Reformpartei im digitalen Kapitalismus

Fragen einer sozialdemokratischen Grundsatzdiskussion

Besuchern in der Berliner Parteizentrale der SPD, dem Willy-Brandt-Haus, wird ein Film gezeigt, der einen Überblick über 130 Jahre sozialdemokratischer Politik vermittelt. Dort werden die Erfolge sozialdemokratischer Arbeit für die Beseitigung materieller und politischer Benachteiligung vieler Menschen dargestellt. Vom Arbeitsschutz geht die Liste über den Acht-Stunden-Arbeitstag und die Sozialversicherung bis hin zum sozialen Wohnungsbau und zur Bildungsexpansion. Die Reaktion der Zuschauer zeigt, dass die Tradition emanzipatorischer Politik nicht abgerissen ist, sondern ein Bestandteil des politischen Lebens der Republik bleibt.


Dieser Teil des Films weist jedoch unabsichtlich auch auf den programmatischen Erneuerungsbedarf der Sozialdemokratie hin. Der Besucher sieht lange Reihen gleichförmiger Häuser des sozialen Wohnungsbaus der Nachkriegszeit, die längst nicht mehr die Wohnträume einer individualisierten Gesellschaft repräsentieren. Lange, gerade ausgerichtete Tischreihen in einer Universitätsbibliothek sind zu sehen, Instrumente einer auf die Steigerung von Absolventenzahlen ausgerichteten Bildungspolitik. Diese Politik hat den Übergang zur Wissensgesellschaft vorbereitet, in der ihre eigenen Instrumente plötzlich unzeitgemäß erscheinen. Heute werden an diesen Tischen nicht mehr Tausende zukünftiger Staatsdiener ausgebildet, sondern die individuellen Qualifikationen für den unübersichtlichen Einstieg in einen Flexibilität und Originalität fordernden Arbeitsmarkt erworben.


Das bedeutet nicht, dass der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft soziale Ungleichheit beseitigt hätte. Im Gegenteil, neue Formen der Benachteiligung und Ausgrenzung sind entstanden. Anders ausgedrückt: Die SPD stellt ihr Programm heute keineswegs auf Probleme des Überflusses ein, wie mancher mutmaßt. Soziale Benachteiligung etwa entsteht nicht nur durch den Mangel an Wohnraum, sondern vor allem auch durch problematische Wohnlagen. Bildungspolitik muss heute nicht mehr allein die Öffnung der Bildungsinstitutionen sicher stellen. Wichtiger noch für das Individuum wie für die Gesellschaft ist es, dass diese Institutionen die richtigen Qualifikationen vermitteln - und dass sie die Menschen darauf vorbereiten, ein Leben lang zu lernen. Die Würde des Menschen schließlich wird heute nicht allein von materieller Not bedroht, sondern gelegentlich auch von den Bedingungen, unter denen staatliche Unterstützung gewährt wird.


Individualisierung, Beschleunigung und ein Unübersichtlichkeit schaffender Strukturwandel sind die Prozesse, die den Anstoß zur Neubestimmung der Aufgabe der SPD geben. Das ist kein Selbstzweck und auch keine Domäne der Partei-Intellektuellen. Unter den veränderten Bedingungen der Wissensgesellschaft muss die Partei sowohl ihre Ziele als auch die Instrumente ihrer Politik neu justieren, um aus einzelnen Schritten einen Weg zu machen, den ihre Mitglieder und Wähler erkennen können. Deshalb ist die Erneuerung von Programm und Organisation für die SPD vor allem eine Frage der Mehrheitsfähigkeit. Die Partei kann sich längst nicht mehr auf ein fest gefügtes Milieu stützen. Die Entmythologisierung der Politik und der Abschied von "-ismen" hat dazu geführt, dass sie wie andere politische Organisationen oder die Kirchen ihre Orientierungsfähigkeit verloren hat. Überdies besitzen Parteien kein Monopol mehr bei der Deutung von Politik.


Die SPD hat seit 1991 mehr als 170.000 Mitglieder verloren. Ähnliche Prozesse sind bei anderen Parteien zu erkennen. Die Altersstruktur der Parteimitglieder lässt erwarten, dass sich dieser Prozess noch einmal beschleunigen wird. Nur noch 11 Prozent der Mitglieder sind unter 35 Jahre, ganze 1,3 Prozent sind unter 21.


