Neumeyers Nachtleben: Lenin verschraubt auf dem Damenklo

In St. Petersburg schließt sich das Tor zum Westenkurz hinter der historischen Innenstadt

"St. Petersburg ist nicht Russland", hieß es allenthalben, als wir unsere Reise dorthin ankündigten. Und tatsächlich muss man schon viel Phantasie aufbringen, um sich in dieser Stadt, die auf 42 Inseln in das Delta der Newa gebaut wurde, die endlose Weite Russlands vorzustellen. Schon als St. Petersburg 1703 von Zar Peter I. nach dem Vorbild Amsterdams gegründet wurde, bestand seine Funktion darin, als neue russische Hauptstadt im Gegensatz zu Moskau ein "Tor zum Westen" zu bilden und mit anderen europäischen Hauptstädten wie Paris, Rom oder Berlin zu konkurrieren.

Der erste Gang führt über den Newski Prospekt, die bunte zentrale Lebensader und größte Straße der Stadt. Hier geben sich teure und moderne Geschäfte große Mühe, westlicher als der Westen zu wirken. Abends flanieren junge Soldaten in ihren Uniformen und haben ihre Freundinnen untergehakt, die trotz noch etwas winterlicher Temperaturen nicht davor zurückschrecken, schrille Miniröcke zu tragen, die auch als bunte Gürtel durchgehen könnten. Kaum steigen die Temperaturen über 10 Grad, verdienen sich Breakdancer, Musikgruppen oder Kinder mit Standardtänzen auf der Straße ihr Geld.

"Richtige" Kneipen, as we know them, suchen wir anfangs vergeblich. Dafür landen wir in der Art Bar Dostojewski, die, im Souterrain liegend, mit ihren gekachelten Böden, den Tischen und Stühlen im Bistrostil und einer viel zu hellen Halogenbeleuchtung typisch ist für die überall zu findenden Ausgehlokale, die sich "Café und Bar" nennen. In mehreren kleineren Räumen sitzt man an kleinen Tischen und bekommt - auch noch um elf Uhr abends - als erstes eine Speisekarte. Hier treffen wir vier junge Musiker der Band Magic Bass, die in mehreren Sets Stücke von Nirvana, Coldplay und Radiohead nachspielen - durchaus gekonnt, mit eigenen Soloeinlagen und einer kleinen Bühnenshow. In gebrochenem Englisch erklären die 25- bis 30-Jährigen, dass sie sich tagsüber als Verkäufer ihr Geld (knapp 300 Dollar im Monat) verdienen. Abends machen sie gemeinsam Musik und bekommen dafür Essen und ein paar Tassen Kaffee.

Eisbein bei italienischer Popmusik

Auch in der Fish Fabrique gehören Drumsets, Verstärker und Monitore zur Grundausstattung. Das Schild am Eingang verstehen wir sofort: "Radfahrer absteigen". Der Keller befindet sich in einem der vielen nicht restaurierten Hinterhöfe, der tagsüber scheinbar auch anderen Künstlern Zugang zu verschiedenen Ateliers bietet. Plakate vergangener und kommender Konzerte künden von einer Off-Szene. Geworben wird für Schweizer Hanfbier und Heineken. Das einheimische Bier Newski kostet, wie das importierte Tuborg, 60 Rubel (0,5 Liter für knapp 2 Euro). Der kostenlose Kicker erinnert an die populäre Berliner Prominenten- und Intellektuellenkneipe Wahlkreis, die übrige Einrichtung und Atmosphäre an das Tacheles. Selbst geschmiedete Fischkunstwerke verstauben über jüngerem Publikum und der fabrikeigenen Hauskatze. Die einzige vorhandene Toilette will man lieber nicht benutzen.

Im Propaganda! gehören sozialistische Literatur und technische Relikte der Lenin-Ära zur Dekoration in roten Wandregalen. Auf dem Frauenklo ist ein Werk Lenins fest verschraubt. Die Preise deuten allerdings darauf hin, dass man hier durchaus im Kapitalismus angekommen ist; nur Touristen und die "neuen Russen", die in den vergangenen Jahren schnell zu Geld gekommen sind, können sich das leisten. Bei italienischer Popmusik versucht am Nachbartisch ein älterer Herr eine junge russische Schönheit mit vielen Worten, einem Mixgetränk und etwas Fastfood zu beeindrucken (es gibt auch Eisbein zum Schnäppchenpreis von 450 Rubel, etwa 14 Euro). In der anderen Ecke zischen ein paar Finnen Bier und Wodka.

