Selbstmord durch Aufstieg?

Die Losung vom "Aufstieg durch Bildung" gehört zum Kernbestand der sozialdemokratischen Kampfbegriffe. Doch mit dieser Orientierung geht die nicht intendierte Abwertung aller nicht (akademisch) Gebildeten einher - mit fataler Wirkung für die SPD

Bei der vergangenen Bundestagswahl konnte die SPD ihre klassische Klientel – Arbeiter, Angestellte und Gewerkschaftsmitglieder – nicht mobilisieren. Gerade einmal 27 Prozent der sozialdemokratischen Wähler waren Arbeiter (Union: 36 Prozent) und 26 Prozent Angestellte (Union: 40 Prozent). Die vergangenen Landtagswahlen zeigten ein ähnliches Bild. Weil auch die AfD in den sozialdemokratischen Traditionsmilieus überdurchschnittlich gut abschneidet, hat das Problem sinkender Mobilisierungsfähigkeit nochmals an Bedeutung gewonnen. Viel spricht dafür, dass die Abwendung der Stammwähler keine vorübergehende Erscheinung ist, sondern Ausdruck eines tiefen Empfindens, dass die SPD die Sorgen der „einfachen Leute“ nicht mehr versteht, weil sie sich anderen Wählerschichten zugewandt hat. Diese Wahrnehmung ist zu einem großen Teil eine nicht-intendierte Folge der Überbewertung formaler, akademischer Bildungsabschlüsse und einer Geringschätzung nicht-akademischer Abschlüsse. Diese Haltung mag für konservative, liberale oder postmaterialistische Parteien kein Problem sein. Für die Sozialdemokratie grenzt ein solches Denken an politischen Selbstmord. Wie konnte es soweit kommen?

Spätestens mit dem Godesberger Programm 1959 war klar, dass die SPD mehr sein wollte als eine Arbeiterpartei. Die deutsche Sozialdemokratie begann, sich gegenüber anderen Schichten zu öffnen. Dieser Schritt war nicht zuletzt angesichts der sich abzeichnenden Entwicklung von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft überfällig. Doch auch wenn der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Industriearbeiterschaft tendenziell sinkt und der Prozentsatz akademisch ausgebildeter Arbeitskräfte steigt, führt diese Entwicklung längst nicht zu einer Umkehrung des Verhältnisses von beruflich zu akademisch ausgebildeten Erwerbstätigen. Dafür sorgen schon die hohen Studienabbrecherquoten von knapp 30 Prozent.

Der Rückgang des Anteils der Industriearbeiterschaft führte nicht dazu, dass es keine „kleinen Leute“ mehr gibt, sondern dass die nicht akademisch Ausgebildeten vor allem im weniger gewerkschaftlich organisierten Dienstleistungsbereich Arbeit fanden. Doch nur, weil diesen Erwerbstätigen der Betriebsrat oder die Gewerkschaft fehlt, müssen sie für die SPD keine verlorene Klientel darstellen. Im Gegenteil: Hier ist die SPD als „Schutzmacht der kleinen Leute“ besonders gefordert, hier liegt für sie eine neue Herausforderung. Hier „stinkt“ es gelegentlich und hier haben viele Menschen politische Interessenvertretung besonders nötig.

Doch die SPD hat bereits in den späten sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begonnen, sich kulturell, habituell, organisationsstrukturell und letztlich politisch den Akademikern zuzuwenden. Denjenigen, die „aufsteigen“ wollen, die selbstreflexiv und wortgewandt sind. Die SPD hat sich erneuert – und selbstakademisiert. Dabei geriet die Losung vom „Aufstieg durch Bildung“ zu einem der sozialdemokratischen Kampfbegriffe schlechthin. Leider war dabei viel zu selten der Aufstieg zum Meister gemeint, also zu einem Abschluss, der dem Absolventen die Eintrittskarte in die Selbständigkeit gab, sondern der Aufstieg zum Abitur, mindestens jedoch zur „Hochschulzugangsberechtigung“.

Wohin soll ein Zahntechniker denn aufsteigen?

Doch mit der politischen Floskel vom „Aufstieg durch Bildung“ ging eine nicht intendierte negative Wertung, eine implizierte Diskriminierung einher – mit fatalen Auswirkungen. Denn wie müssen sich Menschen wohl fühlen, wenn ihnen die eigentliche politische Interessenvertretung sagt, dass sie im Leben so richtig nur dann satisfaktionsfähig werden können, wenn sie studieren? Welchen Eindruck hinterlässt bei Druckern und Zahntechnikern, bei Versicherungskaufleuten und Erziehern die Formel des „Aufstiegs durch Bildung“? Ist es nicht denkbar, dass ein Absolvent der beruflichen Bildung es durchaus zu etwas gebracht hat? Wohin soll der Aufstieg eines Zahntechnikers führen? Zum Zahnarzt?

