Prioritäten und Pragmatismus

Der europäischen Energie- und Klimapolitik mangelt es bislang sträflich an eindeutigen Prioritäten. Energieaußenpolitisch vorankommen wird die Union in Zukunft aber nur dann, wenn Risiken und Potenziale realistisch eingeschätzt werden

Wer Ende 2006 prophezeit hätte, welche weit reichenden energie- und klimapolitischen Beschlüsse der Europäische Rat nur wenige Monate später treffen würde, wäre vermutlich nur müde belächelt worden. Die unter der deutschen Ratspräsidentschaft erzielten Vereinbarungen sind in der Tat wegweisend, vor allem wegen der verbindlichen Reduktion der Treibhausgase und des Ausbaus erneuerbarer Energieträger. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass bislang kaum mehr als Grundsatzentscheidungen getroffen wurden. Ob und in welcher Weise diese tatsächlich auch in Europäisches Recht umgesetzt werden, müssen die nun anlaufenden Gesetzgebungsverfahren zeigen.

Bei der Herstellung eines europäischen Grundkonsenses hat sich die Formel vom „energiepolitischen Zieldreieck“ als ausgesprochen nützlich erwiesen. Darauf, dass sowohl Nachhaltigkeit als auch Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit anzustreben seien, konnten sich alle relevanten Akteure leicht einigen. Je nach politischem Standort veränderten sie in ihren Statements einfach die Reihenfolge der drei Teilziele. Die EU-Energiestrategie nährt nach wie vor die Illusion, zwischen Nachhaltigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit bestünden keine Zielkonflikte. EU-Kommission und Europäischer Rat halten damit nicht nur einen mühsam durchgesetzten Formelkompromiss aufrecht. Die generelle Weigerung, Prioritäten zu setzen und die fehlende Gewichtung von Teilrisiken haben immer auch den angenehmen Nebeneffekt, dass jede Maßnahme als politischer Erfolg deklariert werden kann, ganz gleich, wie wirksam sie tatsächlich ist.

Besonders augenfällig ist dies im Bereich der Energieaußenpolitik, einem der zentralen Handlungsfelder der EU-Energiepolitik, das vor allem solche Maßnahmen umfasst, die die Energieversorgungssicherheit im Öl- und Gassektor gewährleisten sollen. Dazu zählen – neben anderen – etwa die Unterstützung neuer Pipelineprojekte, regelmäßige „Energiedialoge“ mit einer Vielzahl von Produzenten-, Transit- und Großverbraucherländern, die Ausweitung der „Europäischen Energiegemeinschaft“ auf die Länder des westlichen Balkans, der Aufbau einer dauerhaften „Energiepartnerschaft EU-Afrika“, Verhandlungen über ein internationales Energieeffizienzabkommen und nicht zuletzt die Neugestaltung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens mit Russland, besonders in Bezug auf Energiefragen.

Viele Erfolgsmeldungen, keine Fortschritte

Der von den europäischen Staats- und Regierungschefs im März 2007 beschlossene Energieaktionsplan bringt nicht nur keinerlei Klarheit, wo die Prioritäten einer EU-Energieaußenpolitik liegen sollen, es bleibt auch unklar, woran der Erfolg einer solchen Politik konkret zu bemessen wäre. Dies erklärt auch, warum EU-Kommissar Andris Piebalgs zwar im Wochentakt energiediplomatische Erfolgsmeldungen verbreiten lassen kann, zugleich jedoch keine substanziellen politischen Fortschritte zu verzeichnen sind. Offenkundig ist, dass schon das viel beschworene Prinzip der europäischen Energieaußenpolitik, in den Beziehungen zu Dritten „mit einer Stimme“ zu sprechen, zumeist nicht beherzigt wird. Deutlichstes Zeichen sind die bilateralen Planungen für Gaspipelineprojekte von Russland nach Ungarn (Verlängerung Blue Stream) beziehungsweise Italien (South Stream), die mit der von der EU favorisierten Nabucco-Pipeline kollidieren.