Am gleichen Kanal liegt das Hotel Sovetskaya, das jetzt lieber Fontanka heißen will. Die Hotelkarten und die Leuchtreklame verkünden allerdings noch den alten Namen dieses Plattenbaus mit über 1.000 Betten. Hier befindet sich in einem Rondell im sechsten Stock eines Nebengebäudes der Night Club Scha. In die Inneneinrichtung wurde Geld gesteckt. Man möchte westlich modern sein: rote Plastiksessel, dicke Metallgeländer, eine Kaminattrappe, sowie Diskokugeln und Karaokemaschine. Um zehn Uhr abends sitzen nur ein paar vereinzelte Geschäftsreisende an den Tischen, doch schon anderthalb Stunden später haben sich Russinnen an der Zahl eingefunden, die zu heimischen Schlagern und Modern Talking tanzen oder - vielleicht Ausschau nach einladenden Kavalieren haltend - dem vergleichsweise teuren Drink zusprechen (Gin Tonic für 180 Rubel, etwa 6 Euro). Zieht man die vergilbten Plaste-Gardinen zur Seite, ist das postsozialistische Flair vergessen, und man wird mit einem nächtlichen Blick über einen der mehr als 60 Kanäle von St. Petersburg belohnt.

Den Erwartungen an Russland entsprechend finden wir die obligatorische Wodka-Absturz-Ecke mit mehreren Kneipen, in denen sich Jung und Alt am Abend trifft, ohne von Touristen, teuren Preisen oder Speisekarten auf Englisch behelligt zu werden. Unweit vom Newski Prospekt reihen sich die Lokale in mehreren unrenovierten Arkaden. In der Bar Akademija treffen sich viele junge Leute, die sich zu deutschem Gangsta-HipHop unterhalten und einheimisches Baltika-Bier trinken, das hier nur noch 50 Rubel für den halben Liter kostet. Es wird viel geraucht, Gruppen treffen sich, lösen sich wieder auf. Am frühen Abend sitzen auch noch ein paar Menschen mit Aktentaschen herum und essen Pelmini. Der Wodka ist billig (ab 30 Rubel) und wird ab 100 Milliliter abgemessen. Manche bestellen sich eine Halbliterflasche oder, sicher ist sicher, gleich eine Karaffe.

Erst ein paar Wodka, dann an den Schießstand

Im selben Kiez liegt auch das Pirs, das mit Fischgemälden an der Wand und Netzen im Fenster wie eine Fischerspelunke wirken will. Auf Holzbänken drängen sich die Gäste. Auf dem Weg zum Klo liegt ein kleiner Schießstand. Für 60 Rubel (also etwa 2 Euro) hat man zehn Schuss frei und darf mit verschiedenen Luftgewehren und Handfeuerwaffen testen, wie gut sich Dosen, Zielscheiben und Stoffpuppen unter dem Einfluss von Wodka treffen lassen.

Zwar gibt es heute keinen Zaren mehr, doch ein Tor zum Westen möchte man in St. Petersburg wieder sein. Zur 300-jährigen Geburtstagsfeier im vergangenen Jahr wurden die Fassaden vieler Häuser in der Innenstadt restauriert und die vielen Paläste wieder mit den ursprünglichen üppigen Blattgoldverzierungen versehen. Schaut man aber in die Hinterhöfe, erkennt man schnell, wie viel noch zu tun bleibt. Ähnlich sieht es mit den riesigen heruntergekommenen Plattenbausiedlungen außerhalb des historischen Stadtzentrums aus. Hier ist Russland noch trostlos.

Bei diesem Anblick versteht man, warum sich die Menschen nach der Arbeit ihren Alkohol an einem der vielen Kioske beschaffen, um in der Innenstadt in kleinen Gruppen auf der Straße zu trinken. Es scheint, das wahre Russland liegt wirklich direkt jenseits des restaurierten Zentrums von St. Petersburg.

ART BAR DOSTOJEWSKI - Musik-Café/Bar - Vladimirskij Prospekt 15
BAR AKADEMIA - Kneipe - Dumskaja ulica 9
FISH FABRIQUE - Musik-Café und Kulturzentrum - Ligowskij Prospekt 53
PIRS - Kneipe & Schießstand - Lomonosova ulica 2
PROPAGANDA! - Fastfood- und Touri-Sowjetkitschkneipe - nab. Reki Fontanki 40
SCHA - postsozialistischer Night Club - Hotel Sovetskaya, Lermontovsky Prospekt 43

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