Noch drastischer dürfte sich das Gefühl unzureichender Satisfaktionsfähigkeit bei den Alterskohorten ausbreiten, die für ein Studium bereits zu alt sind und denen auch kein zweiter Bildungsweg mehr offen steht. Wer älter als – sagen wir – 35 Jahre ist und ein Problem hat, der hat dann seine Chance zum Aufstieg nicht genutzt. Er oder sie ist dann selbst Schuld an der eigenen Situation.

Diese Geringschätzung von nicht-akademischer oder haptischer und übrigens auch sozialer Arbeit wird von der SPD immer weiter vorangetrieben. In ihrer Ablehnung der Hauptschule, der Verwissenschaftlichung nicht nur der erzieherischen Berufe, der Steigerung der Studienanfängerquoten und nicht zuletzt durch die Bestrebungen, den Hochschulzugang immer einfacher zu gestalten, kommt deutlich zum Ausdruck, dass sie eine Akademikerpartei geworden ist. Ihre Zuwendung zum Akademischen spiegelt sich auch in ihrer Mitgliederstruktur und noch stärker in den parteiinternen Diskursen der aktiven Mitglieder und Mandatsträger wider, die auf Nichtakademiker abschreckend wirken.

So sägt die SPD an ihren historischen Wurzeln

Dabei spielt der „Aufstieg durch Bildung“ eine immer größere Rolle. Fiel das Wort „Aufstieg“ in den Wahlprogrammen der SPD zu den Bundestagswahlen 1998, 2002 und 2005 nur ein einziges Mal, wurde es im Wahlprogramm 2009 bereits fünfmal gebraucht, um dann im vergangenen Wahlprogramm 17 Mal im Kontext von Bildungsmobilität gebraucht zu werden. Von sportlichen Analogien abgesehen, bei denen ein Aufstieg in eine höhere Liga immer auch mit einem Abstieg anderer verbunden ist, stellt sich die Frage nach dem Sinn und den Folgen des Aufstiegs.

Die Argumentation, wer studiert, ist weniger gefährdet arbeitslos zu werden, hat ein höheres Einkommen, ein längeres Leben und so weiter, kann rein logisch betrachtet nur bis zu einem gewissen Grad für zutreffend gehalten werden, denn individuelle und kollektive Rationalität sind nun mal etwas Verschiedenes. Bereits jetzt machen unterschiedliche Arbeitsmarktprognosen darauf aufmerksam, dass der zukünftige Fachkräftemangel eher nicht-akademischer Natur sein wird. Auch ein Blick nach Europa hilft zu verstehen, warum Länder mit niedrigen Akademikerquoten und einem funktionierenden System der (dualen) Berufsausbildung wie Deutschland, Österreich oder die Schweiz recht niedrige Arbeitslosenquoten zu verzeichnen haben.

Der Run auf das Gymnasium und die Hochschulen bringt Anpassungsreaktionen der etablierten Mittelschicht mit sich. Die Sorge, dass die Bezugsgrundschule nicht gut genug und das Gymnasium zu profillos ist oder die gewählte Hochschule bei Personalchefs nicht über einen exzellenten Ruf verfügt, führt zu verunsicherten Eltern, die das Heil ihrer Kinder immer stärker auf privaten Schulen und Hochschulen sehen. Aufstieg ist eben nicht gleich Aufstieg, solange dem Menschen das Gefühl für Distinktion nicht abhandengekommen ist.

So sägt die SPD nicht nur an ihren historischen Wurzeln. Damit könnte sie vielleicht noch leben. Durch die Nichtbeachtung ihres Markenkerns verkleinert sie leider auch die Anzahl potenzieller Wähler ganz erheblich und überlässt diese AfD und Linkspartei. Überdies scheint die Rechnung nicht aufzugehen, dass sich die Positionierung der SPD als Partei der Aufsteiger für sie auszahlt. Dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, galt früher als eine sozialdemokratische Binsenweisheit. Wenn sich nun die gesellschaftlich Aufgestiegenen gemäß ihrer Interessen als Wohneigentümer, Aktienbesitzer und Statuswahrer orientieren und dabei andere Parteien für geeigneter halten, ihre (neuen) Interessen zu vertreten, dürfte dies eigentlich nicht verwundern. Die Hoffnung, dass BAföG-Empfänger der SPD als Erfinder dieses Aufstiegsinstruments in ewiger Dankbarkeit verbunden bleiben, erwies sich als trügerisch. Auch scheint für die fundamentale Konfliktlinie von Kapital und Arbeit, für die Frage, wie der gesellschaftliche Reichtum in diesem Land verteilt wird, das Interesse verlorengegangen zu sein. Stattdessen geht es um die unbedingte Gleichstellung jeglicher denkbarer Minderheiten. Mit der Lebenswelt der Mehrheitsgesellschaft, mit ihren Sorgen und Nöten oder einfach nur ihren Interessen hat dies wenig zu tun. Mit den Interessen prekär Beschäftigter, der „kleinen Leute“, schon gar nicht.