Über 15 Prozent der Mitglieder sind dagegen bereits über siebzig, und noch die Quote der über 80-jährigen liegt höher als die der unter 25-jährigen. Das stellt die Existenzfähigkeit der SPD in Frage. Die Überalterung der Partei hat jedoch noch einen verheerenden Nebeneffekt: Sie koppelt die SPD von neuen Lebens-, Denk- und Politikstilen ab. Damit verliert sie den Anschluss an wichtige Erfahrungen und Wissensbestände.


Sowohl die Partei als auch ihre Jugendorganisation finden überdies keine jugendspezifischen Formen der Ansprache mehr. Die Ausbildung von Nachwuchseliten kann deshalb nicht mehr in ausreichendem Umfang gesichert werden. Heute dominiert die Kultur der 50- bis 60-jährigen das Erscheinungsbild der SPD. Mittelfristig wird das auch zum Verlust ihrer Innovationsfähigkeit führen. Die Programmreform wird deshalb verknüpft sein mit einer Organisationsreform, denn der Wandel, mit dem sich die Partei programmatisch auseinandersetzen muss, hat auch Lebensformen verändert. Die SPD braucht nicht nur klare Ziele in einer veränderten Gesellschaft. Sie muss neue Formen der Mitarbeit bieten können, die dem Tempo und der Mobilität des Lebens vor allem jüngerer Menschen entspricht.


Die Erwartungen, die die SPD mit der Programmdebatte verbindet, lassen sich nur erfüllen, wenn die Partei einige grundlegende Formprinzipien beherzigt. Soll etwa ein solches Programm trotz des raschen Strukturwandels Bestand haben, müssen Prinzipien des organisatorischen und programmatischen Lernens darin verankert werden. Die SPD benötigt nicht allein Visionen, wie das Leben in Deutschland in zehn oder zwanzig Jahren aussehen sollte. Sie muss sich inhaltlich als eine politische Kraft definieren, die das Verwirklichen ganz verschiedener Lebensentwürfe ermöglicht. Ihre Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität muss sie vor allem als Kriterien verstehen, an denen der Zustand des Gemeinwesens in einer sich rasch wandelnden Welt zu prüfen ist.
Ein zweites notwendiges Prinzip der Programmdebatte ergibt sich aus der Vielgestaltigkeit der Wissensgesellschaft. Da die SPD längst nicht mehr zu allen gesellschaftlichen Teilgruppen Zugang hat, und weil sie längst nicht alle Kompetenzen in der Partei abbilden kann, die zur Lösung neuer Probleme notwendig sind, muss sie eine offene Programmdiskussion führen - offen auch für Nicht-Mitglieder. Die Partei muss selbst die Initiative ergreifen, Menschen einzubeziehen, die von sich aus nicht mehr auf die SPD zugehen. Und schließlich müssen Organisationsreform und Programmreform im Gleichklang verlaufen - Offenheit muss auch das Leitprinzip der Mitarbeit in der Partei sein. Die SPD muss das Ziel erreichen, vielfältige, tragfähige Kompetenznetzwerke mit Menschen aufzubauen, die bereit und in der Lage sind, ihr bei der Entwicklung politischer Konzepte zu helfen. Ohne diese Netze sind Organisationen heute nicht mehr zukunftsfähig.


Um diese Prinzipien einlösen zu können, braucht die Partei Kernkompetenzen, die sie befähigen, am Wettbewerb der Ideen und Konzepte erfolgreich teilzunehmen und Netzwerke für die Lösung neuer gesellschaftlicher Probleme aufzubauen. Die SPD benötigt:

Programm- und Handlungskompetenz,
das heißt: in zentralen Politikfeldern
neue Optionen und Chancen aufnehmen,
Korridore für deren Realisierung aufzeigen und sie konsequent in Regierungshandeln umsetzen.

Dialogkompetenz,

das heißt: Unterstützung für Reformen durch Moderation und Diskursorientierung erreichen.

Kommunikationskompetenz,

das heißt: Personen und Symbole für die Verbreitung von Ideen und Werten nutzen.

