Vom verlorenen Fortschritt

Bald nach 1968 kamen dem sozialliberalen Projekt die liberalen Geister abhanden. Die Folgen sind noch immer zu spüren: Zwischen der FDP und den rot-grünen Ideen besteht heute kaum eine Brücke - zum Schaden der progressiven Sache

Die Bundesrepublik der Gegenwart sieht auf das Jahr 1968 mit Unbehagen zurück – und das ist ein Problem für progressive Kräfte. Denn die große Welle der Liberalisierung in den sechziger Jahren gehört zu ihren Leistungen. Dazu zählte der Aufbruch einer neuen Generation, vor allem Bildungsoptimismus und Hochschulausbau, aber auch die Aufkündigung des verklemmten Herumdrucksens um die Nazi-Relikte, die Reform des Strafrechts, die Entdeckung bürgerrechtlicher Ideen aus Amerika und ihrer politischen Ausdrucksformen, etwa das „Free Speech Movement“, die Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts der Völker in der Entkolonialisierung, die Gegnerschaft zum Vietnamkrieg und die Entspannungspolitik zwischen Ost und West. Diese Welle mündete in das sozialliberale Projekt, dem Willy Brandt mit seinem „mehr Demokratie wagen“ Ausdruck verlieh und das die Anerkennung der polnischen Westgrenze durchsetzte, für die er im Jahr 1971 den Friedensnobelpreis erhielt.

Dennoch blicken fast alle politischen Strömungen heute missmutig auf jene Zeit zurück. Wer sich heute noch vorbehaltlos mit 1968 identifiziert, sieht sich oft als Verlierer der Geschichte. Es sind wenige exotisch unzeitgemäß anmutende und orakelhaft sprechende Altlinke. Viele andere, die auch dabei waren, haben ihre persönliche Revision vollzogen und sich von der eigenen bewegten Vergangenheit distanziert. Sie lassen publizistischen Furor gegen „kulturrevolutionäre“ Fantasmen walten, wie es in dieser Saison Götz Aly tut, der die Studentenbewegung mit der in Deutschland größtmöglichen Verdammung, nämlich der Geistesverwandtschaft mit Nazis belegt. Dieser geballte Unsinn ist nur noch als Teufelsaustreibung in eigener Sache zu verstehen. Aly präsentiert sich als gebranntes Kind, als eines Besseren Belehrter, der anderen zur Aufklärung über linke „Spinnereien“ verhilft. Dabei knöpft er sich noch einmal vor, was die konservativen Gegner der „neuen Linken“ von Anfang an attackierten – den Gesinnungshochmut der Bewegung.

Auch das zeigt: Der kühle Hohn des kämpfenden Konservatismus ist nach 1968 intellektuell stilprägend weit über seine Lagergrenzen hinaus geworden. Wer im liberalen Bildungsbürgertum der sechziger Jahre noch dialogbereites Verständnis für die Anliegen einer rebellischen Jugend zeigte, fühlte sich durch die zunehmende Intoleranz dogmatischer Marxisten betrogen, war durch den Terrorismus schockiert und sah sich durch die stumpfsinnig intriganten Ideologiekämpfe und weltanschaulichen Verschanzungen der Linken insgesamt in seiner Wende zum konservativ-liberalen Bündnis bestätigt.

Wer sich als politikskeptischer Wirtschaftsliberaler nach 1968 wie ein Dissident empfand, mit resignierendem Kopfschütteln auf die hohen Lohnforderungen der Gewerkschaften und die Einführung der Mitbestimmung reagierte, Ölpreiskrise und Rezession als unheilvolles Signum der Zeit erfuhr, betrachtete die politische Ankunft des Neoliberalismus in der Bundesrepublik Anfang der achtziger Jahre wie die Renaissance ordnungspolitischer Vernunft nach dem finsteren Mittelalter sozialistischen Aberglaubens, leistungsfeindlicher Verteilungsscholastik und inquisitorischer Verfolgung der wenigen ökonomisch denkenden Illuminaten.