Julian Nida-Rümelin hat in seiner Kritik am Akademisierungswahn deutlich gemacht, welche Folgen die blinde, durch inhaltlich falsche OECD-Maßgaben gestützte Steigerung der Akademikerquote für das deutsche Bildungssystem und mittelfristig für die Fachkräftebasis hat. Leider hat diese Kritik nicht zu einer entsprechenden Diskussion innerhalb der SPD geführt. Stattdessen wird die „fehlende Bildungsgerechtigkeit“ in Deutschland einseitig am mangelnden Zugang von Arbeiterkindern zum Studium festgemacht.

Gilt eine Optikerin weniger als ein Germanist?

Diese Haltung kann nur derjenige einnehmen, der den Beruf des Optikers, des Versicherungskaufmanns, des Erziehers oder des Goldschmiedes geringer schätzt als den des Germanisten und Archäologen. Die Wissensgesellschaft und die digitale Wirtschaft verlangen qualifizierte Mitarbeiter, sie verlangen nicht notwendigerweise Bachelor-Absolventen. Dass Hochschulen, die zugleich Nutznießer und Leidtragende des Akademisierungswahns sind, meinen, die Verwissenschaftlichung ganzer Wirtschafts- und Lebensbereiche kenne keine Grenzen mehr und jede noch so abseitige oder berufspraktische Disziplin sei in Curricular zu pressen, führt zu dem aberwitzigen Angebot von 17 000 Studiengängen in Deutschland. Ob ein Absolvent des Bachelorstudiengangs „Nachhaltiges Rasenmanagement“ (HS Osnabrück) auf Dauer bessere Karten hat als die Absolventen vergleichbarer beruflicher Ausbildungen, kann bezweifelt werden. Falls die Eltern des BA-Absolventen aber Nicht-Akademiker sind, hätten wir zumindest nach sozialdemokratischer und OECD-Lesart einen Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit geleistet. Das kann und sollte nicht unsere politische Motivation sein.

Hinzu kommt die Herausforderung der Digitalisierung, die erheblichen Einfluss auf die Arbeitswelt von morgen haben wird: Die Wahrscheinlichkeit, dass Nicht- und Geringqualifizierte Opfer von Automatisierungsmaßnahmen werden, steigt. Rationalisierungsgefährdet sind vor allem Tätigkeiten, bei denen Präzision und Routine wesentliche Faktoren darstellen. Diese Arten von Tätigkeiten sind jedoch nicht – wie landläufig angenommen – auf Berufe mit geringen Qualifikationserfordernissen beschränkt. Auch Steuerberater oder Chirurgen üben Tätigkeiten aus, die potenziell von Maschinen besser, präziser und kostengünstiger ausgeübt werden können. Die formale Qualifikation wird immer stärker an Bedeutung verlieren.

Sprecht mehr mit »kleinen Leuten« als über sie!

Will die Sozialdemokratie den 20-Prozent-Turm dauerhaft verlassen, muss sie sich ändern. Sie muss sich an ihren Markenkern erinnern und sie muss die – betriebswirtschaftlich gesprochen – Probleme ihrer Kunden lösen. Diese Probleme finden im Hier und Jetzt statt und lassen sich nicht durch zunehmende Akademisierung lösen.

Die SPD sollte daher ihr Verhältnis zur beruflichen Bildung klären und das duale System als das Instrument zur Verhinderung von Jugendarbeitslosigkeit begreifen. Wir sollten für den Ausbau dieses Systems kämpfen und den praxisfernen Ratschlägen der OECD eine Absage erteilen. Wir müssen deutlich machen, dass auch Nicht-Akademiker ein erfolgreiches und erfülltes Leben führen können. Und wir müssen aufhören, die besten Absolventen der beruflichen Bildung durch „Aufstiegsstipendien“ zu Akademikern machen zu wollen. Die berufliche Bildung ist kein „Trampelpfad“ und die hochschulische Bildung nicht der „Königsweg“. Wir sollten die Durchlässigkeit des Bildungssystems in alle Richtungen verstehen. Dabei müssen wir deutlich machen, dass wir einer weiteren Steigerung der Studienanfängerquoten ablehnend gegenüberstehen.

Schließlich sollten wir weniger von Aufstieg durch Bildung reden und damit Minderwertigkeitskomplexe perpetuieren, sondern mehr von Gerechtigkeit und Stolz auf die erbrachte Leistung. Wer mit den „kleinen Leuten“ spricht und nicht nur über sie, und wer deren Interessen, Sorgen und Nöte ernstnimmt und in politische Konzepte übersetzt, der kann die begründete Hoffnung haben, wieder in stärkerem Maße als politische Interessenvertretung angenommen zu werden.

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