Organisationskompetenz, das heißt: gesellschaftliche Veränderungen in organisatorischen und institutionellen Strukturen abbilden.
Damit sind die Voraussetzungen für die Reform von Inhalt und Organisation der Partei umrissen. Im Mittelpunkt der Programmreform muss ein Fragenkomplex stehen, der zentral für die Zukunftsgestaltung unserer Gesellschaft ist. Die wichtigsten Probleme, auf die im Prozess der programmatischen und organisatorischen Erneuerung Antworten gegeben werden müssen, werden in den folgenden Thesen kurz skizziert.


Die Zäsur von 1989 ist politisch noch nicht verarbeitet.


Die Politik hat kein Konzept für die Internationalisierung der Märkte.


Bezugspunkt vieler ordnungspolitischer Vorstellungen in der SPD ist bis heute der nationale Markt geblieben. Steuerpolitik, Finanzpolitik, aber auch Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik werden jedoch von internationalen Märkten entweder beeinflusst oder sogar bestimmt. Dass nationale Politik an ihre Grenzen stößt, gehört inzwischen zu den politischen Binsenweisheiten. Die SPD muss hier Gestaltungsoptionen zurückgewinnen. Und sie muss die tiefgreifende Verunsicherung, die die Entgrenzung der Märkte gerade in der sozialdemokratischen Wählerschaft auslöst, ernst nehmen. Bremsen verspricht keine Sicherheit.


Deshalb ist es notwendig, in der Debatte über das Grundsatzprogramm zum Beispiel neue Formen internationaler Zusammenarbeit für die Finanzmärkte zu skizzieren. Notwendig sind Ansätze gemeinsamer Steuerpolitik in Europa sowie internationale Mindeststandards beim Arbeitsschutz. Notwendig ist aber auch, die Konkurrenzsituation zu akzeptieren, unter der nationale Politik heute steht. Das macht sie zu einer Standortpolitik im internationalen Maßstab, bei der beispielsweise die Bedeutung von Investitionen in zentrale Wettbewerbsgrößen wie den Ausbildungsstand der eigenen Bevölkerung, die Effizienz staatlicher Verwaltung und die Transparenz nationaler Steuersysteme berücksichtigt werden müssen. Dabei besitzt die Bundesrepublik gute Startbedingungen, um ihre sozialstaatlichen Standards behaupten zu können.


Es gibt noch keine klaren Vorstellungen von den Veränderungen, die der digitale Kapitalismus auslösen wird.


Die Konsequenzen dieser neuen Wirtschaftsform sind ambivalent: Der digitale Kapitalismus birgt Chancen und Risiken. Das Berliner Programm betont noch in höherem Maß die Gefahren für die Entwicklung des Arbeitsmarktes, für den Zusammenhalt der Zivilgesellschaft und für die Bewahrung der Kultur. Die SPD sollte zehn Jahre später dennoch die sich abzeichnenden Chancen für freiere, flexiblere Lebens- und Arbeitsformen ergreifen.


Weltweit anwendbare Informationstechnologien haben in den letzten Jahren erstmals mehr Arbeitsplätze geschaffen als sie überflüssig gemacht haben. Alle Prognosen sehen darin einen stabilen Trend. Das eröffnet die Chance, mehr Freiheit in der Arbeitswelt zu schaffen. Die Stichworte sind hier flexiblere Arbeitszeitmodelle und die geringere Zahl ortsfester Arbeitsplätze. Wichtig sind die gestiegenen Chancen für einen Berufswechsel, welche die relativ unspezifische Organisationsform von Arbeit im tertiären Sektor eröffnet. Nicht nur im Management von Internet-Firmen werden heute ähnliche Computerprogramme und Managementprinzipien verwendet. Die Internationalisierung der Arbeitsmärkte sowie die Digitalisierung und Vernetzung von Informationsquellen ermöglicht zugleich eine größere berufliche Vielfalt durch Ausdifferenzierung alter und Schaffung zahlloser neuer Berufsbilder.


Die Qualifikationsanforderungen an die Arbeitnehmer werden sich tiefgreifend verändern.


Neue Grundlagen für den Umgang mit der Informationsmenge in der Mediengesellschaft müssen in den Bildungseinrichtungen vermittelt werden - und das rascher, als dies heute geschieht. Bildung muss auf heute lebenslanges Lernen vorbereiten. Eigenverantwortung ist dabei ein zentrales Erziehungsziel. Die ökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft müssen entwickelt werden.


Neue soziale Ungleichheit, neue Polarisierungen in der Gesellschaft entstehen.


