Hier stirbt die Freiheit

zu Alexander Gauland, Der Feind sitzt in den Zentralen, Berliner Republik 4/2011

Lieber Alexander Gauland, Sie wünschen sich einen Burg­frieden. Wo sich aber Rechts- und Linksetatisten verbrüdern, da wird aus dem Fest rasch eine Begräbnisfeier. Trauerreden werden nicht gehalten. Triumph bestimmt die Szene – und die Verstorbene wird verachtet. „Hier starb die Freiheit“, steht auf dem Grabstein.

Für Demokraten klingt Ihre Offerte wie die Einladung zum Tanz der Vampire. Für Sozialdemokraten hat das Angebot noch einen besonders konkreten Geschichtsbezug. Ich kann kaum glauben, dass Sie ernstlich Bismarck und die Sozialdemokratie in ein gemeinsames historisches Lager rücken. Der preußisch-monarchische Exekutor der Sozialistengesetze „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, mit Stimmenmehrheit der Konservativen und Nationalliberalen im Reichstag beschlossen, und die exilierten, verfolgten, verhafteten, mundtot gemachten Sozialdemokraten Seite an Seite gegen den „entfesselten Markt“? Das ist wahrhaft eine invention of tradition zu aktuellem Nutzen. Bismarck ging es um die Stabi­lisierung der Ungleichheit und die Befestigung des Klassen­staates. Sozialdemokraten waren für ihn „Reichsfeinde“. Die Sozialdemokratie kämpfte für die Durchsetzung gleicher Bürgerrechte.

Was ist eigentlich mit unseren Konservativen los, lieber Alexander Gauland? Wie kann, wer sich behutsamen Umgang mit der historischen Wahrheit zugute hält, so geschichts-, auch zeitgeschichtsvergessen sein? Jahrzehntelang hängen nun Kon­servative mit Wirtschaftsliberalen zusammen. Das war nicht so sehr eine parteipolitisch-taktische, sondern vor allem eine intellektuelle Formation. Da waren viel Zorn und große gemeinsame Affekte im Spiel. Seit den siebziger Jahren sind unzählige Polemiken gegen die Umverteilung von Reichtum und gegen die soziale Sicherheit auf Deutschland niedergeprasselt. Nicht nur Amerikaner und Briten, die hierzulande traditionell gern als Prügelknaben herangezogen werden, haben den wilden Konkurrenzindividualismus gepredigt. Auch die neuen Konservativen der alten Bundesrepublik hatten ihren ganz eigenen antisozialstaatlichen Ideologiestil; „Wärmestuben“ und „Hängematten“ gehörten noch zur harmloseren begrifflichen Ausstattung. Auch von „Schmarotzern“ und von einem „System der fürsorglichen Verweichlichung“ war die Rede.

Sind diese liberalkonservativen Wutattacken wirklich so schnell rückstandsfrei vergessen? Lange her sind sie jedenfalls nicht. Noch als der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. Juni 2007 – ein gutes Jahr vor dem Zusammenbruch von Lehman Brothers – einen Grundsatzartikel veröffentlichte und den Neoliberalismus als eine „Ideologie ohne Erdung“ bezeichnete, gab es von konservativer Seite nur Spott. „Wo das Recht auf dem Rückzug ist, tritt nicht die Freiheit auf den Platz, sondern das Privileg. Das weiß jeder, der die Härte erlebt hat, ohne Begünstigung seinen Weg zu gehen“, schrieb Beck und verteidigte die emanzipatorische Bedeutung des Sozialstaates. Er warnte vor wachsender Un­gleich­heit in einer Gesellschaft, in der die Schwächeren nur noch alimentiert werden, und vor entkoppelten Finanz­märk­ten, auf denen „nicht Leistung entscheidet, sondern der schnelle Gelegenheitsgewinn“. Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit sah Beck mit Füßen getreten, wo Arbeit mit einem Armutslohn abgegolten wird, während das Kapital ultimativ Maximal­ren­diten fordert.

Frank Schirrmacher brauchte bis in den Sommer 2011, um zu folgern, dass „die Linke“ recht habe. Die Linke? Schirr­ma­cher konnte seine Gedanken aus der Feder eines Sozialdemo­kraten schon vier Jahre zuvor im eigenen Blatt lesen. Er hat es sicher vergessen. Wer die Polemiken und Fronten der vergangenen Jahre Revue passieren lässt, dem mutet es wie eine seltsame Ironie an, dass ausgerechnet die viel geschmähte „Agenda-SPD“ wieder eine positive, reformerische und emphatische Begründung für die Sozialpolitik artikuliert und mit dem Begriff des „vorsorgenden Sozialstaates“ im Hamburger Grund­satzprogramm verankert hat. Und ausgerechnet der als Patri­arch verschriene Kurt Beck hat dabei ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit formuliert, die den Anspruch gleicher Rechte aller Bürger nicht der Marktwillkür preis gibt. Lieber Alexander Gauland, lesen Sie das doch mal nach. Die Lektüre lohnt sich.

Die Sozialdemokratie ist ohne einen emphatischen Begriff der Freiheit nicht vorstellbar. Freiheit ist nicht eintauschbar gegen und nicht austauschbar mit den so genannten „heiligen Gütern“ des herkömmlichen Konservatismus. „Die Nation“ hat nichts Heiliges. „Der Staat“ ist kein Hoffnungswert. Er ist gar kein Wert an sich, sondern, wie die Sekundärtugenden, ein profanes Sekundärorgan, das sich stets durch gute Politik rechtfertigen muss. Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, diese drei, sie leiten die progressive Idee. «

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Ver­fassers wieder

zurück zur Ausgabe