Die Zeit nach 1968 hat keinen guten Ruf

Wer sich als Konservativer von den radikallibertären Ideen von 1968 und der emotionalisierten Traditionskritik bis auf den Kern seines Anstandsbedürfnisses, seines religiösen Bekenntnisses und Autoritätsglaubens provoziert sah, meinte mit Blick auf Radikalenerlass und Antiterrorgesetzgebung, dass allenfalls das Schlimmste verhütet worden sei, Deutschland im übrigen irreparablen Schaden an seiner geistigen Identität genommen habe und noch immer von linksliberaler Meinungsmacht dominiert werde.

Wer schließlich unter dem SED-Regime die polizeistaatlich herrschende, jede individuelle Regung erdrückende Alltagsdiktatur des real existierenden Sozialismus erlebt und seine politische Orientierung aus der existenziell befreienden bürgerlichen Revolution von 1989 bezogen hat, schaut, mit vorsichtiger Bejahung des national geeinten Landes, vor allem befremdet und amüsiert auf die Teil- und Scheinprobleme jener westdeutschen Midlife-Crisis, ist erleichtert, solchen wirklichkeitsfremden ideologischen Ballast wie den der Achtundsechiger nicht mit sich herumtragen zu müssen.

Alles in allem genommen hat die Zeit nach 1968 einen denkbar schlechten Leumund. Das ist keine Generationenfrage. Denn auch Jüngere, die das Jahrzehnt als Kinder oder gar nicht mehr erlebt haben, schließen sich im politischen Urteil – mag auch popkulturell zeitweise ein ironischer Retrochic des schlechten Geschmacks mit Plüsch, Polyesterhemd und Hammondorgel in Mode gekommen sein – ganz überwiegend einer der skizzierten Abwehrhaltungen an. Die siebziger Jahre stehen demnach für deutschlandpolitischen Stillstand, gesellschaftspolitisches Scheitern, administrative Planungshybris, ideologischen Irrgang. Sie waren nicht mehr normal. Das ist die vorherrschende Lesart.

Repräsentativ für das deutsche Geschichtsbild der Gegenwart ist die Normalisierungsgeschichte, die den fünfziger Jahren Wiederaufbau, Integration und Stabilisierung, den Sechzigern die Verwestlichung, den Achtzigern Aufbruch in die Globalisierung und Ankunft im vereinten Deutschland zugutehält. Die siebziger Jahre aber stehen für verkrusteten Wohlfahrtsstaat und verfehlte Sozialpolitik. Sie gelten demnach als der tote Ast im blühenden Baum der „geglückten Demokratie“ (Edgar Wolfrum).

Verunglückte das sozialliberale Projekt?

Das hat politische Folgen. Denn damit gilt, ausgesprochen oder nicht, auch das sozialliberale Projekt dieser Jahre als verunglückt. Konservative schreiben sich derweil das hohe Prestige dafür zu, sie seien es gewesen, die Deutschland in der liberalen westlichen Demokratie beheimatet hätten. So biegt man sich sein Selbstbild, um ex post auf der Gewinnerseite zu stehen. Und viele Liberale haben sich von dieser Mär um den Finger wickeln lassen. Ankunft im „Westen“ aber heißt, dass die gesellschaftliche Individualisierung, die soziale und räumliche Mobilität der Menschen zugenommen haben, dass Rollenmuster wie die Trennung von weiblichen und männlichen Lebensläufen flüssiger geworden sind, Bildung und Beruf freier gewählt werden können, dass neue soziale Bewegungen einen größeren Einfluss auf die politische Willensbildung ausüben und die staatlichen Institutionen einen stärkeren Rechtfertigungsdruck durch eine politisch aktivierbare Öffentlichkeit verspüren. All das war erst möglich, als die institutionelle Macht der deutschen Konservativen erst einmal gebrochen war. Den Ideen und Aktionen von 1968 ist ein Gutteil dieser Demokratisierung und Egalitarisierung der Gesellschaft zuzurechnen. Gerade für Liberaldemokraten und liberale Sozialdemokraten wäre es höchste Zeit, diesen Teil der sechziger Jahre wieder offensiv für sich zu entdecken. Aber woher rührt eigentlich die Scheu, die große Erzählung von der Emanzipation aus unwürdigen Abhängigkeiten wieder aufzunehmen? Eine Rolle spielt die Attraktivität des coolen Konservatismus, der das liberale Bürgertum in seine Umlaufbahn gebracht hat.

