechien, die Slowakei, Slowenien. Und die Warteliste ist noch lang: Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Serbien, Albanien, die Ukraine, vielleicht eines Tages Georgien.

Der Integration dieses neuen Osteuropas in die alte Gemeinschaft des freien Westens dient auch die auf dem Prager Gipfel 2002 beschlossene Aufstellung einer 25.000 Mann starken Nato Response Force (NRF). Auf dem Gipfeltreffen in Riga 2006 wurde die volle Einsatzbereitschaft dieser rotierenden, multinationalen Krisenreaktionstruppe festgestellt. Das hört sich nach einem großen Fortschritt an.

Wo die Truppen wirklich gebraucht werden

Tatsächlich jedoch stellt die NRF für die Nato eher ein Problem als eine Lösung dar. Sie wäre nicht wirklich schnell einsatzfähig, weil bis zu einem Drittel der von den Mitgliedsstaaten bereitzustellenden Fähigkeiten regelmäßig vakant bleiben. Ihr fehlt auch ein politisches Einsatzszenario, weil die Nato kaum von sich aus über massive Blitz-Interventionen irgendwo auf der Welt entscheiden dürfte und, im Gegenteil, sich eher dagegen wehren müsste, als toolbox der Vereinigten Staaten herzuhalten, Stichwort: coalition of the willing (Antiterror-Koalition OEF, Irak-Koalition OIF). Und schließlich führt die Nato seit Jahren UN-mandatierte Bündniskräfte in realen großen Stabilisierungsmissionen, zurzeit im Kosovo (KFOR: 16.000 Soldaten) und in Afghanistan (ISAF: 35.000); da werden die Truppen gebraucht. Käme es aber in irgendeiner gegenwärtig schwer vorstellbaren Situation zu einem massiven militärischen Angriff auf das Bündnis, würde ganz gewiss die ganze Nato all ihre verfügbaren Kräfte zur Verteidigung einsetzen und nicht ein Stand-by-Potpourri von „Krisenreaktions“-Fähigkeiten nach Proporzprinzip.

So schrecklich es für die Identitätssuche der Allianz sein mag, das zuzugeben: Die NRF ist für jeden praktischen Zweck so überflüssig wie das fünfte Rad am Wagen. Sie könnte komplett im „Nice-try“-Archiv der Weltgeschichte verschwinden, vielleicht ersetzt durch einen erweiterten Plan für gemeinsame Übungen der Bündnisstreitkräfte unter besonderer Berücksichtigung des Nachholbedarfs der osteuropäischen Partner. Eingesetzt wurden einzelne Elemente der NRF bisher allein zur Unterstützung von Feuerwehr und Technischem Hilfswerk bei Überschwemmungen (USA), Waldbränden (Griechenland) und Erdbeben (Pakistan).

Gegenwärtig stellt Deutschland für die NRF 10 (Januar bis Juni 2008) 5.700 Soldaten ab, fertig ausgebildet, durchgeimpft, mit Urlaubssperre versehen – und für keinen anderen Zweck zu haben. Gleichzeitig stehen 7.000 Bundeswehrsoldaten im wirklichen Auslandseinsatz bei ISAF und KFOR, in Bosnien-Herzegowina, vor der libanesischen Küste und am Horn von Afrika, im Sudan und in Georgien. Dass die NRF eine gut gemeinte Fehlkonstruktion ist, haben inzwischen, vor dem Hintergrund der niedrigen „Befüllungsquote“, die Generalstabschefs der Nato-Mitgliedsstaaten selbst eingeräumt. Sie schlagen jetzt, gesichtswahrend, eine „abgestufte Bereitschaft“ vor, die deutlich weniger Kräfte bindet.

Führung straffen, Mittel freimachen

Noch einmal zu verändern wäre auch die Nato-Kommandostruktur, die nach dem Ende der Blockkonfrontation zwar schon schlanker geworden ist, aber unterhalb des Nato-Oberbefehlshabers SACEUR in Mons (Belgien) statt früher drei europäische Abschnittskommandos immer noch zwei Hauptquartiere für den Norden (Brunssum/ Niederlande) und den Süden (Neapel) vorsieht, dazu jeweils zwei separate Führungsstäbe für Luft-, See- und Landstreitkräfte in Ramstein, Northwood (Großbritannien), Heidelberg, Izmir, Neapel und Madrid. Plus ein Hauptquartier ohne Unterbau in Lissabon. Das klingt ungefähr so effektiv, wie es nach Einschätzung beteiligter Nato-Militärs wohl auch ist.

Ziel der Neuordnung kann deshalb nur sein, die Führung der tatsächlich stattfindenden Nato-Einsätze zu straffen und Mittel für eine stärkere Spezialisierung freizumachen. Eine Idee der Nato-Planer besteht offenbar in einer regionalen Zuständigkeitsverteilung jenseits der Vergabe von Frontabschnitten entlang des alten „Eisernen Vorhangs“ (Nord, Mitte, Süd). Brunssum könnte für Asien (wie heute: Afghanistan) zuständig sein, Neapel für Europa (wie heute: Kosovo) und Lissabon für Afrika (bisher: Unterstützung der Afrikanischen Union im Sudan). Dies entspräche ansatzweise dem Konzept der fünf US-Regionalkommandos (Pazifik, Zentralasien, Europa/Afrika, Nordamerika, Südamerika), die jeweils eine ganze Weltregion im Blick haben. Damit würde die Nato als Bündnis gegenüber ihrem größten Mitglied in gewisser Weise „konkurrenzfähig“ – was die EU bis heute nicht ist.

Startbahnen bauen war einfacher

Die Nato bleibt für alle Wechselfälle der näheren Zukunft die Versicherung des Westens gegen Aggression, Krisen und Krieg, egal von wo solche Gefahren ausgehen. „Stabilität“ könnte die neue Doktrin heißen. Dafür ist die Allianz mit insgesamt 3,8 Millionen Soldaten und Militärausgaben in Höhe von 582 Milliarden Euro allemal stark genug. Denn gegen den kämpferischen Islamismus als totalitäre Ideologie des 21. Jahrhunderts ist militärische Stärke gewiss besser als nichts, aber überwunden wird diese Gefahr eher kulturell und politisch als mit einem regelrechten „Krieg“ gegen den Terror. Wahrscheinlich war es einfacher, in Jagel eine zweite Startbahn zu mobilisieren, als es sein wird, in Jalalabad eine zweite Aufklärung in Gang zu setzen.

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