Otto Schily lag falsch

Jürgen Neumeyer isst zu Mittag mit Tissy Bruns, der politischen Chefkorrespondentin des Tagesspiegel, im Atrium und im Bistro im Haus der Bundespressekonferenz, Am Schiffbauerdamm 40, 10117 Berlin

Es ist etwas gewagt, aber ich erkläre das Atrium der Bundespressekonferenz zu meinem Lieblingslokal“, sagt Tissy Bruns. Gewagt deshalb, weil sich in dem Gebäude bis 2008 ihr Büro befand. Von 1999 bis 2003 war sie sogar Vorsitzende der Bundespressekonferenz. Aber die Bistrotische sind für sie nun einmal ein liebgewonnener Treffpunkt geworden. Journalisten und Mitarbeiter des benachbarten Bundestages nutzen das Atrium als „gehobene Kantine“, erklärt Serviceleiter Herr Niemann. Außerdem treffen sich hier häufig Politiker zur Vorbesprechung ihrer Auftritte in der Bundespressekonferenz; der Saal der Bundespressekonferenz liegt genau darüber. Für die Öffentlichkeit ist das Atrium nicht zugänglich, Gäste von außen können im angrenzenden Bistro speisen.

Eigentlich sei ihr Lieblingslokal ja die eigene Küche, so Tissy Bruns. Wenn die politische Korrespondentin des Tagesspiegel Hintergrundgespräche führen muss, verabredet sie sich gern im Einstein. Das Borchardts ist ihr zu laut. Und wenn sie abends mal mit ihrem Mann ausgeht, dann gern in die Bar Centrale – Lo Sfizio in der Yorckstraße in Kreuzberg.

Bevor wir uns ins Bistro setzen, den öffentlichen Bereich des Restaurants, schleift mich Tissy Bruns zu einem melierten Streifen, der sich quer durch das Atrium der Bundespressekonferenz zieht. „Stellen Sie sich mal hier hin. Wissen Sie, wo sie jetzt stehen?“ Auf der ehemaligen Mauer, lautet die richtige Antwort. Als Vorsitzende der Bundespressekonferenz hat sie schon Bundeskanzler und Bundesminister zu dem Streifen geführt, wenn sie zum ersten Mal in der Bundespressekonferenz zu Gast waren.

Es ist Dienstagmittag in einer Nicht-Sitzungswoche des Bundestages. In Tissy Bruns Kalender ist unsere Unterhaltung umrahmt von zwei weiteren Terminen. „Normalerweise esse ich selten um diese Zeit, jetzt habe ich aber Hunger“, sagt sie und bestellt eine Berliner Kartoffelsuppe mit gebratenen Wurstscheiben für 3,40 Euro. Tissy Bruns ist ein Arbeitstier und ihr Beruf – so mein Eindruck – bedeutet ihr sehr viel.

Was sie derzeit bewegt? „Der Zustand der Demokratie!“ Auf meine Frage sprudelt Tissy Bruns nur so los. Sie beobachte den „Partizipationsverlust“ bei den Wahlen mit Sorge. Ein Teil der Bevölkerung sei mittlerweile vollkommen „abgeknipst“. Wahlenthaltung habe ein soziales Gesicht: „Sie ist die politische Kehrseite der sozialen Spreizung im Land. Und die soziale Polarisierung bringt eine Polarisierung der demokratischen Partizipation hervor.“ Die besser situierten Bürger verfügten über die Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen – etwa indem sie Öffentlichkeit herstellen. Als Beispiel nennt Tissy Bruns das Hamburger Schulreferendum. Der untere Teil der Bevölkerung hingegen sei gefangen in einem Teufelskreis aus Wahlenthaltung und Nichtbeachtung: „Hartz IV ist kein Gewinnerthema.“

„Die neoliberale Epoche hat den öffentlichen Sektor geschwächt“, sagt Tissy Bruns weiter. Während der Finanzkrise hätten „binnen Tagen Milliarden Euro zur Verfügung gestanden“, aber für Krankenhäuser und Schulen fehle seit Jahren das Geld. Die Verantwortlichen für die Krise würden noch nicht einmal zur Rechenschaft gezogen, die Unteren würden abgehängt und die Mittleren müssten alles zahlen. „Ein ‚Wir‘ gibt es in der Wahrnehmung der meisten gar nicht mehr. Da kann ich die Leute verstehen.“

Tissy Bruns redet druckreif und ich hab meine liebe Mühe, so schnell mitzuschreiben. Ab und an wartet sie dann höflich. Ein weiteres ihrer Lieblingsthemen ist „TINA“ – die Abkürzung für Margret Thatchers Ausspruch „There is no alternative“. Das Argument der Alternativlosigkeit ist für Bruns die „Aushebelung des urdemokratischen Prinzips der kritischen Kontroverse“ und der „geistige Pate des Deregulierungszeitalters“. Sie freut sich darüber, dass „alternativlos“ zum Unwort des Jahres 2010 gekürt wurde. „Dass ich heute so viel auf die Demokratie schaue, hängt damit zusammen, dass ich politisch so lange falsch gelegen habe und mich korrigieren musste.“ Tissy Bruns war früher im Marxistischen StudentInnenbund (MSB) Spartakus aktiv und bis Mitte 1989 Mitglied der DKP. Heute hält Tissy Bruns den „staatsbürgerlichen Gleichheitsbegriff“ hoch. Wenn es nur eine zeitgemäße Bildungspolitik und stärker regulierte Finanzmärkte geben würde, dann wären das „ja fast schon paradiesische Zustände“.

Vor mir wird der märkische Wildgulasch mit Waldpilzen und Preiselbeerschmand (7,60 Euro) langsam kälter, und den Rest des Lokals füllt eine Besuchergruppe aus dem Bundestag. „Wenn man in Berlin-Mitte arbeitet, muss man alle sechs Wochen mal aus Berlin raus“, sagt Tissy Bruns. „Das habe ich mir systematisch vorgenommen.“ Sie erhole sich beim Wandern, beim Walken und an der Ostsee.

Im Jahr 2007 hat die 60-Jährige ein Buch veröffentlicht mit dem Titel Die Republik der Wichtigtuer: Ein Bericht aus Berlin. Es handelt davon, wie die Kluft zwischen Regierenden und Regierten immer größer wird. Der Band ist sogar bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich – und führt mich zu der Frage, wo sie selbst denn mitbekomme, was die Menschen außerhalb der Berliner Käseglocke so denken. Vor allem auf Veranstaltungen bekomme sie viel mit, zu denen sie als Moderatorin oder Podiumsgast eingeladen werde – „auch in der Provinz“. Außerdem wird natürlich zuhause in der Küche viel gesprochen, vor allem als ihr Sohn noch zur Schule ging.

Im Atrium der Bundespressekonferenz prüft Tissy Bruns mit den Fingern die Blätter der Olivenbäume. Als er noch Innenminister war, habe Otto Schily einmal zu ihr gesagt: „Im nächsten Jahr sind die eingegangen – ich kenne mich mit Oliven aus“. Da lag Otto Schilly falsch! „Schauen sie mal, wie prächtig die gewachsen sind“, sagt Tissy Bruns. Es klingt wie eine kleine, optimistische Selbstvergewisserung, dass hier in Berlin-Mitte das Gute doch gedeihen kann. «

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