Wie die Konservativen flexibel wurden

Die Leistung der neuen, moderneren Konservativen nach 1968, zu denen Heiner Geißler und Kurt Biedenkopf im Verein mit politischen Philosophen wie Hermann Lübbe und Robert Spaemann zählen, liegt vor allem darin, dass sie, aus der Opposition heraus, sich selbst, dass sie den deutschen Konservatismus flexibilisiert haben. Das genau ist ihr Anteil an der Westverschiebung des deutschen politischen Selbstbewusstseins. Modell standen dabei die angelsächsischen Formen eines vor allem habituell durch Überlegenheit, Distinktion, Common Sense, Realismus und Alltagspragmatik bestimmten Konservativseins. Bloß keine „Ideologie“, nur kein „Moralismus“, heißt die Losung. Den neuen deutschen Konservatismus nach 1968 motiviert die Furcht vor dem normativen Verschleiß der Politik durch überzogene moralische und materielle Ansprüche.

Ein Lehrbeispiel, wie die progressive Bewegung der sechziger Jahre kippte, wie dogmatische Randgruppen an den Universitäten wichtige sozialdemokratische Akteure dieser Bewegung ausschlossen, sind die Weltanschauungsschlachten und Krawallinszenierungen, denen Richard „Rix“ Löwenthal am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin ausgesetzt war. Aus dem Widerstand in die englische Emigration geflohen und von dort mit der Erfahrung angelsächsischer demokratischer Tugenden nach Deutschland zurückgekehrt, war Löwenthal ein liberaler Sozialdemokrat, der mit Nachdruck unterstützte, dass die deutsche Universität kein „Tummelplatz“ Privilegierter mehr sein solle, und der die neue Ostpolitik aktiv begleitete und begründete. Zugleich arbeitete er die prinzipiellen Gegensätze zur kommunistischen Parteidiktatur heraus. Die Konfrontation mit politisch unerfahrenen Studenten, die die Tatsachen von den Füßen auf den Kopf stellten, mit selbstgewisser Geste die Gewaltherrschaft in China verteidigten und die parlamentarische Demokratie als Repression verunglimpften, brachte ihn in scharfe Opposition zu „68“ und durch die gemeinsame Abwehr der Radikalen in eine falsche Allianz mit konservativen Professoren, denen Demokratisierung schon immer ein Graus war. Dieser Riss ist nicht mehr geheilt. Den Achtundsechzigern sind zu viele liberale Geister verloren gegangen, und dieser Verlust war der Anfang vom Ende des sozialliberalen Projekts.

Keine Brücke zwischen FDP und Rot-Grün?

Vierzig Jahre später sind die Folgen noch immer zu spüren, dramatischer sogar in einem Fünf-Parteien-Spektrum, in dem zwischen der FDP und den rot-grünen Ideen kaum eine Brücke besteht. Diese Einbuße an progressiven Bündnismöglichkeiten ist letztlich zum Schaden aller, die das Bildungsversprechen der sechziger Jahre, die Gleichberechtigung, die Gesellschaft der gleichen Chancen und Möglichkeiten durch eine die Menschen unterstützende Sozialpolitik nicht aus den Augen verloren haben.

Willy Brandt trat an für das „moderne Deutschland“, als er 1969 in den Wahlkampf zog. Eine sozialliberale Wiederaneignung dieser Emanzipationsgeschichte hätte großes Potenzial. Wem der Weg zurück in die altbundesrepublikanischen Streitereien um 1968 dennoch als Sackgasse erscheint, kann immerhin den Blick auf die internationale Dimension des Datums heben. Von der amerikanischen Studentenbewegung gegen den Rassismus und gegen den Irrsinn von Vietnam über den westdeutschen Protest gegen autoritäre Relikte im Bildungs- und Justizsystem bis zu den Studenten, die im Oktober 1967 in Prag für „Mehr Licht!“ demonstrierten und im Frühjahr 1968 in Polen gegen Zensur und Unterdrückung auf die Straße gingen, gibt es eine verbindende Linie, die in die Zukunft weist.

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