Die Gesellschaft im digitalen Kapitalismus ist keine heile, widerspruchsfreie Welt. Im Gegenteil: Sie weist neue Formen sozialer Veränderungen und sozialer Ungleichheiten auf. Das Altern der deutschen Gesellschaft wird eine zunehmende Herausforderung für eine moderne Gesellschaftspolitik. Dieser Prozess steht erst am Anfang, er wird sich im Verlauf des nächsten Jahrzehnts verschärfen. Die Bundesrepublik wird die Folgen des Alterns der Gesellschaft teilweise durch Zuwanderung auffangen können. Langfristig könnte der Anteil von Einwanderern an den Erwerbstätigen bei bis zu 25 Prozent liegen. Das aber wird eine neue Dimension von Ungleichheit hervorbringen: Einheimische und Zuwanderer. Dieser Prozess wird der Verteilung von Reichtum eine neue Facette geben.


Bildungskapital entscheidet über die Verteilung von Einkommenschancen und die Statuszuweisung. Bereits heute unterscheiden Jugendforscher unter den jungen Menschen zwischen einem Typus gut ausgebildeter neuer Manager, einem Typ neuer Arbeitnehmer und neuer arbeitnehmerischer Intelligenz mit einer formal guten, aber in zentralen kulturellen Voraussetzungen bereits defizitären Bildung, und dem schlecht ausgebildeten Typus junger Unterprivilegierter, dessen Qualifikation am weltweiten Arbeitsmarkt nicht konkurrenzfähig ist. Für diese Formen sozialer Ungleichheit braucht die SPD einen neuen Konsens über die Voraussetzungen gesellschaftlicher Solidarität.


Die Grenzen der bisherigen sozialstaatlichen Regulierung werden dabei immer deutlicher.


Das erzwingt eine neue Balance wohlfahrtsstaatlicher Politik, veränderte Instrumente und neue Gewichtungen zwischen Chancenstaat und Transferstaat. Nur so sind die Voraussetzungen für eine gerechte Verteilung von Lasten in der Gesellschaft zu schaffen. Denn die Bedeutung von Schlüsselqualifikationen und Flexibilität für den Arbeitsmarkt erhöht zugleich die Anforderungen an individuelle Einstellungen. Sozialpolitik wird deshalb ein größeres Gewicht auf die persönliche Verantwortung für das eigene Schicksal legen. Die Aufgabe des Sozialstaats ist es heute zu aktivieren. Soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Solidarität: Das beinhaltet auch individuelle Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft.


Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit kann in einer Gesellschaft, in der persönliche Präferenzen so unterschiedlich ausgeprägt sind wie in der heutigen, nicht mehr allein auf materielle Gleichheit zielen. Sozialdemokratische Politik muss dem Leitbild einer Welt folgen, die den vielfältigen Lebensentwürfen der Menschen gerecht wird. Gleichheit schließlich wird zu messen sein an der Möglichkeit demokratischer und kultureller Teilhabe; wirkliche Gleichheit der Startchancen wird einen immer größeren Raum einnehmen müssen.


Wir brauchen dafür eine Neudefinition staatlichen Handelns.


Politik heißt heute auch verengte Handlungsräume, die durch strukturelle Zwänge, durch die Internationalisierung von politischen und ökonomischen Entscheidungen und durch die wachsende Komplexität von Problemen entstanden sind. Politik ist nicht allmächtig, aber die Erwartung an staatliches Handeln muss zumindest sein, Dienstleistung in klar umrissenen Zeiträumen zu erbringen. Der Begriff des "Reformstaus" hat ein Warnzeichen gesetzt.


Die Verengung von politischen Handlungsräumen macht eine Debatte über die Weiterentwicklung demokratischer Beteiligung erforderlich. Entscheidungen müssen öffentlicher Diskussion zugänglich werden; Betroffene müssen an Entscheidungen beteiligt sein. Politik als System unterschiedlicher Konsultations- und Kooperationsgremien erschwert Transparenz und Nachvollziehbarkeit politischer Entscheidungsprozesse. Sozialdemokraten werden deshalb Konzepte für Volksentscheide und Bürgerbefragungen auf Bundesebene entwickeln. Und sie werden Antworten geben müssen auf das Problem einer zweigeteilten Realität: die der Politiker und die der sich oft genug machtlos fühlenden Bürger.

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