Einen Akteur „Europa“ gibt es gar nicht

Der EU fehlt es bislang nicht nur an einer selbstkritischen Bilanzierung ihrer energieaußenpolitischen Bemühungen. Ihr mangelt es bereits – und das ist grundlegender – an den Voraussetzungen einer Bilanzierbarkeit, nämlich an Festlegungen darüber, auf welche Handlungsbereiche und Projekte sie sich sinnvollerweise konzentrieren sollte.

Bei der Bestimmung von Prioritäten und der Identifizierung von Potenzialen darf die EU-Energieaußenpolitik nicht isoliert betrachtet werden. Zu berücksichtigen ist zum einen, dass die Gewährleistung von Energieversorgungssicherheit nicht ausschließlich in der externen Handlungsdimension realisiert werden kann, sondern zu diesem Zweck auch interne Politikansätze greifen müssen. Dazu zählen nicht nur Maßnahmen zur Verringerung des Importbedarfs (Senkung des Energieverbrauchs und Ausbau der erneuerbaren Energien). Geboten ist auch der Aufbau verlässlicher Solidaritäts- und Krisenreaktionsmechanismen innerhalb der EU, was in der ersten Stufe jedoch nicht nur umfangreiche Bevorratungspflichten voraussetzt, sondern auch den massiven Ausbau der Interkonnektoren zwischen den nationalen Energienetzen erfordert.

Zum anderen muss berücksichtigt werden, dass die EU auf der Seite der Nachfrager von Energie nicht der einzige relevante Akteur ist. Auch die Interessen und Handlungsoptionen von Mitgliedsstaaten und Energieimportunternehmen müssen ins Blickfeld gerückt werden, zumal diese Akteursgruppen nicht selten konfligierende Interessen vertreten. Entgegen der populären Annahme, die EU sei der größte „Energiekunde“ Russlands und anderer Lieferregionen, haben wir es weder mit einem monolithischen Akteur „Europa“ zu tun, noch tritt die EU selbst als Nachfragerin auf den Weltenergiemärkten auf. Sie hat, anders als manche nationale Regierung, auch keinen direkten Einfluss auf Energieversorgungsunternehmen. Die EU kann in der Energieaußenpolitik deshalb nur versuchen, die Rahmenbedingungen für europäische Energieimporte zu verbessern.

Eine Identifizierung der vorrangigen Handlungsbereiche und Einzelmaßnahmen setzt allerdings nicht nur voraus, die Energieaußenpolitik der EU in einem breiteren Wirkungsgefüge zu verorten. Sie macht auch begründete Vorfestlegungen hinsichtlich zentraler Zielkonflikte notwendig. Zum einen muss geklärt werden, wie sich Energieversorgungssicherheit zu den Zielen der (ökologischen) Nachhaltigkeit und der Wettbewerbsfähigkeit verhält. Zum anderen ist zu bestimmen, welcher Art von Versorgungsrisiken das Hauptaugenmerk gelten muss.

Versorgungssicherheit oder Nachhaltigkeit?

Der Versuch einer Prioritätensetzung im energiepolitischen Zieldreieck muss fast notwendig dazu führen, das Ziel der Wettbewerbsfähigkeit abzuschwächen. Dies nicht nur deshalb, weil die EU in diesem Sektor einer Liberalisierungseuphorie huldigt und somit noch immer unterstellt, dass die Liberalisierung von Energiemärkten per se auch Fortschritte für Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit mit sich bringt, sondern auch, weil sich der Wunsch nach anhaltend günstigen Öl- und Gaspreisen zukünftig wohl kaum noch in Erfüllung gehen wird.

Während das Ziel der Energieversorgungssicherheit grundsätzlich als gleichrangig mit dem Ziel der Nachhaltigkeit betrachtet werden kann, so sollte dennoch dem Nachhaltigkeitsziel in konkreten Konfliktfällen Vorrang eingeräumt werden – zumindest so lange, bis der EU eine Wende hin zu spürbaren Emissionsreduktionen gelingt und die regionalen Folgen des Klimawandels exakter vorhergesagt werden können. Deshalb sollte die Europäische Union darauf achten, dass Maßnahmen zur Erhöhung der Energiesicherheit nicht mit dem Kriterium der Nachhaltigkeit in Konflikt geraten. Sie müsste demnach in der externen Dimension der Energiepolitik nicht nur darauf verzichten, extrem klimaschädliche Coal-to-Liquid-Treibstoffe zu importieren, auch die Einfuhr von ökologisch problematischen Biotreibstoffen der ersten Generation wäre zu unterlassen.

Sicherheitsrisiko Versorgungsunterbrechung

Fragt man nach den zentralen Versorgungsrisiken, so rücken zum einen physische Lieferunterbrechungen ins Blickfeld, zum anderen Preisanstiege in Folge von Verknappungen. Die EU behandelt beide Risikoformen gleichrangig, gerechtfertigt wäre jedoch eine Fokussierung auf die Gefahr von Lieferausfällen. Der Grund: Preisanstiege bei Öl und Gas kann die EU weitaus eher verkraften als Unterbrechungen der Lieferströme. Die Anpassungsprozesse bei Verteuerungen sind kurz- bis mittelfristig zu bewältigen, zumal dann, wenn die EU nicht als einzige Region davon betroffen wäre, ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit darunter also kaum leiden würde.

Bei Lieferunterbrechungen würde sich die Situation weitaus dramatischer darstellen, vor allem dort, wo es nicht möglich wäre, kurzfristig alternative Lieferbeziehungen zu etablieren. In der Folge könnten ganze Industriebranchen oder große Teile der Stromproduktion zum Erliegen kommen. Stuft man das Risiko physischer Lieferunterbrechungen höher ein als das Preisrisiko, so folgt daraus, dass die europäische Energieaußenpolitik ein weitaus stärkeres Augenmerk auf Erdgas als auf Rohöl legen muss. Dies nicht deshalb, weil das derzeitige Angebot und die zukünftig verfügbaren Reserven beim Rohöl deutlich umfangreicher wären als beim Erdgas, sondern vielmehr aufgrund der unterschiedlichen Marktstrukturen. Während Öl (wie auch Biotreibstoffe) leicht zu bevorraten ist sowie günstig und flexibel per Tanker transportiert werden kann, ist der Aufwand beim Gas sehr viel höher. Vorratshaltung und Schiffstransport sind kompliziert und teuer, der Transport erfolgt deshalb in der Regel pipelinegebunden. Fällt eine Pipeline aus, ob aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen, ist ein Lieferantenwechsel kurzfristig kaum möglich.

Bei Berücksichtigung der hier entwickelten Kriterien ergeben sich für die Energieaußenpolitik der EU drei zentrale Handlungsbereiche: eine Diversifizierungsstrategie bei Erdgas; die Erhöhung der Interdependenz von Liefer-, Konsumenten- und Transitstaaten bei Gas und Öl sowie der Export von Energieeffizienzmaßnahmen beziehungsweise -standards. Für jeden dieser Bereiche lassen sich zudem ein bis zwei vorrangige Maßnahmen definieren, die in den nächsten fünf Jahren Priorität genießen sollten.

Wird Gazprom ein unsicherer Kantonist?

Die Diversifizierungsstrategie bei Erdgas richtet sich nicht nur auf die Herkunftsländer, sondern auch auf die Routen sowie die Formen des Transports. Vorrangig wäre nicht nur der Ausbau des Flüssiggastransports zu fördern, was massive Investitionen in entsprechende Infrastrukturen erfordert. Zugleich wäre auch ein Ausbau der Beziehungen zu solchen Gaslieferanten anzustreben, bei denen zum einen ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft existiert und zum anderen Russland nicht in der Lage ist, entsprechende Pipelinepläne zu durchkreuzen. Am ehesten ist dies bei Norwegen gegeben, ein großes Potenzial besteht in Nordafrika. Demgegenüber sind Gaslieferungen aus Zentralasien derzeit nur wenig realistisch, auch der Iran wird noch lange Zeit als Lieferant ausfallen. Die Nabucco-Pipeline lässt sich in absehbarer Zeit wohl nicht wirtschaftlich betreiben.

Europas größter Gaslieferant wird jedoch auch in Zukunft Gazprom sein. Hier wird sich weniger das Problem stellen, dass Russland aus politischen Gründen Lieferstopps verhängen könnte, vielmehr geben die nur unzureichenden Investitionen in die Erschließung neuer Gasfelder Anlass zur Sorge. Es besteht die Gefahr, dass Gazprom nicht in der Lage sein wird, seinen Lieferzusagen nachzukommen. In diesem Zusammenhang wirkt sich auch das für westliche Unternehmen sehr unsichere Investitionsklima negativ aus, ein Phänomen, das im Zuge von Renationalisierungstendenzen nicht nur in Russland, sondern auch in anderen Öl- und Gasförderländern zu beobachten ist.

Klare rechtliche Beziehungen mit Russland

Notwendig ist deshalb die Erhöhung der Interdependenz von Liefer-, Produzenten- und Transitstaaten, sowohl im Gas- als auch im Ölsektor. Dies kann über Reziprozitätsvereinbarungen (Öffnung des Upstream-Bereichs für westliche Energieversorger gegen Zugang zum Endverbraucher für Unternehmen aus Förderländern) oder einem burden sharing bei der Ausweitung von Förderkapazitäten geschehen. Absoluten Vorrang genießt das Projekt einer Verrechtlichung der Energiebeziehungen mit Russland. Da entsprechende Vereinbarungen in einem neuen Partnerschafts- und Kooperationsabkommen kaum rechtsverbindliche Wirkungen entfalten würden, wäre die Ratifizierung der Energiecharta durch Russland der zu bevorzugende Weg. Allerdings wären hier wohl weitreichende Zugeständnisse zu machen, eventuell auch durch begleitende Vereinbarungen, die nicht unmittelbar den Energiesektor betreffen.

Potenziale kühl kalkulieren

Einen bedeutenden, jedoch nur selten bedachten Beitrag zu einer erfolgreichen Energieaußenpolitik können schließlich auch Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz leisten, entweder durch Kooperationsvereinbarungen oder durch die Einrichtung von Effizienzstandards auf dem Weltmarkt. Seitens der Europäischen Union wären besonders Kooperationen für mehr Energieeffizienz mit ihren größten Lieferländern anzustreben. Je geringer etwa der (bislang ausgesprochen verschwenderische) Inlandsgasverbrauch in Russland ausfiele, desto höher wären die Kapazitäten, die Gazprom für die weitaus lukrativeren Exportmärkte zur Verfügung stünden. Für die EU wie für Gazprom wäre ein entsprechendes Vorgehen von Vorteil, die bislang erfolgreichen Pilotprojekte müssten jedoch massiv ausgebaut werden.

Öffentliche Debatten über Energieversorgungssicherheit sowie den Umgang mit Liefer- und Transitstaaten sind häufig stark von ideologischen Vorbehalten geprägt, besonders dann, wenn Russland oder Gazprom ins Spiel kommen. Die Europäische Union wäre demgegenüber gut beraten, ihre Energieaußenpolitik zukünftig ausgesprochen pragmatisch zu gestalten. Dies bedeutet nicht nur, dass sie drohende Versorgungsrisiken deutlich gewichten und zudem klare Prioritäten zwischen Zielbereichen setzen muss. Die EU muss ferner die Potenziale, die einzelne politische Maßnahmen aufweisen, relativ kühl kalkulieren und dabei auch die eigenen institutionellen Möglichkeiten und Grenzen berücksichtigen. Mit anderen Worten: Die EU sollte ihre Energien auch in der Energieaußenpolitik möglichst effizient einsetzen.

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